Linda Supik: Vanessa, ich danke dir ganz herzlich, dass du dir Zeit nimmst für dieses Gespräch. Lass uns anfangen mit den Praxen des Polizierens, wie du sie mit diesem Neologismus, diesem Verb für die Polizeiarbeit, analog zum englischen „policing“ bezeichnest. Ich finde es total gut, ein Verb daraus zu machen: das Polizieren, ich bin dem zum ersten Mal in deinen Texten begegnet (z. B. Thompson 2018, 2021). Das Polizieren wird im Moment viel diskutiert und ist gerade in den letzten Monaten sehr präsent im öffentlichen Diskurs. Leute wie du, als Sozialwissenschaftlerin und zugleich auch als Aktivistin, sowie andere Aktivist*innen in verschiedenen Ländern Europas beschäftigen sich ja tatsächlich schon seit Jahrzehnten damit. Das ist also kein neues Feld. Es entsteht nur jetzt gerade eine hegemoniale Öffentlichkeit, die in meiner Wahrnehmung plötzlich, also sehr abrupt hinschaut, etwas mitbekommt. Ich denke zum Beispiel an einen Videomitschnitt vom November 2020 aus Paris, der dokumentiert, wie der Schwarze Musikproduzent Michel Zecler von drei Polizisten niedergeprügelt wurde. Die Polizeikritik richtet sich einmal gegen diese hochselektiven Kontrollen, aber auch gegen die Polizeigewalt im engeren Sinne. Also diese Polizeigewalt, durch die Menschen auch zu Tode kommen und die, wie du und auch viele in der Bewegung das beschreiben, die Luft zum Atmen nimmt, also das Leben und Atmen unmöglich macht. Was ist dein Eindruck, warum kommt das jetzt so in die Öffentlichkeit und in den Mainstream-Mediendiskurs?
1 Polizeigewalt und Polizeikritik
Vanessa E. Thompson: Das Polizieren, ein Begriff, der in der kriminologischen Forschung auch schon länger verwendet wird, artikuliert sich immer auch rassistisch, also entlang rassifizierender und weiterer verschränkter Kriminalisierungs- und Ungleichheitsverhältnisse. Dass im Sommer 2020 so viel Aufmerksamkeit darauf lag, hat, glaube ich, mit unterschiedlichen und gleichzeitig verschränkten Gründen zu tun. Ich finde es aber wichtig festzuhalten, dass die Proteste nicht erst 2020 eine globale Dimension bekommen. Wenn wir uns die Konjunkturen der Widerstände gegen Polizeigewalt vor allem von migrantisierten und rassifizierten mittellosen und armen Gruppen anschauen, dann sehen wir auch in Europa verschiedene Wellen. Das Kollektiv um Stuart Hall und Paul Gilroy am „Centre for Contemporary Cultural Studies“ hat dies als „The Empire strikes back“ bezeichnet (CCCS 1982): Vor dem Hintergrund der formalen Dekolonisierung und der Anwerbung von Arbeitskräften aus den ehemals kolonisierten Gebieten hat das nekropolitische Polizieren, das vorher in den von Europa aus kolonisierten Gebieten stattfand – Frantz Fanon hat dazu viel gearbeitet –, dann zunehmend innerhalb Europas stattgefunden, obwohl es das Polizieren in Europa gleichzeitig schon lange in Bezug auf bestimmte Gruppen zum Produktivmachen für kapitalistische Ausbeutung im „racial capitalism“ gab: Rom*nja und Sinti*zze zum Beispiel gehören zu diesen internen „Anderen“ Europas, die viel historisches Wissen um diese Polizeigewalt haben, natürlich auch arme, mittellose weiße Arbeiter*innen, Sexarbeiter*innen etc. Strategien des Polizierens waren stets im globalen Austausch, gerade auch im Rahmen kolonialer Projekte. Besonders ab Mitte des 20. Jahrhunderts wächst mit der stärkeren Präsenz von Migrant*innen und People of Colour zur Anwerbung für die unterschichtete Ausbeutung das nekropolitische Polizieren der Subjekte in Europa, auch vor dem Hintergrund der punitiven Wende ab den 1970er-Jahren, aber auch der Widerstand. In vielen postkolonialen Kontexten Europas wie England und Frankreich werden die zeitlichen Abstände von „uprisings“ immer kleiner. In den 1980er-Jahren dann die großen antirassistischen Demonstrationen in Frankreich als starker Kristallisationspunkt, bei denen Policing immer eine Rolle gespielt hat. In den 1990er-Jahren verschiebt sich der Fokus zunehmend auf Angriffe von rechtsterroristischen Gruppierungen auf Migrant*innen und Geflüchtete. Welche Rolle spielt die Polizei dabei – oder auch nicht, auch im Rahmen von Unterlassung? Und dann natürlich die 2000er-Jahre; vor allem 2005, wenn wir zum Beispiel an die Unruhen in den Pariser Banlieues denken, die auf den Unfalltod zweier vor der Polizei fliehender rassifizierter Jugendlicher folgten, aber auch an andere Städte, London, Stockholm. Wichtig ist mir zu sagen, dass diese Proteste selbst eine Konjunktur haben, die sich auf eine gewisse Art und Weise auch transnational artikuliert, auch in Europa.
Black Lives Matter (BLM) hat sich ja nicht 2020 gegründet, auch nicht unter Donald Trump, sondern unter Barack Obama 2013 mit dem Urteil, das den Nachbarschaftswachmann George Zimmerman freisprach, der 2012 den 17-jährigen Trayvon Martin erschossen hatte. Daraufhin hat sich eine Bewegung gegründet, die auch aus dem Wissen der transnationalen und vorherigen Bewegungen geschöpft hat. „Black Liberation Groups“ haben sich nie nur in den USA formiert. Das ist ein wichtiger Hinweis, wie die Gruppen aus der historischen Entwicklung geschöpft haben und daraus erwachsen sind und warum die Bewegung 2020 so eine globale und vor allem breite Dimension annehmen konnte.
Und es kommen, glaube ich, weitere Aspekte hinzu. Der eine Aspekt ist der der Mediatisierung, der schnellen Verbreitung von Filmaufnahmen über soziale Medien. Dies ist eine Form der Solidarisierung, die ganz stark über soziale Medien und „digital publics“ stattfindet. Das ist nicht ganz unproblematisch, wenn wir uns anschauen, wie viel und wie schnell dadurch auch die Spektakularisierung rassifizierter Tode verbreitet wird, die auf eine gewisse Art und Weise auch zu einer Normalisierung von „Black death“ führen kann. Vor allem Schwarze Feminist*innen wie Katherine McKittrick haben darauf hingewiesen, dass es wichtig ist, diese Videos nicht einfach willkürlich zu teilen, denn was wir da sehen können, ist die Ermordung einer Person, die um ihr Leben fleht, Ermordungen, die eine Kontinuität haben. McKittrick (2014) diskutiert die Quantifizierung davon als „mathematics of unliving“.
Durch diese Form der Mediatisierung, aber auch schon durch das Wissen um das historische Problem der Tötungen von ausgebeuteten und armen Schwarze Menschen und anderen rassifizierten Gruppen haben sich auf der einen Seite schnell die aktuellen Proteste neu formiert. Auf der anderen Seite erinnert sie aber auch an langjährige Erfahrungen der Verunmöglichung von Atmen dieser Gruppen. Deswegen würde ich auch sagen, die Ermordung von George Floyd war nicht die Ursache der Proteste, wenn auch der Auslöser. Wir wissen, dass in den USA ca. alle 36 Stunden eine Schwarze arme oder mittellose Person durch polizeilichen Kontakt stirbt. Das heißt, die Proteste sind motiviert durch das Wissen um Kontinuität und dadurch, dass dieser Moment etwas forciert hat im Sinne von „enough is enough“. So hat die Tötung von George Floyd zu diesen Protesten geführt, zugleich aber auch die Kontinuität dieser systematischen Nekropolitik (Mbembe 2003)1 und die iterative Erfahrung damit. Das scheint mir die zweite Dimension neben der Mediatisierung, die historischen Kontinuitäten der Verunmöglichung von Atmen, die bereits Fanon in seinem anti-kolonialen Werk anspricht und die sich bis heute in urbanen Räumen, aber auch im sogenannten Privaten, in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen sowie auf dem Schwarzen Mittelmeer artikulieren.
