Endlich sahen wir etwas anderes als ständig dieses Gras.
Aus der Eintönigkeit der Savanne tauchte schließlich ein einzelnes, freistehendes riesiges Gebäude auf, wohl dreimal so groß wie der Verzauberte Drache, und der war ja schon ziemlich groß.
Das Hotel bot natürlich auch viel mehr Gästen Unterkunft als unsere letzte Herberge. Stellt euch die verrücktesten Leute vom Piraten bis hin zu einer Wahrsagerin vor! Sie alle waren an diesem Ort anzutreffen.
Kein Wunder also, dass neun Dorfbewohner und zehn Ritter da kaum Aufsehen erregten. Nur eine Kellnerin, die in derselben Uniform wie Ophelia herumlief, bemerkte die Neuankömmlinge. Sie zeigte uns ein Blatt Papier, auf dem eine Vielzahl von Speisen aufgelistet war. Ich bestellte einen verzauberten Mondsamenmuffin. Er hatte kleine schimmernde Effekte. Direkt aus der Hauptstadt importiert, sagte sie zu mir.
Glaubt mir, dieser Muffin war einfach absolut köstlich. Der Bäcker, der diese Muffins gebacken hatte, musste ein fünfzigmal höheres Craftinglevel haben als ich. Ich habe nur ein einziges Mal versucht, Muffins zu backen. Dabei sind aber nicht nur sie angebrannt, sondern es ist mir gelungen, auch noch den Ofen gleich mit in Brand zu setzen.
Ich gönnte mir noch einen Bissen. Hmm, ganz klar, Craftinglevel 150, mindestens. Noch ein Stückchen, nur um sicher zu sein. Jawohl, wahrscheinlich sogar 175.
Mastoc hatte dasselbe bestellt wie ich. Nach seinem ersten Bissen sagte er nur ein Wort: „Alter.“ Dem zweiten Bissen folgte genau das gleiche Wort, jedoch mit etwas mehr Begeisterung: „Alter!“ Jeder weitere Bissen wurde von einem erneuten „Alter“ begleitet, wobei Lautstärke, Begeisterung und/oder Verzückung jeweils zunahmen. Einmal sprach er es sogar mit einem fremden Akzent aus.
„Alter!“
„ALTER… ?!“
… „Allder!“
„ALTER!“
„ALTER!!“
Nachdem ich aufgegessen hatte, verließ ich den Tisch und ging nach draußen. Der Lärm im Hotel ging mir allmählich auf die Nerven. Schon merkwürdig, denn Lärm hatte mich bisher noch nie gestört. Dorfstadt war normalerweise ein mindestens ebenso chaotischer Ort. All die Hammerschläge der Schmiede, das ständige Blöken der Schafe, die wütenden Schreie, wenn ein Tauschgeschäft mal nicht so lief wie erhofft … Vielleicht hatte ich schon begonnen, mich an die Stille der Oberwelt zu gewöhnen …
— Hey.
Eine vertraute Stimme zu meiner Rechten. Nichts Überraschendes.
— Hey.
Ich blickte Alice an und sagte:
— Esmeralda hat gesagt, unsere Zimmer seien übernatürlich. Also in der Hauptstadt, meine ich. Man erzählt sich, dass selbst die Pantoffeln verzaubert und die Badewannen aus Gold seien.
Sie lächelte gequält über meinen hilflosen Versuch, lustig zu sein.
— Du solltest wirklich ernsthafter sein. Wir müssen über so viele Dinge nachdenken.
— Sehe ich etwa aus, als würde ich Witze machen? Wir werden leben wie die Könige, jedenfalls hat sie das gesagt!
Jetzt musste ich auch lachen.
— Oh, ich schätze, es macht ohnehin nicht viel Sinn, dich aufheitern zu wollen, nicht wahr? Du bist ja Alice, die sich aus den Fängen des Augenlosen befreit hat. Es muss doch schmeichelnd sein, an einen Ort zu kommen, wo so viele Fans warten.
— Ich kann es immer noch nicht fassen. Wieso wissen so viele Leute … davon?!
Davon.
Mit „davon“ meinte sie ihre Vergangenheit.
