Kapitel 29
Iron
A lles verläuft nach Plan. Genau so, wie es abgesprochen war.
Hinter den Müllcontainern, um die Kinder lungern, die längst zu Hause sein sollten, parke ich meine Maschine und schaue zu den neongrünen grässlichen Buchstaben, die sich in meine Netzhaut einbrennen. Ein widerlicher Gestank von abgestandenen Müllbergen, Pisse und Rattenkot drängt sich meiner Nase auf.
Ein Mädchen, nicht älter als acht Jahre, das um die Hausecke zu mir blickt, weckt plötzlich meine Aufmerksamkeit. Es hat dieselben neugierigen Augen wie Lilith. Diesen wissbegierigen aufgeweckten Blick, auch wenn es in einem verschmutzten Kleid und wild abstehenden dunklen Haaren längst bei seinen Eltern sein sollte.
»Möchtest du dir etwas dazuverdienen?«, frage ich sie und nehme den Helm ab. Sofort schüttelt sie scheu den Kopf, da ich vermutlich wie der schleimige Nachbar von gegenüber klinge, der das Kind mit ein paar Scheinen oder Süßigkeiten in seinen Keller locken will.
»Okay, wir machen es so.« Ich steige von meiner Kawasaki, setze den Helm ab und lege ihn auf dem Tank ab. »Wenn ich zurückkomme und du noch da bist, bekommst du zwanzig Dollar. So lange brauche ich jemanden, der auf mein Motorrad aufpasst. Verstehst du das?«
Sie umklammert die alte Holzpalette, die an der Hausecke anlehnt, und nickt. »Ja.«
»Wenn jemand kommt, pfeifst du zweimal und rennst weg.«
Wieder nickt sie. Als ich ihr ein Lächeln schenke, aber sie mich nur ehrfürchtig anstarrt, wende ich mich von ihr ab.
»Wie … wie lang wirst du weg sein?«, fragt sie mich schüchtern mit dünner Stimme.
Berechtigte Frage. Vermutlich weiß sie, welchen Club ich betreten werde. Den Club, aus dem das Stöhnen der Nutten bis hierher zu hören ist. »Nur ein paar Minuten. Höchstens zwanzig Minuten.«
»Okay. Ich warte hier.« Ihr Blick fällt ebenfalls auf das Haus, bevor sie sich um die Ecke schiebt und auf den Stufen eines halb verlassenen Gebäudes Platz nimmt. Sie zerrt das Kleid weit über ihre angewinkelten Knie und starrt von dem Motorrad zu dem Bordell.
»Arme Kleine«, murmele ich mit einem mitfühlenden Blick. Ihre Mutter arbeitet dort drin, und sie wartet auf sie.
Ich gehe in meiner dunklen Kleidung auf das Gebäude zu und ziehe meine Kapuze locker über den Kopf. Aus den Augenwinkeln behalte ich die Straße im Blick.
Sie dürften jeden Moment eintreffen, wenn alles reibungslos verläuft. Als ich einen Blick über die Schulter werfe, sehe ich das Kind immer noch auf den Stufen kauern. Ich biege um die Hausecke und überquere die Straße mit lockeren Laufschritten. Mittlerweile kann ich meinen Arm fast wieder einwandfrei bewegen, auch wenn ich hin und wieder Schmerzen habe. Schwer heben ist verboten und den Arm belasten auch. Aber was interessiert es mich schon, wenn ich ganz andere Probleme habe.
Neben dem Club mit den rot beleuchteten Fenstern und ohrenbetäubend lauter Musik spazieren vier herausgeputzte Frauen in knapper glitzernder Unterwäsche und Heels auf mich zu.
Ach Scheiße. Diese Weiber wissen sofort, wer Geld hat und wer nicht. Auf ihren hohen Hacken, die Nase voll Schnee, um hellwach auf ihrer Arbeit zu sein, wird die eine Kubanerin sofort aufdringlich und greift nach meiner Schulter.
»Hey, Hübscher … willst du nicht reinkommen und deine Kapuze abnehmen?«
»Willst du Stress mit den Terequeraz oder deine Klappe halten?«, kontere ich und funkele ihr unter der Kapuze böse entgegen. Sie zischt und weicht vor mir zurück, als hätte ich Lepra.
»Schon gut. Sag Alessio nichts«, amüsiert sich die andere dünne Hure mit gefärbter rosa Mähne in ihrer Fellweste und goldener Panty.
Vor mir rasen zwei Motorräder hinter einem Wagen her. Während die Prostituierten im Club rauchend verschwinden, folge ich ihnen, überlege es mir anders und leihe mir doch kurz die zurückhaltendere der vier aus. Im Club schnappe ich ihren Oberarm.
»Warte kurz.« Das Mädchen mit einem schwarzen Bob und künstlichen Wimpern dreht sich zu mir. »Wo ist der ruhigste Platz in dem Club, von dem aus wir alles sehen können, während wir uns amüsieren?«, flüstere ich ihr ins Ohr und nehme die Kapuze ab.
»Dort oben.« Sie deutet mit ihrem dunkelblauen Fingernagel auf eine Galerie über dem Hauptsaal, der bereits gut besucht ist.