Die dritte Dimension ist natürlich, dass die Black-Lives-Matter-Bewegung, kanalisiert durch den Hashtag von drei schwarze queeren Frauen, Alicia Garza, Patrisse Cullors und Opal Tometi, aber aufgefangen und vor allem getragen durch den Widerstand von vor allem schwarzen Aktivist*innen und Grassroots-Organisationen „on the ground“, eine dezidiert radikale intersektionale und auch transnationale Bewegung ist. Es gab auch schon in Deutschland Black-Lives-Matter-Gruppen, die sich nicht erst jetzt gegründet haben, und auch die Kämpfe für schwarze Leben, wenn wir es so sagen wollen, haben eine lange Geschichte in Deutschland, auch mit Bezug auf Polizeigewalt. Denken wir beispielsweise an den Polizeiskandal in Hamburg Anfang der 1990er-Jahre, an die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh oder an die Initiative Christy Schwundeck.2 Alles vor BLM. Das sind alles Kämpfe für schwarze Leben. Und diese Mobilisierung konnte durch das praktische Wissen, das von diesen vorherigen Initiativen schon vorbereitet wurde, auf einen gewissen politisierten Boden fallen. Das hat, glaube ich, auch grundlegend zu dem zunehmend artikulierten Protest beigetragen. In Frankreich haben wir das gesehen: Die Familie und Schwester von Adama Traoré, Assa Traoré mit ihrem Komitee „Wahrheit für Adama“3, und die Schwester von Lamine Dieng, Ramata Dieng, haben mit „Vies Volées“ ein Kollektiv von Familien, die Opfer von Polizeigewalt wurden, ko-organisiert.4 Es waren genau diejenigen, die die antirassistische Arbeit schon ganz lange machen, die mit dazu beigetragen haben, dass überhaupt so etwas wie ein Bewusstsein besteht in diesen jeweiligen Kontexten. So konnten George Floyd und Breonna Taylor mit Oury Jalloh, Christy Schwundeck, N’deye Mareame Sarr, Adama Traoré, Lamine Dieng, Mike Ben Peter, alles mittellose Schwarze oder migrantische Schwarze Personen, und so vielen weiteren in Verbindung gebracht, aber auch kontextualisiert werden.
2 Betroffenheit Schwarze Menschen durch die Pandemie
Und ich glaube, eine vierte Dimension neben diesen vorherigen Kämpfen und Erfahrungsbeständen ist natürlich die brutale Offenlegung der intersektionalen systematischen Ungleichheiten durch die COVID-19-Pandemie. Diese bestanden natürlich auch schon vor der Pandemie, sind aber durch SARS-CoV-2 stärker offengelegt worden. Wir haben in den USA besonders stark gesehen, dass Gruppen gesagt haben: „So, what do we have to lose? Wenn wir nicht durch die Pandemie sterben, dann durch die Polizeigewalt. Also jetzt ist der Moment, wirklich zu sagen: Wir wollen so nicht mehr leben!“ Das ist noch einmal eine ganz starke Dimension, denn wir haben gesehen, wer von der Pandemie überproportional betroffen ist: Schwarze und Braune verarmte Communitys vor allem, indigene Communitys in den jeweiligen staatlich regulierten Reservaten. Jetzt sehen wir gerade in den USA, Navajo Nation ist ein Hotspot, gleichzeitig ist sie fast gänzlich von Infrastrukturen der Gesundheit abgeschnitten. Hall hat bereits gesagt, „race is the modality through which class is lived“ (Hall et al. 1978, S. 394) und dies drückt sich natürlich auch verräumlicht aus. Die höhere Betroffenheit der migrantischen Gruppen und Communitys of Colour aus der Arbeiter*innenklasse durch die Pandemie haben wir auch in Großbritannien gesehen. In Frankreich ist es erst mal vermutbar, auch wenn es hier diese Statistiken zur Erhebung von rassistischer Ungleichheit nicht gibt und somit keine Belege für gesundheitliche rassifizierte Ungleichheit. Aber wie wo poliziert wird, haben wir gesehen, und wie viele Menschen aus den rassifizierten verarmten Vorstädten gestorben sind.
Es ist also noch einmal deutlich geworden, dass die rassifizierten „working class“ und „working poor“ – vor allem wenn sie von intersektionalen Ungleichheitsverhältnissen betroffen sind – besonders vulnerabel sind, COVID zu bekommen und an COVID zu sterben. Da spielt rein, dass viele Angehörige dieser Gruppen überproportional häufig sogenannte „essential workers“ sind, ob sie nun in den Supermärkten arbeiten oder die Päckchen liefern, die Care-Arbeit machen, den Spargel ernten und in anderen landwirtschaftlichen Bereichen arbeiten. Aber auch, dass diese Gruppen oft weniger Zugang haben zu einem Gesundheitssystem, also Stichwort „underlying health conditions“, diese hängen beispielsweise oft mit schlechter Gesundheitsversorgung und Umweltrassismus zusammen: Welche Gruppierungen leben eigentlich in der Nähe toxischer Gebiete etc.? In den USA ist der medizinische Rassismus ein Riesenthema: Welche Gruppen sind wie von Asthma betroffen, sterben früher an Herzinfarkten, haben einfach eine niedrigere Lebenserwartung, weil Rassismus, der sich stets entlang von Klassenverhältnissen artikuliert, wie Hall (1994), Cedric Robinson (1983, siehe auch Gargi Bhattacharyya 2018) und viele andere gezeigt haben, sich natürlich auch auf den Körper auswirkt und damit auch eine medizinische Dimension hat. Und das ist ja nicht nur in den USA so.
Ich war letztens in eine Diskussion eingebunden über die globalen Ungleichheiten und Ausbeutungsprozesse, die auch kolonial und vergeschlechtlicht konfiguriert sind: „racial gendered capitalism“. Da haben wir noch einmal gesehen, welche Gruppen eigentlich wie betroffen sind. Schnell wurde von einigen darauf verwiesen, dass in Mitteleuropa ja alles ganz anders sei. Aber ich finde es wichtig zu unterstreichen, dass die Pandemie auch in Deutschland deutlich gezeigt hat, welche Gruppen wie verletzlich sind und wer eigentlich die essenzielle Arbeit macht. Dass wir es hier oft mit postmigrantischen oder migrantisierten Menschen zu tun haben und mit Menschen of Colour. Wir haben die Verletzlichkeit zum Beispiel in der Fleischindustrie gesehen. Und wir müssen uns natürlich auch in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum die Frage stellen, welche Hotspots als die „vergessenen“ Hotspots gelten: Erstaufnahme- und Abschiebelager beispielsweise. Gerade wurde aber auch in Berlin eine Legalisierungskampagne von vor allem illegalisierten migrantischen Arbeiter*innen initiiert, oft Care-Arbeiter*innen, in der diese skandalisieren, dass sie im Rahmen dieser Pandemie mehrfach vulnerabel sind und keinen Zugang zu gewissen Gesundheitsstrukturen oder sozialer Absicherung haben.5
Für mich geht es hier nicht nur um die größere Verletzlichkeit bestimmter Gruppen, sondern auch um die Notwendigkeit, sich diese Dimension intersektional anzuschauen. Diese Offenlegung hat stark die Dringlichkeit hervorgerufen, für Leben zu kämpfen, die systematisch unlebbar gemacht werden. Also, die auf unterschiedlichen Ebenen institutionell zu frühzeitigem Tode (Gilmore 2007) verdammt sind, wenn wir es so sagen wollen.
3 Fürsorgliche Kämpfe für unlebbar gemachte Leben
Linda Supik: Ich musste daran denken, dass ich bei den Nachrichtenbildern von den ersten Black-Lives-Matter-Demonstrationen unter Pandemiebedingungen im Frühsommer 2020 gesehen habe: Oh, man kann auch mit Abstand demonstrieren. Wie diszipliniert die das alle machen! Während man zum gleichen Zeitpunkt in den eher privilegierten, weißen Kontexten, in denen ich mich viel bewege, auch gerade in meinem Ort Münster – und der ist definitiv nicht Bern oder Berlin oder Frankfurt –, leicht die Vorstellung haben konnte, Politik stünde still. Es wird nichts geschehen in diesen Zeiten. Alle Menschen sitzen paralysiert zu Hause. Du hast schon beschrieben, wie zynisch und falsch diese Wahrnehmung ist, wer überhaupt es sich leisten kann, zu Hause zu sitzen, um bloß nichts Falsches einzuatmen. Auf der anderen Seite sehen wir, wie es sehr wohl möglich ist, weiterhin Politik zu machen und was dazu gehört, dann mit dieser Selbstdisziplin auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Als Erste eine Demo unter Hygienebedingungen zu organisieren, das ist ja auch eine Wahnsinnsleistung. Daran kann man auch sehen, wie groß der Handlungsdruck für die Black-Lives-Matter-Aktivist*innen gewesen sein muss, um zu sagen: „Also nein, das kann uns jetzt nicht bremsen und wir haben nichts zu verlieren“, so wie du das eben gesagt hast. Es hat mich wahnsinnig beeindruckt, dass diese Pandemie plötzlich auf eine ganz paradoxe Weise ausgerechnet für diese so wichtige Bewegung den Raum schafft. Plötzlich steht sie so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Stimmt dich dieser Aufschwung hoffnungsvoll?