Das ist ja nun wirklich eine unglaubliche Geschichte. Sogar ich kenne noch nicht alle Einzelheiten. Sie hat nie darüber gesprochen, wie es für sie war, gefangengenommen zu werden und diese vielen Experimente zu erleiden. Ich wollte nie aufdringlich sein und sie danach fragen. Natürlich habe ich Gerüchte gehört, die ich aber hier nicht ausbreiten will. Ohne ihre Zustimmung würde ich das niemals tun.
Nachdem ihr Lächeln verschwunden war, versuchte ich mir schnell, etwas einfallen zu lassen, um das Thema zu wechseln. Glücklicherweise öffnete sich in diesem Augenblick die Hoteltür mit einem lauten Knarren und ich konnte mir die Mühe ersparen.
Ein alter Mann in einer braunen Robe humpelte aus der Tür. Seine Robe war mit dunkelroten Stoffflicken übersät. Die weißen Nähte auf einem der Flicken erinnerten an das Gesicht einer lachenden Katze. Ein anderer glich einem grünen Vogel. Die ganze Erscheinung war armselig und zerlumpt. Wenn jemand mir gesagt hätte, dass dieser alte Mann in einer Truhe lebt, die er mit fünf Kaninchen und zwei Katzen teilt, ich hätte ihm sofort geglaubt. Sein Gesicht war absolut ausdruckslos. Wie schon erwähnt, tummeln sich in diesem Hotel schließlich die verrücktesten Leute, die man sich nur vorstellen kann.
Der Mann humpelte sehr gemächlich auf uns zu und ließ Alice währenddessen keine Sekunde aus den Augen. Ich beugte mich zu ihr und flüsterte:
— Wie es aussieht, hast du sogar hier Bewunderer.
Ich spürte, dass irgendetwas mit dem alten Mann nicht stimmte. Nun gut, ein alter Herr mit einer Katze und einem Vogel auf der Robe ist natürlich nicht normal, aber … da war noch etwas anderes. Es war diese absolute Ausdruckslosigkeit, die Art, wie er sich fortbewegte … Das war alles doch ziemlich unheimlich.
Ohne die Augen von Alice zu lassen, blieb er eine Schwertlänge vor uns stehen, öffnete den Mund und raunte mit außergewöhnlich tiefer Stimme:
— Ossana …
Welch ein sonderbarer Name! OSS-ana.
Alice erschrak zutiefst.
— Minus, weg hier!
Etwas in ihrer Stimme (und natürlich auch in seiner) jagte mir wirklich Angst ein. Mein Gefühl sagte mir, dass das, was auch immer da vor uns stand, kein harmloser alter Mann sein konnte.
Plötzlich sprang „der Mann“ mit ausgestreckten Armen los, um nach Alice zu greifen und sie zu fassen zu kriegen. Es waren Bewegungen, die ich schon viel zu oft gesehen hatte.
Aber er kam nicht an sie heran. Meine Schwerter waren schneller. In weniger als einer Sekunde schwebten beide, das Diamant- und das Obsidianschwert, über ihm und beendeten augenblicklich sein Leben. Alice war sonst immer superschnell, aber jetzt war sie noch nicht einmal dazu gekommen, ihre Schwerter zu ziehen. Offensichtlich war ich heute auf dem Gipfel meiner Fechtkunst. Was hatten sie nur in diese Muffins getan?!
Der vermeintliche alte Mann stürzte unter heiserem Ächzen zu Boden.
Wie soll ich nur beschreiben, was daraufhin geschah? Aber gut, ich versuche es mal. Die Erscheinung des Mannes war tatsächlich nur eine Illusion, eine Art magischer Anzug, der sich in dunkle Schwaden auflöste. Zurück blieb nur ein blasser Umriss, der weiter in schwarze Fetzen zerfiel. Diese wiederum zersetzten sich in weiß-bläulich schimmernde, kleine Häufchen Staub.
Es folgte eine beunruhigende Stille.
— … Alice.
— Ja.
— Was war das?
— Keine Ahnung!
— Ich habe noch nie von verwandelten Zombies gehört.
Alice schüttelte den Kopf.
— Nein, ich glaube, es war eher so etwas wie … ein Phantom.