»Ich führe dich gern nach oben, aber erst, wenn ich mir sicher bin, dass auch wirklich etwas für mich rausspringt.«
Sie umfasst meinen rechten Arm, schmiegt sich an ihn und schaut mit ihren asiatisch großen Augen zu mir auf. Ich grinse knapp, ziehe zwei Scheine aus der Jackentasche und reiche ihr vierzig Dollar. »Dafür will ich etwas sehen.«
»Wirst du. Folge mir.« Sie umfasst meine Hand und führt mich an Käfigen und Podesten vorbei, auf denen halb nackte Frauen tanzen, zu einer Wendeltreppe hoch. Obwohl ich den Club nach einer verdächtigen Person absuche, entdecke ich keine, auch nicht Liliths Vater, der hier irgendwo sein muss. Er vögelt immer mit Frauen in diesem Club, was kein Geheimnis ist.
Auf der schwarzen halbrunden Couch angekommen, fragt sie mich nach meinem Getränkewunsch.
»Wie heißt du?«, will ich wissen, lasse mich auf das Polster sinken, weil die zwei Frauen, auf die ich gewartet habe, den Club betreten, und schaue zu der Asiatin auf.
»Skylar.«
»Nun, Skylar, ich verzichte vorerst auf ein Getränk. Du könntest mir anderweitig behilflich sein.«
»Ah, ich verstehe.« Unvermittelt kniet sie sich in ihren schwarzen engen Shorts zu mir und beugt sich vor. Aus ihrem goldenen BH springen mir ihre Titten sofort ins Gesicht, wie auch ihr rechtes Handgelenk, auf dem ich einen Code sehe.
Als sich ihre Hand auf meinen Reißverschluss zubewegt und sie den Versuch startet, mich zu küssen, schiebe ich sie vorsichtig von mir.
»Nicht so«, sage ich und richte mich wieder auf. Aus der Innentasche der Jacke will ich mein Handy hervorholen, als ihre Finger über meinen Oberschenkel zu meinem Schwanz wandern.
»Kleine, lass den Schwachsinn. Wenn ich dich wirklich fürs Ficken bezahlt hätte, würdest du wissen, was ich will. Ich will dich nicht vögeln. Du sollst mir helfen, diesen Mann hier zu finden.«
Sprachlos von meiner nicht ganz so netten Zurückweisung richtet sie sich auf den Knien auf und schaut auf das Display. Dabei schaukeln ihre schweren Ohrringe mit den künstlichen Fakesteinen knapp über ihrer Schulter hin und her. »Ich kenne ihn. Er ist regelmäßig da.«
»Hast du ihn heute gesehen?«, frage ich sie eindringlicher und setze mich auf.
»Nein, heute noch nicht. Ich war vorhin kurz draußen. Gut möglich, dass er in der Zwischenzeit gekommen ist.« Ich fahre mir übers Gesicht und schaue durch das Geländer in den Hauptraum des Clubs.
Dummerweise kann ich beide Frauen nicht mehr im Hauptraum entdecken, weder an der Bar noch in einer der Sitznischen. Dafür sehe ich neben uns, wie es ein Freier nicht erwarten kann und sich von einer Hure angekleidet reiten lässt.
»Du kannst es dir anders überlegen«, bietet mir Skylar an und schaut von dem Paar zu mir. Ich grinse schief.
»Das muss ich nicht. Ich habe eine Frau, die ich liebe. Du hast mir sehr geholfen und kannst gehen.«
Skylar lächelt und beugt sich zu mir vor, um mir einen Kuss auf die Wange zu hauchen, als in dem Moment Lilith die Galerie betritt.
Verdammte Scheiße! Es ist offensichtlich, dass sie jeden Kerl genauer ansieht, um ihren Vater zu finden. In dem Moment entdeckt mich Saskia vor ihr und macht große Augen. Ich deute ihr ein Zeichen an, sie schnellstmöglich abzulenken.
»Äh, ich glaube, dort vorn sollten wir nachsehen.« Sie legt ihren Arm um Liliths Schulter und schiebt sie Richtung Privaträume. ¡¿Cómo?! Ist sie nicht ganz dicht?
»Sorry, steig von mir runter.« Ich schubse Skylar von mir, die den Moment genutzt hat und mir an die Wäsche ging.
»Ich will auch, dass mich jemand liebt.«
»Das wollen wir alle«, bringe ich trocken über die Lippen, erhebe mich und verlasse die Galerie. Im Gehen tippe ich eine Nachricht ins Handy.
Kommt sofort zurück!
Iron
Bist du denn endlich deine Neue losgeworden?
Saskia
Ich verdrehe die Augen, tippe die nächste Nachricht ein und pralle mit der Schulter gegen einen Mann. Einen Mann, dem ich erst jetzt Beachtung schenke und der Liliths Vater ist.
Ich muss zweimal hinsehen, um das Stück Dreck wiederzuerkennen, dessen Gesicht aufgedunsen ist und dessen Augen selbst im Partylicht gelb wirken. Sein Haar ist grau meliert, seine Erscheinung ungepflegt und versoffen.
»Wo zum Teufel ist meine Begrüßung!«, brüllt er herum und streckt die Arme in seinem kurzärmeligen Hemd aus, um zwei Mädchen zu begrabschen. »Da seid ihr ja, meine Mädchen.«
Ich kneife die Augen zusammen, schicke anschließend Saskia eine Nachricht, dass ich ihn gefunden habe, und ziehe mich tiefer an der Bar zurück, um alles im Auge zu behalten.
Hoffentlich bekommt sie es hin und knickt nicht ein. An der Bar bestelle ich ein Wasser und beobachte die Szene vom Hocker aus unauffällig.