Vanessa E. Thompson: Ich halte das mit der paradoxen Dynamik für „Black Lives Matter“ mitten im Shutdown für einen ganz wichtigen Punkt. Ich war auf einem Panel zu „Black Radical Politics“, wo festgestellt wurde: „Okay, when the pandemic shuts everything down actually Black struggles bring back political life.“ Schwarze radikale Kämpfe haben ja eine ganz lange Geschichte, wie andere Kämpfe für Gerechtigkeit gegen Ausbeutung und gegen „racial gendered capitalism“ und für andere Welten auch. Seit Langem gibt es Bezüge auf die „Black Radical Tradition“, die ja nie nur Schwarz ist. Die Formation von „Political Blackness“ ist dabei ganz wichtig. Wenn wir uns die haitianische Revolution 1791 anschauen, sehen wir da schon Formationen von „Political Blackness“. Der Sommer 2020 hat die große Solidarisierung mit Gruppen, die Rassismus erfahren müssen, in vielen Teilen der Welt gezeigt, im globalen Norden auch von weißen Menschen, die gesagt haben: „Wir wollen auch nicht mehr zuschauen. Wir wollen auch nicht mehr so leben.“ Dass wir praktisch normalisiert werden für diesen Zustand, dass diese Form von Nekropolitiken Teil unserer Lebensweisen sind. Wir haben es auch schon in Europa gesehen: Einerseits wurde verwiesen auf die Ungleichheit in dieser Pandemie, Stichwort: Wir sind nicht alle gleich, wir können uns nicht alle die Hände waschen und uns irgendwie in ein meist heteronormatives Zuhause zurückziehen. Die Proteste haben andererseits aber gezeigt, dass dieses „Wir sind nicht alle gleich von der Pandemie betroffen“ auch unterschiedliche Möglichkeiten birgt, überhaupt in diesem Moment auch zu sagen: „Okay, wir müssen trotzdem weiter politisch aktiv sein, weil wir gar nicht diese Privilegien des Gleichseins haben in der Pandemie.“ Für rassifizierte arme Gruppen und mehrfach marginalisierte Gruppen, Geflüchtete, kam die Pandemie ja oben drauf. Aber was nicht aufgehört hat, ist das Polizieren. Was nicht aufgehört hat, ist die Kriminalisierung. Was nicht aufgehört hat, sind die Abschiebungen, die Ausbeutung, die Armut. Das heißt, Situationen haben sich verschärft und somit muss natürlich auch weiter politisch gehandelt werden, auch protestiert werden, entlang des Zusammenhangs von Kriminalisierung und Prekarisierung, wie in vielen Teilen des globalen Südens übrigens auch, der historisch größte Streik in Indien, feministische Bailout-Pläne, weitestgehend getragen von afrikanischen Feminist*innen6. Und das, wie du auch schon gesagt hast, auf eine ganz „caring“ Weise. Was wir bei den BLM-Protesten gesehen haben, sind auch Formen des Aufeinander-Aufpassens, des Aufeinander-Achtgebens. Es wurden Masken verteilt auf diesen Demonstrationen für Leute, die keine hatten. Es gab unterschiedliche Stände, an denen Essen oder Wasser organisiert wurde. Mutual-Aid-Projekte wurden mit auf die Straße gebracht, um die Proteste praktisch zu „sustainen“, sie sozusagen auch nachhaltig zu machen. Jin Haritaworn hat sich das genauer angeschaut und forscht auch dazu.
Zu deiner Frage, ob es positiv stimmt, wie diese Rassismusdebatte in Deutschland gerade läuft: Ich bin ambivalent und ich würde sagen: jein. Wir sehen unterschiedliche, auch verschränkte Dimensionen und wir müssen auch von unterschiedlichen Öffentlichkeiten sprechen. Wir sehen eine Mediendebatte, zumindest in den hegemonialen Medien der Mehrheitsgesellschaft, die Rassismus aufgenommen und zum ersten Mal zur Primetime in den Talkshows diskutiert hat. Interessant, aber nicht neu ist dabei, dass die Aufmerksamkeit erst einmal ganz stark auf den USA lag. Das kennzeichnet die Triple-Disqualifizierungsstrategie von Rassismus, die vor allem in kontinentaleuropäischen Kontexten stark ist: räumliche Verortung nach außen, temporale Verortung auf ein Vergangenes und die Dimension der Individualisierung. In Deutschland sind es Einzelfälle, woanders hat der Rassismus eine Systematik. In den Diskussionen wurde auch zugelassen, darüber zu reden, wie die Geschichte der Polizei in den USA sei und was Polizeigewalt mit Versklavung und Plantagenökonomien zu tun habe. Das konnte gesagt werden, konnte besprechbar werden. Wenn es aber um Deutschland ging, wurde schnell wieder die Rhetorik der Einzelfälle mobilisiert, die Individualisierung, Rassismus also als Einzelerlebnis abgefragt. Dazu kam der ständige Vergleich, dass es in den USA viel schlimmer sei. Natürlich weisen die Bewegungen, die im deutschen oder in kontinentaleuropäischen Kontexten arbeiten, genauso wie Forscher*innen immer sowieso auf die historisch-spezifischen Unterschiede hin, wie sich Konjunkturen von Rassismus kontextuell artikulieren. Ein Wissen um die Unterschiede ist ja sowieso da, in Bewegungskontexten sowie in der Forschung. Ich habe bei dieser medialen Debatte wieder beobachtet, wie es diese ständige Betonung von den Unterschieden verunmöglicht, über Rassismus als gesellschaftlichem Verhältnis in Deutschland und als historisch gewachsenem Phänomen der Gegenwart sprechen zu können. Ganz zu schweigen von den Angriffen gegen und den Versuchen des Zum-Schweigen-Bringens von Personen, die sich gegen Polizeigewalt und institutionellen Rassismus ausgesprochen haben. Das heißt natürlich nicht, dass das überall so war. Es war interessant zu sehen, wie Rassismusforscher*innen oder Leute, die in Organisationen und Initiativen aktiv sind, ebenso Strategien entwickelt haben, diese Disqualifizierungsstrategie zu umgehen, weil sie wissen, wie die Konjunkturen der Rassismusdebatte in Deutschland ablaufen.
Deswegen sehe ich den Verlauf der Debatte ambivalent. Wir haben im Sommer 2020 auch gesehen, dass die Medien auf einmal händeringend nach Schwarze Menschen gesucht haben. Unterschiedliche Menschen haben gesagt: „Ich habe noch nie so viele Medienanfragen bekommen.“ Das war, finde ich, auch eine skurrile Situation, weil es unheimliche Mehrarbeit geschaffen hat für Menschen, die gleichzeitig versucht haben, Proteste zu organisieren, und Communitys ja auch in Trauer waren. Es darf nicht übersehen werden, was für eine Dimension von affektiver Arbeit eigentlich mit diesen transnationalen Trauerprozessen verbunden ist. Es ist ja kein Abstraktum, dass Schwarze Menschen und Menschen of Colour, besonders verarmte Gruppen, von dieser Pandemie stärker betroffen sind. Ein Drittel der Menschen in den USA und viele Menschen of Colour in England und anderen Ländern haben Menschen verloren oder Verwandte in den Krankenhäusern, sind selbst erkrankt. Darüber dürfen wir nicht vergessen, dass es weiter die Aufgabe ist, die Gesamtgesellschaft über Rassismus „aufzuklären“, wofür man dann noch disqualifiziert wird. Da ist es wichtig zu überlegen, was gerade eigentlich passiert und welche Mehrarbeit es schafft. Aber es stimmt mich positiv, dass Leute sich trotzdem Räume erkämpft haben und auf die Kontinuität des strukturellen Rassismus im deutschen Kontext hinweisen. Damit haben sie sich den Disqualifizierungsstrategien rassistischer Diskurse verwehrt. Das, aber auch die Proteste, die Solidaritäten, Verbindungen zwischen Black Lives Matter, älteren Organisationen und Initiativen, neu gegründete, unheimlich junge Gruppen, die vielleicht auch zum ersten Mal so auf Demonstrationen aktiv waren, und die Verknüpfungen zur Migrantifa“7 vor dem Hintergrund der terroristischen Attentate und Morde in Hanau und in Halle, die Verbindungen zu den Kämpfen selbst organisierter geflüchteter Gruppen, haben mich positiv gestimmt. Und das „Grounding“ in Kämpfen gegen Rassismus, in denen es nicht bloß um Diskriminierung oder Inklusion geht oder gar um symbolische Repräsentation, sondern um die gesellschaftlichen Verhältnisse, rassifzierte Überausbeutung, die frühzeitige Tode hervorbringen. Das ist natürlich ein konstantes Ringen, auch mit Bezug auf rassifizierte Gruppen, auch da setzen sich natürlich liberale Ansätze durch. Es ist sehr wichtig, dieses „Grounding“ und Formen der Verbindungen und Verknüpfungen für den deutschen Kontext zu thematisieren, in dem es ja auch so wichtig ist, antischwarzen Rassismus in Artikulation und Verwobenheit zu antimuslimischem Rassismus zu denken. Das läuft auch oft zusammen; es gibt auch Schwarze muslimische Menschen, das wird gerne vergessen. Ebenso wie Rassismus gegen Rom*nja und Sinti*zze oder Antisemitismus oder Rassismus gegen Arbeitsmigrant*innen aus den sogenannten Peripherien Europas. Hier die Verbindungslinien weiter zu ziehen, die Gemeinsamkeiten und Differenzen weiter auszuarbeiten und die Perspektiven nicht an Fragen von lediglich Repräsentation, sondern Lebensbedingungen anzusetzen, das stimmt auch hoffnungsvoll. Ich würde aber Paul Gilroy zustimmen, der letztens in einem Interview im Guardian (Gilroy 2020) feststellte, dass wir jetzt prüfen müssten, wie nachhaltig diese Proteste seien. Die sozialen Medien, die sie mit hervorgebracht haben, bedingen nicht zwangsläufig eine Kontinuität auch in Bezug auf politische Programme, Forderungen, Netzwerke, soziale Kämpfe etc. Gleichzeitig stehen diese Proteste ja in enger Verbindung mit vorherigen und noch stattfindenden Kämpfen.