Ein Phantom, was …
Ich konnte mich erinnern, den „alten Mann“ vorhin schon im Hotel gesehen zu haben. Er lungerte am Eingang herum, stand einfach so da und kam mir überhaupt nicht verdächtig vor. Erst als ich ihn aus der Nähe sah, spürte ich, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Seine Verkleidung war ziemlich überzeugend, obwohl es offensichtlich nur eine Illusion war.
Egal, was es war, es war hinter Alice her, und nur hinter Alice.
Es hatte nicht ein einziges Mal mich angesehen.
Warum?
Warum hatte dieses Wesen sie mit einem
anderen Namen angesprochen?
Vielleicht hatte ich mich einfach verhört? Hatte es wirklich einen Namen gemurmelt? Oder waren es einfach nur Laute, die die Untoten gewöhnlich ausstoßen? Ein Zischen vielleicht? Oder sprach er gar in einer fremden Sprache und das Wort Ossana war eine Drohung? So was war bei einem Zombie/Phantom der Finsternis durchaus möglich.
— Es hat irgendwas gemurmelt, sagte ich. Es war sehr leise, aber es … klang fast wie ein Name. Ossana.
— Ich … habe überhaupt nichts gehört, antwortete Alice. Es war bestimmt nur der Wind.
— Hm. Ja. Auch möglich.
Obwohl … es war überhaupt nicht windig.
Kein einziger Grashalm hatte sich gerührt.
Egal, vielleicht hat er etwas gesagt, vielleicht auch nicht. Ich bin zu müde für all das.
Erneut öffnete sich quietschend die Hoteltür. Einige Menschen traten heraus und begaben sich zu den Pferdeställen. Direkt hinter ihnen tauchte Alices Vater auf. Als er uns mit gezogenen Schwertern vor dem schimmernden Haufen Staub erblickte, konnte er seine Besorgnis nicht verbergen.
— Ihr müsst ständig auf der Hut sein, ermahnte er uns. Trotz seines Namens hat der Augenlose in Wirklichkeit seine Augen überall.
Er bückte sich und hob eine Handvoll des weiß schimmernden Staubs auf. Er rann ihm wie Sand durch die Finger.
— Aetherische Essenz. Es gibt einige Arten von Untoten, die sie hinterlassen, wenn sie besiegt worden sind. Aber so viel? Niemals. Beschreibt mir, wie er ausgesehen hat! War er unkörperlich?
— Unkörperlich?, fragte ich verwirrt.
— Spektral, so wie ein Phantom, eine durchscheinende oder schattenhafte Gestalt.
— Seine Gestalt ähnelte einer dunklen Hülle, sagte Alice. Als er aber zu Boden fiel, sah er aus wie ein …
Während sie ihrem Vater die ganze Geschichte erzählte, nickte er immer wieder nachdenklich mit dem Kopf.
— Ich habe von Untoten gehört, die in die Gestalt ihrer einstigen Opfer schlüpfen können. Sie können durch bloßen Kontakt furchtbare Krankheiten übertragen. Sie verwandeln sich in ihre Trugbilder, um sich uns zu nähern. Dann ist es allerdings meist schon zu spät. Er richtete seinen Oberkörper wieder auf.
— Ihr habt wirklich Glück gehabt. Von jetzt an werdet ihr immer in unserer Nähe bleiben.
Er schien sich ausschließlich an seine Tochter zu richten, als er zufügte:
— Ihr werdet nirgends sicher sein, nicht hier, nicht in Dorfstadt und auch nicht mitten in der Hauptstadt. Ganz egal, wo ihr seid, ihr müsst immer auf der Hut sein.
— Es tut mir leid, antwortete Alice. Ich werde ab jetzt noch besser aufpassen.
— Gehen wir rein, sagte ihr Vater. Ich fürchte, dass sie uns sogar in diesem Augenblick belauern.
Kaum hatte er das gesagt, bemerkte ich eine Person in seinem Rücken, einige Blöcke hinter ihm. Ich konnte ihn nicht klar erkennen. Es war spät und die untergehende Sonne hatte die Savanne in ein orange-goldenes Licht getaucht. Doch ich glaubte, einen Bauern mit seiner schlichten, erdfarbenen Kleidung auszumachen.