Linda Supik: Wie könnte denn Nachhaltigkeit geschaffen werden? Spielt hier der Gedanke von transformativer Gerechtigkeit eine Rolle, auf den du dich beziehst (z. B. Thompson 2018, S. 214 f.)?
Vanessa E. Thompson: Das machen ja viele Gruppen schon. Black Lives Matter in den USA zum Beispiel hat festgestellt: „A moment is not a movement“ und daraus abgeleitet, du hast jetzt „The Movement for Black Lives“, wo ganz konkrete Forderungskataloge und politische Grassroots-Programme weiter erarbeitet werden. Gleichzeitig gibt es noch viele weitere Gruppen, die im Rahmen der Proteste von Ferguson8 und im letzten Jahr aktiv waren und sind. Das gibt es aber auch in Deutschland schon, seit Längerem von der ISD, der „Initiative Schwarzer Menschen in Deutschland“,9 aber auch von anderen Gruppierungen. In Bezug auf Polizieren dokumentiert KOP, die „Kampagne für Opfer rassistischer Polizeigewalt“10, schon seit 2000 rassistische Polizeigewalt, unterstützt vor allem betroffene Personen und hat mehrere Kampagnen koorganisiert. In vielen deutschen Städten gibt es „Copwatch“-Gruppen, die sehr wichtige Arbeit in dem Bereich machen. In der Schweiz ist die „Allianz gegen Racial Profiling“ sehr aktiv.11 Es gibt lange schon Handlungsempfehlungen und Forderungskataloge, was sich politisch verändern müsste, was umgesetzt werden müsste: Abschaffung von sogenannten verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrollen, Entkriminalisierung von Migration, aber auch von Armut etc. Da weiter anzusetzen, die Forderungen hörbarer werden zu lassen und sie im öffentlichen Raum stärker zu thematisieren auf unterschiedlichen, auch politischen Ebenen, ist sehr wichtig in Bezug auf die Frage, wie diese Proteste langfristig weiter wirken können. Es ist aber ebenso wichtig, auch noch mal abolitionistische Praktiken und Entwürfe in den Blick zu nehmen, die es natürlich auch in Deutschland gibt, auch wenn das nicht immer unter dem Begriff des Abolitionismus fällt – selbst organisierte Geflüchtetengruppen wie auch Kämpfe der Migrant*innen etc. – und ihre marginalisierten Wissensbestände und Kämpfe gegen Grenzregime und Lager. So fordert die feministische Gruppe „Women in Exile“ beispielsweise schon lange „abolish lagers!“. Abolition umfasst immer auch weitere repressive Institutionen und Strukturen, nicht nur die Polizei, sondern auch Grenzregime, Gefängnisse, aber auch wohlfahrtsstaatliche Institutionen und Fürsorgeregime. Gerade Personen und Gruppen, die durch intersektionale Formen der staatlichen Kriminalisierung im karzeralen Kapitalismus vorzeitigen Toden und systematischer Gewalt (auch durch Unterlassung) ausgesetzt sind sowie Formen von interpersoneller Gewalt, sexualisierter Gewalt beispielsweise, haben, oft aus der Not heraus, Praktiken und Entwürfe entwickelt, wie sie sich kollektiv vor staatlicher sowie vor interpersoneller Gewalt schützen können; illegalisierte Sexarbeiter*innen, geflüchtete Frauen und nicht-binäre Personen12, die gegen die Gewalt in den Lagern sowie gegen das Lagersystem kämpfen, LesMigraS“, die Anti-Gewalt machen, ohne dabei den strafenden Staat zu involvieren. Dies sind auch Formen von „Transformative Justice“. Zudem gibt es auch in Europa eine lange Geschichte des Abolitionismus, dieser kann nicht nur auf den US-Kontext reduziert werden. Auch im europäischen Kontext gibt es seit Langem eine inhärente Kritik an repressiven Institutionen und den Verbindungen von Rassismus und Kapitalismus, die auch auf Alternativen hinweist.
Abolitionismus meint ja vor allem historisch die Bewegung zur Abschaffung der Versklavung, aber auch des Kolonialismus und aus dieser Tradition, die in Bezug auf eine radikale Transformation von Gesellschaft (und nicht nur reduziert auf Institutionen, sondern vielmehr auf gesellschaftliche Verhältnisse, die Systeme wie Versklavung und Kolonialismus, Institutionen und Regime der Einsperrung, Kriminalisierung und Ausbeutung hervorbringen) gewisse Imaginationen, aber auch Kämpfe und Theorien und Wissensbestände produziert hat, kommen auch Transformative-Justice-Ansätze. In den USA haben wir gesehen, dass sich die abolitionistischen Bewegungen nach der formalen Abschaffung der Versklavung stark auf karzerale Institutionen – Gefängnisse, Polizei, „Detention Centers“ und Grenzen etc. – konzentriert haben, um zu zeigen, dass die Gruppen, die vorher von Versklavung betroffen waren, über-ausgebeutet und entmenschlicht wurden, jetzt diejenigen sind, die überproportional diesen repressiven Institutionen ausgesetzt sind. Gleichzeitig können wir eine Versicherheitlichung der Gesellschaft beobachten, die auch weitere Gruppen betrifft. Eines der wesentlichen Argumente von Abolitionismus ist: Es geht nicht darum, diese Institutionen besser zu machen, sondern die Gesellschaft und Reproduktionsweisen so zu transformieren, dass sie diese Institutionen gar nicht braucht, und die gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, die diese Institutionen hervorbringen. Beim Abolitionismus geht es eher darum, wie die bekannte US-amerikanische Abolitionistin Ruth Wilson Gilmore (2007) sagt, Institutionen zu schaffen, die „life affirming“ sind, anstatt vorzeitige Tode zu produzieren. Und dass vor allem in den Strafinstitutionen und karzeralen Institutionen desinvestiert und in Institutionen der Fürsorge, der sozialen Gerechtigkeit reinvestiert wird, diese aber zugleich radikal transformiert werden müssen, denn Kriminalisierung wirkt auch in wohlfahrtsstaatlichen Institutionen. Daher kommt auch diese aktuelle Forderung „defund the police“ auf Black-Lives-Matter-Demonstrationen, gleichzeitig geht Abolitionismus weit darüber hinaus. Es geht eher, wie Fred Moten und Stefano Harney (2004) sagen, um die Abolition einer Gesellschaft „that could have prisons, that could have the wage“ und damit um radikal neue gesellschaftliche Organisierung, Re-Produktion und Beziehungen.
Linda Supik: Mir war dieser starke Zusammenhang zu Care, zu Sorge- und Fürsorgeideen und -praxen bisher nicht klar. Der ganze Care-Komplex mit seiner langen feministischen Tradition ist in ganz vielen gesellschaftlichen Bereichen unterbelichtet. Das ist auch ein Grundproblem für Social-Justice-Bewegungen. Eigentlich hätte ich das nicht erwartet, aber es ist dann doch nicht so erstaunlich, wenn wir uns anschauen, dass bei einer Institution wie der Polizei das Moment Care das ist, was fehlt und was von der abolitionistischen Bewegung mit hineingebracht wird. Und wenn ich richtig verstanden habe, wie Personen of Colour sich gegen Polizeigewalt schützen, nämlich mit Strategien des Sich-umeinander-Kümmerns und des Aufeinander-Achtens und nicht wegzugucken, sondern schnell jemanden anrufen, wenn man etwas mitbekommt, dann ist das schlicht und ergreifend Care.
Vanessa E. Thompson: Ja, und dieses Aufeinander-Aufpassen ist auch Teil von diesen transformativen Gerechtigkeitskonzepten und auch in Deutschland schon länger Praxis. Bei der Copwatch-Gruppe Frankfurt zum Beispiel gilt ja auch der Slogan „We look out for each other“. In England gibt es das Kollektiv „Sisters Uncut“, dessen Mitglieder unter anderem auch aus dem Gefängnis-Abolitionismus kommen und von denen viele migrantisierte, vormals oder jetzt immer noch illegalisierte Feminists of Colour und auch nicht-binäre Personen karzerale Erfahrungen gemacht haben. Sie haben gesagt: „Okay, wir sind mehrfach vulnerabel für diese Bestrafungsinstitutionen. Und es geht darum, wie wir auch in unseren Communitys aufeinander aufpassen können.“ Viele fragen sich, was mit interpersoneller Gewalt, häuslicher Gewalt, sexualisierter Gewalt ist, wenn wir die Polizei nicht mehr rufen. Hierbei geht es auch um Verantwortungsübernahme innerhalb von Kollektiven. Community ist in Deutschland ein etwas schwieriger Begriff. Er meint nicht nur eine in Bezug auf Race irgendwie „gleiche“ Community, sondern kann auch ein Nachbarschaftsnetzwerk beschreiben. Es gibt zum Beispiel in Hamburg ein schönes Projekt, in dem es um die Übernahme von Verantwortung in Bezug auf häusliche Gewalt im Rahmen eines Nachbarschaftsnetzwerks geht. Also das sind Ansätze von Transformative Justice, die darauf abzielen, staatlich sanktionierte Gewalt, die besonders intersektional vulnerable Gruppen kriminalisiert und deren Probleme teilweise verschlimmert statt verbessert, einzudämmen. Sie wenden sich gegen die Expansion des sogenannten strafenden Staates und fordern stattdessen, Institutionen zu entwickeln und zu stärken, in denen eher darauf geguckt wird, was marginalisierte und mittellose Menschen eigentlich wirklich brauchen, anstatt sie zu strafen. Melanie Brazzell und das „Transformative Justice Kollektiv Berlin“ haben ein schönes Toolkit dazu gemacht.13 Wir sehen ja in der Soziologie und in anderen Sozialwissenschaften, dass wir auch im europäischen Kontext von der Expansion von Strafregimen sprechen können; Michel Foucault, Loïc Wacquant und Didier Fassin arbeiteten oder arbeiten noch dazu. Gleichzeitig zeigen die Analysen von Frantz Fanon, Angela Davis, Joy James, Adam Elliott-Cooper, Ruth Wilson Gilmore, Simone Browne und vielen weiteren, dass Strafregime auch und besonders über Rassismus operieren. In Deutschland sehen wir dies zum Beispiel an der Reform von Polizeigesetzen, die das Repertoire polizeilicher Handlungsmacht stark ausweiten, und dies hat besonders für mittellose migrantische und rassifizierte Personen krasse Konsequenzen. 2019 gab es in Frankreich Proteste gegen ein Gesetz, das die demokratische Kontrolle der Polizei unterminieren soll und polizeiliche Macht ausbaut. Transformative Gerechtigkeitsansätze versuchen auch, dieser Entwicklung zu widerstehen. Sie fordern Institutionen der sozialen Gerechtigkeit statt des Ausbaus von Institutionen von Strafe und Bestrafung.
Linda Supik: Meinst du so etwas wie sozialarbeiterisches Helfen zum Beispiel?
Vanessa E. Thompson: Nicht unbedingt, denn viele Gruppierungen sehen, dass auch Fürsorgeregime punitive Elemente haben. „Foster Care“14 ist so ein Beispiel, Dorothy Roberts hat dazu einschlägig gearbeitet im Rahmen des US-Kontexts. Der staatliche Zugriff auf besonders rassifizierte Kinder von Rom*nja und Sinti*zze, von armen Schwarzen Menschen und geflüchteten Menschen, aber auch von armen weißen Menschen spielt aber auch in Deutschland eine Rolle. Und auch die Sozialarbeit kooperiert nicht nur oft mit der Polizei, sondern folgt auch oft disziplinierenden Logiken. „Care not Cops“ bedeutet in diesem Sinne also, sich Institutionen wie psychiatrische Krankenhäuser oder Jugendeinrichtungen genau anzuschauen. Transformative-Justice-Ansätze gehen mit einer Psychiatriekritik einher, weil sie zum einen Selbstbestimmung ins Zentrum stellen und zum anderen auch psychische Erkrankungen nicht als losgelöst von gesellschaftlichen Verhältnissen betrachten und danach fragen, was Menschen in Krisen eigentlich brauchen; das hat schon Fanon (2013 [1952]) getan. Mit Bezug auf Deutschland ist hier der Fall von William Tonou-Mbobda15 aus Hamburg einschlägig; Schwarze Menschen und Menschen, die Rassismus erfahren, sterben nicht nur überproportional in solchen Einrichtungen (siehe auch die Arbeit der Family and Friends Kampagne in Großbritannien), sondern sie werden auch stärker medikalisiert, ruhig gestellt etc. Die ganze Critical-Disability-Justice-Bewegung hat einen abolitionistischen Ansatz und wichtige Praktiken entwickelt, die Menschen in Krisen unterstützen, ohne sie wegzusperren oder zu pathologisieren. Es geht also auch um eine radikale Transformation von Einrichtungen, von denen wir denken, sie seien die „guten“ Institutionen.
4 Die Anrufung des Rechtssubjekts
In dieser Hinsicht ist das Abziehen von Ressourcen auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Subjektivierung wichtig. Und zwar haben mein Kollege Daniel Loick und ich versucht zu verdeutlichen, dass die Polizei unterschiedlich subjektiviert in Bezug darauf, wer sich als Rechtssubjekt angerufen fühlt und wer durch polizeiliche Repression immer wieder daran erinnert wird, vor der Polizei nicht sicher zu sein, flüchten zu müssen. Unter dieser Perspektive bedeutet „disinvest from the police“ nicht nur eine finanzielle Verringerung, sondern hat auch einen politischen Charakter auf einer Ebene der Interpellation, der Anrufung. Es geht um das Entsagen eines liberalen Sicherheitsversprechens, das wir oft von klein auf lernen, das für einen Großteil der Menschen keine Sicherheit bedeutet. Loick hat den Prozess beschrieben, „sich aus dem polizeilichen Blick herauszuarbeiten“.16 Verwandte Ansätze fordern den Entzug praktischer Ressourcen aus der Polizei, um sie in kollektiv-radikal-demokratisch entwickelte Projekte zu investieren, wo die betroffenen Leute mitsprechen. Angesichts der bekannten repressiven Elemente in der Sozialarbeit, aber auch des bekannten institutionellen Rassismus im Bildungssystem, auf dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt etc. kann es nicht einfach um „weniger Polizei und von allem anderen mehr“ gehen. Transformative Justice und die Forderung von „defund“ bedeutet also das Abziehen von repressiven Investments bei gleichzeitiger Transformation der Institutionen sozialer Gerechtigkeit.
Linda Supik: Ich möchte noch einmal zum Polizieren fragen: Diese sich durchziehende Fehlzuschreibung an Menschen of Colour durch die Polizei, vermeintlich gefährlich zu sein, kontrollierfähig zu sein, ohne dass die betroffene Person irgendetwas dazu oder dagegen tun kann, ist nach meiner Wahrnehmung ein Grundproblem. Du hast dies beschrieben mit diesem Moment der Anrufung, das auch schon Fanon veranschaulichte mit der Situation, in der ein Kind, ein weißes Kind, ruft: „Oh, Mama, schau mal, ein N-. Ich habe Angst!“17 (Fanon 2013 [1952], S. 95; siehe auch Thompson 2018, S. 202 ff.) Dieser schnelle Reflex hat so fatale Folgen und lässt der solchermaßen angesehenen Person in diesem Moment keine Spielräume zu handeln. Also was kann eine Person tun, wenn ihr Gefährlichkeit zugeschrieben wird und sie zeigen möchte, dass das nicht so ist? Das ist doch eine Alltagssituation, die in dem Moment lebensbedrohlich wird, wo das machtvolle Gegenüber ein*e Polizist*in oder bewaffnetes Sicherheitspersonal ist. Dieser Reflex, jemanden für vermeintlich gefährlich zu halten, kann aber von jedem Menschen innerhalb der Gesellschaft kommen, dem Sozialarbeiter oder der Lehrerin oder einer Nachbarin. Meinst Du das, wenn Du sagst, das Racial Profiling eine Praxis sei, die über das Polizieren hinausgeht?