Er hatte seine Arme eng an den Körper gelegt und starrte uns genauso an wie die Kreatur vorhin. Langsam kam er näher. An seinem Gürtel hingen drei Taschen, die aussahen wie Minitruhen. Das muss ein Hausierer sein, wollte ich mir einreden. Allerdings war in seinen leeren Augen nicht das geringste Zeichen von Intelligenz zu erkennen. Ich beobachtete diesen „einfachen Straßenhändler“, wie er mit der gleichen Zielstrebigkeit auf uns zukam, wie ich sie von allen Zombies kannte. Als er in Reichweite meines Schwertes stehenblieb, legte ich die Hand auf den Knauf meiner Waffe.
Der Mann öffnete den Mund und schloss ihn wieder.
Versuch es nur!, dachte ich. Los! Breite deine Arme aus!
Er öffnete seinen Mund erneut.
— Wünschen die Herrschaften vielleicht eine Hellbeerenrolle?
— …
Ich ließ meinen Arm sinken.
— Kommt, sagte Brio. Ihr müsst doch ziemlich müde sein. Ich zeige euch eure Zimmer.
Alice zeigte auf den Staubhaufen.
— Sollten wir … das hier nicht besser mitnehmen?
— Ich schätze, du hast recht, antwortete ihr Vater. Man kann es als Zutat für verschiedene gehobene Rezepte verwenden, hauptsächlich für Accessoires. Für eine Art Amulett, wenn ich mich recht entsinne.
Er hätte auch genauso gut cooler, kostenloser Gegenstand sagen können. Ich hockte mich hin und versuchte, so viel wie möglich zusammenzuraffen. Alice tat dasselbe, wenn auch widerwillig.
— Ich wusste gar nicht, dass Zombiestaub so wertvoll sein kann.
Der Händler warf uns einen verwunderten Blick zu.
Als wir wieder im Hotel waren, sah ich mir alle Leute an den Tischen genauer an. Ein dunkler Zwerg in einer aufwendig verzierten Goldrüstung lachte. Nein, das war kein Phantom. Ein Mensch mit einem Lederumhang verzog sein Gesicht, nachdem er sich einen Schluck seines Tranks gegönnt hatte. Nein, der ist o.k. Ein Dorfbewohner trug eine Eisenrüstung mit einem Helm, der sein komplettes Gesicht verdeckte. Hmm, das ist ja sehr verdächtig, oder? Er sitzt einfach nur da und starrt mit leerem Blick vor sich hin. Jetzt dreht er seinen Kopf in meine Richtung. Oh, jetzt starrt er mich an, noch immer völlig regungslos. Ist er vielleicht … ? Sollte das vielleicht noch ein weiterer geheimnisvoller und verwandelter Zombie sein?
Der Dorfbewohner wischte sich mit dem Handrücken einige schimmernde Krümel von seinem Mund.
— … Alter! Diese Muffins! Ausgezeichnet, fünf Sterne!
Das war Mastoc.
— Ich habe ein Zimmer für uns beide genommen, fügte er hinzu. Keine Sorge, ich schnarche nicht.
Die Ritter standen auf, wünschten uns eine gute Nacht und gingen auf ihre Zimmer. Auch Alice, ihr Vater, Max, Lola und Ophelia zogen sich zurück.
Esmeralda saß noch mit so einem Elfentypen am Tisch und unterhielt sich. Er hatte lange Ohren, lange Haare und trug wie ich einen Hut mit einer Feder. Seiner war allerdings rot und vor allem nicht so vermodert wie meiner. Vor ihm auf dem Tisch lag ein Saiteninstrument.
Ich gähnte. Es ist superanstrengend, den ganzen Tag mit Vollgas durch die Gegend zu reiten. Ich ging also direkt auf mein Zimmer und warf mich aufs Bett. Hier liege ich jetzt und kann, obwohl ich todmüde bin, nicht einschlafen. Das mit dem Zombie vorhin war echt zu viel. Oder war es ein Phantom? Egal, was auch immer …
Ossana…
Was bedeutet das?!
Hmm. Wie ihr wisst, hat Max ein Wörterbuch, er ist so etwas wie meine persönliche Bibliothek. Ich werde mal direkt zu ihm rübergehen.