Vanessa E. Thompson: Ja, so würde ich das beschreiben. Und die Dimension der Anrufung: Ich kontrastiere ja in meiner Arbeit Frantz Fanon mit Louis Althusser (z. B. Thompson 2018, S. 202 ff.), weil dieser schon gezeigt hat, dass die Polizei eine gewisse Rolle bei der Subjektbildung von Personen spielt. Althusser (1977) führt folgendes Beispiel an: Ein Polizist ruft ein Subjekt: „Hey, Sie da!“ Das Subjekt dreht sich zu der Polizei um und wird sich in diesem Moment seiner Subjektivität bewusst, also seiner Subjektivität als Rechtssubjekt. Es versteht sich darin, dass es als Subjekt ein Recht darauf hat, beschützt zu werden. Inklusive seines Eigentums. Das ist eine ganz wichtige Dimension, weil die Frage des Zugriffs immer auch ein Eigentumsverhältnis beinhaltet, wenn wir über Polizieren nachdenken. Das ist nicht mehr dasselbe wie im Rahmen von Versklavung und Kolonialismus, als es einen direkten Zugriff gab. Europa war an der transatlantischen Versklavung und aktiv am Sklavenhandel beteiligt, Initiator sozusagen, die Schiffe kamen von hier, und der Gewinn aus der Überausbeutung floss hierhin, daher finde ich es immer bemerkenswert, wenn Personen sagen, dass es bei Versklavung eher um die USA geht. Vor allem stellt der Sklavenhandel den historischen Motor für kapitalistische Akkumulation dar. Dabei ging es auch stets um den Zugriff auf Körper. Also, es geht hier gerade nicht darum, Körper als Subjekte und in ihrer Rechtshaftigkeit anzurufen, sondern einen Zugriff zur Ausbeutung und Entmenschlichung zu gewährleisten. Und damit findet natürlich eine Kriminalisierung statt, denn dieser Zugriff funktioniert mit gewissen Bildern, Repräsentationen etc. Ich habe diese Anrufungsszene von Althusser einmal kontrastiert mit einem Plakat von rassifizierten sozialen Bewegungen aus Paris. Darauf steht: „Théo und Luhaka erinnern uns daran, warum Zyed und Bouna weggelaufen sind.“18 Das Plakat verweist darauf, dass eine Person polizeilich misshandelt wurde, eine in Gewahrsam gestorben ist und zwei andere fortgerannt sind. Der Plakattext ist eine interessante Figur, um zu verdeutlichen, dass es am ehesten der Erfahrung angerufener kriminalisierter Subjekte entspricht, der Polizei zu entfliehen. Und nicht stehen zu bleiben, sich umzudrehen und sich seiner Rechtssubjekthaftigkeit bewusst zu werden. Sie befinden sich also in einer konstanten Dimension der Flüchtigkeit, um dem polizeilichen Blick zu entkommen. Fanon hilft uns mit seiner bekannten Interpellationsszene aus „Schwarze Haut, weiße Masken“ (Fanon 2013 [1952], S. 95) zu erkennen, wie stark der polizeiliche Blick gesellschaftlich kriminalisiert oder Taten kriminalisiert, die individualisiert werden, anstatt sie in gesellschaftliche Verhältnisse einzuordnen. Dabei geht es in erster Linie nicht darum, was Menschen getan haben, denn viele werden auch in illegalisierte Ökonomien gedrängt. Durch Migrationsregime bspw. sowie durch Armut.
Ich verstehe Racial Profiling auf unterschiedlichen Ebenen als über die aktuelle Kontrolle hinausgehend, weil diese weiterreichende Folgen hat, wie unterschiedliche Initiativen, zum Beispiel die Antidiskriminierungsbüros in Nordrhein-Westfalen (ADB NRW19) aufgezeigt haben (siehe auch Kollaborative Forschungsgruppe Racial Profiling 2019). Es können Depressionen entstehen, Leute meiden gewisse Räume. Klar gibt es auch immer Widerstandsstrategien im Kleinen wie im Großen, aber die Folgen der Kontrolle sind dennoch massiv. Nach Rob Nixon (2011) können wir das auch entlang der langsamen Gewalt verstehen; also einer Gewalt, die über das spektakuläre Ereignis der Kontrolle hinausgeht in Form von beispielsweise psychosozialen Konsequenzen, aber auch in Form einer notwendigen Dekriminalisierung, um der Familie oder Freund*innen zu versichern: „Hey, ich habe wirklich nichts gemacht!“ Oder eben wenn die Person jetzt der Gefahr der Deportation ausgesetzt ist. Es geht dabei ja nicht nur um die Frage, wer was „gemacht hat“, sondern welche Gruppen in welche Ökonomien und Situationen gedrängt werden. Die Person, die diese polizierende Gewalt erfährt, hat also länger damit zu tun. Gleichzeitig umfasst Polizieren schnelle und laute Gewalt. Wenn es um Tod im Zusammenhang mit polizeilicher Gewalt geht, sehen wir, wie diese auch über das Subjekt hinausgeht, gegen das sie sich gerichtet hat: Familien werden kriminalisiert oder müssen erleben, wie die Opfer medial kriminalisiert werden. Der Umgang mit den Angehörigen der Opfer der NSU-Morde ist eines der eklatantesten deutschen Beispiele. Die Polizei ermittelte bei mehreren der NSU-Mordfälle ausschließlich in Richtung migrantisierte communities und behandelte in diesem Sinne die Familien als Verdächtige, die noch lange unter dieser polizeilichen Gewalt leiden mussten. Polizieren geht also immer über die aktuelle Kontrolle oder das aktuelle Ereignis, die Tötung, die Inhaftnahme etc. hinaus. Das trifft im Übrigen auch auf eine weitere Dimension zu, nämlich die der Institution. Auch hier findet das Polizieren als ein Ausdruck der Kriminalisierung und Kontrolle statt, über die Polizei hinaus, in den Gerichtssälen, wenn verletzte Personen Verletzungen attestieren lassen wollen etc. Damit meine ich nicht, dass alle Institutionen Polizei sind, denn diese ist ja mit einer spezifischen Form der Macht ausgestattet. Aber die Muster und Prozesse der Kriminalisierung laufen auch in anderen Institutionen ab, die mit einer anderen Macht versehen sind. Ich gucke mir also einerseits an, welche Diskurse, Strategien, Gesetzgebungen, die Racial Profiling befördern und auch einfordern, wie beispielsweise die verdachts- und ereignisunabhängigen Kontrollen, die sogenannten „gefährlichen Orte“, die Kriminalisierung von Migration und Gewalt in der Institution Polizei produziert werden und wie diese andererseits dann in Verschränkung mit anderen Institutionen, wie mit der Justiz, und auch gesellschaftlich wirken.
Nehmen wir das Beispiel Gentrifizierung. Auch hier sehen wir, dass gewisse Gruppen die Polizei rufen, weil ein Viertel „sicherer“ werden soll. Das heißt, Polizei agiert nie alleine; Polizei ist immer eingebettet in gesellschaftliche und politische Kräfteverhältnisse beispielsweise um allgemeine wie subjektive Sicherheit. Das heißt, auf eine gewisse Art und Weise sind wir alle in dieses Kräfteverhältnis von polizeilicher Kontrolle und Kriminalisierung eingebunden. Dabei geht es mir als Person, die die Polizei aus postkolonialer Perspektive analysiert, nie nur um einzelne Polizist*innen. Es geht eher um eine Form der Institutionenkritik und eine Analyse, wie diese Institution mit anderen Institutionen in der Reproduktion von Gewalt zusammenspielt. Hier ist mir auch ein Punkt zu der Frage der Unschuldigkeit wichtig, auf die wir eben schon zu sprechen gekommen sind. Abolitionistische Perspektiven kritisieren nicht bloß die Kontrolle von „Unschuldigen“, sondern die Praxis des Kontrollierens selbst. Wenn beispielsweise Personen, die illegalisiert sind, in illegalisierte Ökonomien gedrängt werden oder wenn illegalisierte Personen im Rahmen einer Migrationskontrolle angehalten und vielleicht sogar verhaftet werden, dann geht es darum, die gesellschaftlichen Verhältnisse und Prozesse der Kriminalisierung zu kritisieren, anstatt nur auf der Ebene der „Unschuldigkeit“ zu bleiben. Ruth Wilson Gilmore (2007) beschreibt das „Problem der Unschuld“ als selbst der karzeralen Logik verhaftet.
Ich möchte noch einen weiteren Punkt ansprechen, für den Race eine ganz wesentliche Rolle spielt: Amina Mama hat schon 1993 in einer intersektional angelegten Arbeit über die Erfahrung armer und migrantischer Schwarzer Frauen mit der Polizei in Großbritannien geschrieben (Mama 1993). Sie zeigt, wie grundlegend die intersektionale Dimension ist, denn Kriminalisierung durch Polizei (als Methode des racial capitalism) und Gesellschaft ist nicht nur vom Rassismus geprägt, sondern ebenso von dessen Verschränkung mit Vergeschlechtlichung, sozioökonomischer Prekarisierung, Migrationsstatus, Colourism. Auch in Deutschland sind die meisten, die im Zusammenhang mit Polizeieinsätzen zu Tode gekommen sind, „dark skinned“. Betroffen sind Schwarze Menschen, die sozioökonomisch deprivilegiert waren, oft eine Migrations- oder Fluchtgeschichte hatten. „Mental health“ spielt hier auch eine große Rolle, beispielsweise werden Menschen mit psychischen Vulnerabilitäten, wenn sie migrantisch oder Schwarz sind, weniger als schutzbedürftig gesehen und eher als Gefahr, die es zu „bändigen“ gilt, die Fälle um Christy Schwundeck oder auch Mohamed Idrissi20 und William Tonou-Mbobda zeigen das. Zudem sind auch Sexarbeiter*innen, illegalisierte Menschen von polizeilichen Kontrollen massiv betroffen. Wir müssen die Analyse polizeilicher Kontrollen daher viel mehr weiten und intersektional angehen, das haben viele schwarze Feminist*innen bereits in den 1990er-Jahren thematisiert.
Linda Supik: Du hast einmal in einem Vortrag oder einem Gespräch auf ein Muster hingewiesen, nämlich dass Schwarze Frauen auch in ihrem eigenen Zuhause von Polizeigewalt betroffen sind. Habe ich das richtig verstanden?
Vanessa E. Thompson: Ja. Mit einer intersektionalen Analyse des Polizierens als Methode des rassifizierten vergeschlechtlichten Kapitalismus geht meines Erachtens auch einher, dass wir den Blick nicht nur auf den vermeintlich öffentlichen Raum fokussieren, sondern auch auf den sogenannten privaten Bereich und semi-öffentliche Räume. Christy Schwundeck zum Beispiel ist in einem Jobcenter erschossen worden. Ich plädiere dafür, den Blick auch auf den sogenannten häuslichen Raum zu lenken. Wir kennen die vor allem feministische Kritik an der Trennung zwischen dem öffentlichen und dem vermeintlich privaten Raum. Sie bestätigt sich mit dem Tod von Breonna Taylor in den USA oder von N’deye Mareame Sarr in Deutschland. Im März 2020 ist Breonna Taylor in ihrem eigenen Zuhause durch eine polizeiliche Intervention zu Tode gekommen, nämlich erschossen worden. N’deye Mareame Sarr starb im Juli 2001 nicht in ihrem eigenen Zuhause, aber in dem ihres Ex-Mannes, wo sie ihren Sohn abholen wollte. Der Blick auf den vermeintlich privaten Raum ist wichtig für eine intersektionale Analyse, sonst gehen uns nämlich die vergeschlechtlichten Dimensionen dieser Form von Gewalt verloren. Ähnliches gilt für Bordelle oder andere Räume des Prostitutionsgewerbes. Andrea Ritchie macht eine ganz wichtige, auch intersektionale Arbeit zum Polizieren und wir wissen aus ihrer Analyse „Invisible No More“ (Ritchie 2017) zu den USA, und von Robyn Maynards (2017) zu Kanada, dass gerade auch Sexarbeiter*innen of Colour polizeiliche Gewalt gepaart mit sexualisierter Gewalt erfahren. Und hier sind wir wieder bei der Zugriffsdimension auf den Körper, den Körper Schwarzer Frauen und nicht-binärer Personen. Für Deutschland gibt es noch keine Studien, aber hier üben selbst organisierte Sexarbeiter*innenkollektive auch eine dezidierte Kritik zum Beispiel an Razzien und Arten des Polizierens, die Sexarbeiter*innen eigentlich noch vulnerabler machen. Hier liegt einiges an wichtigen Analysen, Studien und Forschung vor uns. Insbesondere eine intersektionale Analyse gibt uns die nötigen Tools, um die Verschränkung von Gewalt in den Blick nhemen zu können. Ich habe das jetzt erst einmal nur am Beispiel der Erschießungen von Christy Schwundeck und N’deye Mareame Sarr aufgezeigt, an denen sich schon zeigt, dass mit dem Blick auf Gender auch einhergeht, sich in unserer Analyse auch andere Räume anzuschauen. Zugleich erlaubt eine intersektionale Analyse die Verschränkung von Institutionen in den Blick zu nehmen.
5 Wer wird eine Universität nur zum Saubermachen von innen sehen?
Linda Supik: Ich würde gerne noch auf Wissens- und Bildungsinstitutionen zu sprechen kommen. Mich interessiert gerade die Hochschule als Bildungsort, aber auch als Ort der Wissenschaft. Das ist eine andere Art von Institution und du hast sie mal in einem deiner Aufsätze als „Haus des Masters“ oder „des Herrn“ – so muss man es, glaube ich, übersetzen – beschrieben (Thompson und Vorbrugg 2017). Also nach dem Zitat von Audre Lorde: „The master’s tools will never dismantle the master’s house“ (Lorde 1983). Habe ich die darin enthaltene Wissenschaftskritik, dass wir, indem wir Wissenschaft betreiben, wahrscheinlich nur die immer gleichen Instrumente benutzen und an dem hegemonialen System und an dem Macht-Wissens-Komplex nichts ändern werden, richtig verstanden?
Vanessa E. Thompson: Kommt darauf an, wie wir sie betreiben. Dieser Satz von Lorde wird ja sehr ambivalent diskutiert und Alexander Vorbrugg und ich haben in unserem Text versucht, dieser Ambivalenz gerecht zu werden (Thompson und Vorbrugg 2017). Einerseits ist eine Bildungsinstitution mit ihrem Bildungsauftrag, aber auch mit der Möglichkeit zu lehren, zu forschen, Wissen weiterzugeben, gemeinsam Wissen zu produzieren und zu lernen, das auszuhandeln, zu diskutieren, natürlich eine ermöglichende Institution. Gleichzeitig wissen wir aus der Geschichte – darauf haben schon zum Beispiel Stuart Hall, Sylvia Wynter und Edward Said hingewiesen (Hall 1994; Wynter 1994, 2003, 2015, 2016; Said 1981) –, dass koloniale Projekte immer auch Wissensprojekte waren und moderne Universitäten bürgerliche Institutionen, oft zur Reproduktion von gesellschaftlichen Verhältnissen statt ihrer Veränderung. Und die koloniale Dimension finden wir eigentlich bei jeder universitären Disziplin: Die Soziologie, die sich vielfach urbane, verarmte Gruppen angeschaut hat, oft auch rassifizierte Gruppen, und damit eine Produktion von Wissen über die anderen betrieb. Anthropologie: eine ganz starke Verknüpfung zu kolonialer Expansion. Medizin: Vermessen von Körpern und testen; erst kürzlich kam in Frankreich von zwei Medizinern wieder der Verweis auf, dass man Impfstoffe ja in „Afrika“ testen könne. Geografie: Vermessen von Räumen entlang kolonialer Kontinuitäten. Egal welche Disziplin wir uns suchen, es gibt eine koloniale Kontinuität in diesen Disziplinen. In Deutschland natürlich auch stark in Bezug auf den Nationalsozialismus. Ich finde es wichtig, erst einmal zu verstehen, dass die Universität kein machtfreier Raum ist, sondern ein historisch vermachteter Raum, der gleichzeitig, wie Pierre Bourdieu (1988) und andere gezeigt haben, auch soziale Ungleichheiten reproduziert. Deswegen sollten wir uns diese Institutionen kritisch anschauen und herausarbeiten, wie ihre jeweiligen Ausschluss- und Ungleichheitsprozesse auf epistemischer, struktureller, institutioneller und interpersoneller Ebene verlaufen. Und das natürlich auch intersektional. Da stimme ich den Leuten zu, die fordern, die Hochschule zu dekolonisieren. Aber da ist natürlich die Frage: Was heißt dekolonisieren? Es bedeutet ja nicht, dass wir alle Curricula ändern. Sondern wir müssen uns fragen, was es eigentlich heißt, mit dem Wissen umzugehen. Wir müssen Immanuel Kant und viele andere, die per se als aufklärerisch und zivilisatorisch proklamiert werden, befragen, herausfordern, indem wir alternative Wissensbestände ernst nehmen und indem wir uns auch an die Gewaltformation in diesen Arbeiten, wie den Rassismus, herantrauen. Aber eben auch alternative Wissensformen nicht einfach inkludieren, sondern lernen, von den Rändern aus zu denken, scheint mir auf der Ebene der Wissensproduktion ganz wichtig. Ebenso sollten wir uns anschauen, inwieweit diese Institution eigentlich intersektionale Ungleichheiten und gesellschaftliche Verhältnisse re-produziert. Dekolonisierung ist immer auch, aber eben bei Weitem nicht nur eine Frage von Wissensproduktion. Fanon hat darauf verwiesen, dass Universitäten koloniale Eliten bilden, und Walter Rodney (2019) hat von kritischen Wissenschaftler*innen gefordert, „Guerilla Intellectuals“ zu werden und sich in Verbindung zu sozialen Bewegungen und gesellschaftlicher Transformation zu denken. Die Universität ist als Teil der bürgerlichen Gesellschaft auch eingebunden in die Reproduktion von Stratifizierung. Wer wird eine Universität nie von innen sehen oder vielleicht nur zum Saubermachen? Und was hat das auch mit der Ungleichheitsproduktion durch Universitäten zu tun, besonders im Rahmen der unternehmerischen Universität? Zudem spielt natürlich die Universität und ihre Komplizenschaft mit Migrationsregimen und karzeralen Systemen eine Rolle, das zeigen abolitionistische Perspektiven.
In unserem Artikel haben wir versucht, den Ansatz von Audre Lorde so zu mobilisieren. Sie gibt uns an die Hand, dass einerseits die Uni ein Raum ist, in dem wir diese Kritik äußern können, der andererseits aber stets neu erkämpft und ausgehandelt werden muss. Wir haben es zunehmend mit der unternehmerischen Hochschule zu tun, wo sich sowieso noch einmal die Frage stellt, wie wir Kritik da eigentlich noch positionieren können. Welche Freiräume haben wir in einer solch unternehmerischen Universität, die auch von der Prekarität lebt? Also das heißt, diese Möglichkeit der kritischen Reflektion auf diese Institution selber muss stets erkämpft und ausgehandelt werden. Die Frage ist nur, mit welchem Werkzeugkasten tun wir das? Tun wir das nur mit den Methodologien, den Fragestellungen, den Ideen und der Ideengeschichte, die Teil ist der kolonialen Konfiguration? Oder tun wir das auch mit den Wissensbeständen, die das koloniale Projekt befragt und herausgefordert haben, und weiteren emanzipatorischen Archiven und Wissensbeständen? Nikita Dhawan (2014) hat mit Bezug auf Lordes Ansatz diskutiert, dass wir uns die Tools auch aneignen können, um etwas anderes damit zu machen, das „master’s house“ zu „dismantlen“. Sie denkt da mit Gayatri Chakravorty Spivak und Lorde. Und wenn wir uns beispielsweise die Arbeiten von Fanon oder Wynter anschauen, sehen wir, dass dies bis zu einem gewissen Grad auch geht. Gleichzeitig würde ich sagen, dass dies immer mehr umfasst als die widerständige Aneignung der „master’s tools“, die wichtige Entfremdung dieser Tools sozusagen. Und ich würde auch die Frage von „abolition“ in die Hochschuldebatte stärker mit einbeziehen. Und zwar nicht als Frage der Abschaffung von Hochschulen, sondern in Bezug auf die Frage, wie wir diese Institution radikal transformieren müssen, damit sie ein emanzipatorischer Bildungsort für alle sein kann, sie sich auch ihrer gewaltvollen Geschichte und Präsenz bewusst wird und wirklich ein Bildungsort für alle sein kann. Dafür müssen sich aber Kämpfe um die Dekolonisierung der Universität stärker mit Kämpfen außerhalb der Universität verbinden und neben Curricula und Einstellungspolitiken vor allem auch Arbeitskämpfe an der Universität verknüpfen. Die Frage der Dekolonisierung der Universität beginnt mit den migrantischen Personen, die die Universität reinigen, und dem Zurückdrängen der unternehmerischen Struktur. Das ist nötig, damit Dekolonisierung nicht zur Metapher wird. Dabei geht es auch um gewisse polizeiliche Dimensionen, weil Universitäten auch Orte sind, an denen aktiv poliziert wird. Das sehen wir in Deutschland noch nicht so deutlich, aber in den USA ist das Policing des Campus schon lange ein Thema. Es gibt dazu ein ganz wichtiges Statement von an der Uni beschäftigten Personen und Mitstreiter*innen zu „Cops off Campus“, wo Racial Profiling stattfindet.21 Ähnliches gilt für Schulen. Hier ist das Buch „Pushout“ von Monique Morris (2018) ganz wichtig, in dem sie eine feministische Kritik an der School-to-Prison-Pipeline darlegt.
Wenn wir unter diesem Blickwinkel auf Europa, etwa England und Frankreich, gucken, so findet das Polizieren von Bildungsinstitutionen, in Bildungsinstitutionen unter anderen Bedingungen und mit anderen Rationalitäten statt. Es ist aber nicht so, dass es polizeiliche Dynamiken oder eine Zusammenarbeit zwischen Bildungsinstitutionen und Bestrafungsinstitutionen nicht auch in europäischen Kontexten gibt. Denken wir nur an Abschiebungen, für die Kinder aus den Schulen geholt werden, oder die Zusammenarbeit zwischen Schule und Polizei. Beispielsweise bekam ein Berliner Erstklässler im Herbst 2019 wegen einem Konflikt im Hort eine polizeiliche Vorladung, nachdem die Erzieherin und der Konrektor der Schule Strafanzeige gestellt hatten.22 Kontinentaleuropäische Bildungssysteme sind anders vermachtet als zum Beispiel in Nordamerika oder auch in England und funktionieren komplett anders. Es ist dennoch wichtig zu überlegen, wie Kriminalisierungsprozesse in Bezug auf die Wissensproduktion, aber auch in Bezug auf das Zusammenspielen von Institutionen funktionieren.
Linda Supik: Arbeiten die sozialen Bewegungen, von denen du nun berichtet hast, mit Ansätzen des Carings statt des Policings an einer inklusiveren Gesellschaft, in der Gewalt, auch staatliche Gewalt, weniger Raum hat, weil sie nicht mehr gebraucht wird? Und lässt sich dieser Aktivismus vielleicht als ein Kampf um Bürger*innenrechte beschreiben, als eine Bürgerrechtsbewegung, und in dem Sinne mit einem Begriff von Inclusive Citizenship arbeiten?
Vanessa E. Thompson: Ich denke, wir müssen über Inclusive Citizenship hinausgehen. Vielen der Kämpfe, die ich hier beschrieben habe, geht es nicht um eine inklusivere Gesellschaft, sondern um eine Gesellschaft „otherwise“. Inklusion und Integration sind doch selbst noch Teil der liberalen Logik, das wissen wir seit den Kämpfen um Bürger*innenrechte. Dabei haben sich neben einigen Erfolgen vor allem auch Stratifizierungen gezeigt. In den USA hat sich vor dem Hintergrund des „Civil Rights Movements“ auch weiter eine Schwarze Mittelklasse herausgebildet, radikale Forderungen wurden inkorporiert und radikale Teile der Bewegungen entweder erschossen oder eingesperrt. Gleichzeitig hat sich für die Schwarze armen Menschen nicht viel verändert, viele verlieren sogar wieder das Wahlrecht durch die Wirkweisen des gefängnisindustriellen Komplexes, leben nach wie vor in Armut, müssen Polizeigewalt erleiden, schlechte bis gar keine Gesundheitsversorgung, Zugang zu Bildung etc. Es kann nicht einfach nur um ein „bunteres“ Weitermachen gehen. Ich denke, wir brauchen politische Konzepte, die nicht auf Inklusion abzielen, sondern auf radikale Transformation. Das gilt auch für bestimmte Ansätze zu Dekolonisierung im hiesigen Kontext, gerade da, wo auch die Frage der Repräsentation im Vordergrund steht. Das heißt natürlich nicht, dass Personen nicht für Aufenthalt, Legalisierung von geflüchteten Personen etc. einstehen sollten, im Gegenteil. Ich denke nur, dass der Kampf um Bürger*innenrechte nicht ausreichen wird, weil Bürger*innenrechte dem liberalen Versprechen von Inklusion und dem liberalen Versprechen von Demokratie verhaftet bleiben und damit auch gewaltvolle Konsequenzen mit sich bringen. Gerade radikale queere Theoretiker*innen und Aktivist*innen haben aufgezeigt, dass liberale Forderungen der Inklusion auch mörderische Konsequenzen haben für einen Großteil queerer armer Menschen zum Beispiel und zudem die Politiken verschieben hin zu einer „murderous inclusion“ (Haritaworn et al. 2013). Inklusion und Citizenship sind auch gewaltförmige Formationen. Rinaldo Walcott (2021) hat darauf verwiesen, dass wir, gerade auch vor dem Hintergrund der Klimakatastrophe, die vielen Menschen im globalen Süden die Lebensgrundlage zerstört, etwas radikal anderes brauchen als eine reformistische Rhetorik der Inklusion und die gewaltvolle Kategorie Citizenship, die immer auch gewaltvolle Ausschlüsse produziert. Oder anders gesagt: Trauen wir uns eine Welt zu imaginieren, die Citizenship nicht braucht.