M
ir bleibt die Möglichkeit, endlich mit allem abzuschließen und unterzutauchen oder aber mich den Problemen zu stellen und ein für alle Mal aufzuräumen.
Sosehr ich meinen Bruder liebe, so sehr hasse ich ihn dafür, die Frau zu wollen, die mir gehört. Aus diesem Grund sind wir getrennte Wege gegangen. Ich habe ihn aus dem Knast freigekauft und ihm ein großzügiges Startkapital hinterlassen, um einen Neuanfang zu wagen. Doch alles, was er getan hat, war, sich eine Gang aufzubauen und sich anschließend Lilith zu schnappen, nachdem sie seinen Leuten im Kiosk vor die Füße fiel.
Als der Rangerover in einem rasanten Tempo auf das Industriegebiet zuhält, schließe ich weiterhin in großen Abständen die Augen. So viele Gefühle durchrauschen gleichzeitig meinen Körper. Von Hass bis Angst, Hilflosigkeit, Wut und Trauer ist alles dabei.
Als der Wagen stoppt, höre ich wie aus weiter Entfernung, wie Aramis den Fahrer vorausschickt.
»Wie soll ich beginnen …«, höre ich Aramis sprechen, als er sein Gesicht zu mir dreht.
»Gar nicht. Wenn du auch bloß ein weiteres Wort sprichst, glaub mir, bringe ich dich um.« Ich greife zum Türöffner und steige aus dem Geländewagen. Einerseits würde ich ihn tot sehen wollen, andererseits verdankt Lilith ihm ihr Leben. Wäre er nicht gewesen, läge sie im Sarg und ich hätte Elians Lügen geschluckt. Ohne mich zu ihm umzudrehen, gehe ich auf die Rennmaschinen in der Halle zu, sehe Liliths Suzuki stehen, die sie sicher von ihm erhalten hat.
»Lass uns über alles reden. Es war schon immer deine Art, davonzulaufen, aber …« Weiterhin verfolgt er mich, ohne zu merken, wann er mich in Ruhe lassen sollte.
Seine Leute schauen mir misstrauisch entgegen, die ihre Hände um ihre Waffen legen, um jederzeit den Abzug drücken zu können.
»Kein Aber!«, antworte ich scharf und drehe mich zu ihm um. Ruppig schnappe ich mir seinen Parka und zerre ihn zu mir. »Du konntest mich lang genug täuschen.«
»Du mich ebenfalls!«, kontert er, ohne Furcht zu zeigen. »Ich war seit Jahren auf der Suche nach dir.«
»Wirklich?« Feindselig kneife ich die Augen zusammen und schaue ihm entgegen. »Weil du Lilith zurückgeschickt hast, du Miró in deine Reihen aufgenommen hast, wurde sie gefoltert.«
»Und wo warst du! Such die Schuld nicht immer bei anderen. Als ich sie zurückbrachte, ging ich davon aus, dass der große Iron auf sie aufpasst. Woher hätte ich wissen sollen, dass du sie nicht beschützen kannst.«
»Halt dein Maul!«, knurre ich, gebe ihn frei und verpasse ihm einen Faustschlag ins Gesicht. Keuchend und sein Gesicht haltend taumelt er zurück, ohne seine Totenkopfmaske abzusetzen. »Wenn du weißt, wie wichtig sie mir ist, warum lässt du nicht endlich deine Finger von ihr! Du nutzt jede Gelegenheit, um sie für dich zu gewinnen!«
Sofort umzingeln mich mindestens sieben Muerte Negra, die ihre Waffen anlegen. Zero weicht tief knurrend zurück und hebt die rechte Hand.
»Nicht schießen, lasst uns allein.« Als sich keiner rührt, wird er lauter: »Jetzt macht schon!«
Eher unfreiwillig treten sie von uns zurück.
»Mutig, dass du dich nicht länger hinter deinen Männern versteckst.« Ich reibe meine Fingerknöchel, als ich erneut auf ihn zugehe. »Sag schon, wie war es, die Oberhand zu haben? Wie hat es sich angefühlt, jemandem das wegzunehmen, was einem nicht gehört!«
»Ich … wollte sie testen. Wissen, ob sie dich wirklich verdient und dich immer noch will. Sie war damals einfach weg, du bist … vollkommen durchgedreht. Elian und ich haben …«
Zornig blicke ich auf ihn hinab, als er Elians Namen erwähnt und ich endlich eins und eins zusammenzählen kann.
»Ihr?« Sie haben gemeinsam beschlossen, mir von Liliths Flucht zu erzählen, anstatt mir zu sagen, was wirklich vorgefallen ist.
»Es war ein schwerwiegender Fehler. Aber nach all den Jahren konnte ich dir unmöglich davon erzählen. Außerdem war sie lange Zeit von der Bildfläche verschwunden.« Langsam erhebt er sich, keucht und kneift die Augen unter seiner Maske zusammen. »Weil sie ausgefallen ist, habe ich das Risiko in Kauf genommen und die Ware selbst über die Grenzen bringen wollen …«
»Ich weiß und dabei hast du mehrere Leute umgelegt. Dass du und Elian gemeinsame Sache gemacht habt …« Wütend knurre ich und wende mich von ihm ab.
»Ich verlange nicht, dass du mir verzeihst, aber einsiehst, dass wir es nicht grundlos getan haben.«
Ich schnaube verächtlich. »Ja, richtig. Ihr wusstet schon immer besser, was gut für mich ist. Deswegen hast du sie gekidnappt und für deine Zwecke missbraucht! Wie war es mit ihr? Hast du nun deine Antworten bekommen?«
Schnell fahre ich zu ihm herum und sehe ihn direkt vor mir stehen. »Ja, die habe ich. Aus dem Grund habe ich sie aus der Organisation entlassen und zurückgeschickt. Sie liebt dich, und das schon immer. Selbst Elian hat es gemerkt, ansonsten hätte er sie nicht lebend aus dem Plaza gehen lassen.« Er ist verdammt gut informiert. »Ich dachte, sie wäre in deinem Haus in Sicherheit. Wie geht es ihr?«
Plötzlich wirkt sein Blick besorgt. Ich erkenne dieselbe krankhafte Sorge um sie, wie ich sie spüre und die mich kaum frei atmen lässt. Meine Mundwinkel zucken, bevor ich das Gesicht senke und aufgewühlt durch mein Haar fahre.
»Wie wohl … Sie waren dabei, sie wiederzubeleben, als sie in den OP gebracht wurde.« Langsam sinke ich in die Hocke und wische über mein Gesicht. »Sie könnte längst tot sein, während wir uns sinnlos streiten … Trotzdem konnte ich nicht dableiben.«
»Weil du wie sie immer vor allem davonrennst und die Dinge mit dir ausmachst. Bleib hier. Das gesamte Land sucht dich. Selbst Elians Gebäude werden bald durchsucht werden«, spricht er leise zu mir und geht ebenfalls in die Knie. »Du bist nirgendwo sicher.«
»Bei dir schon?«, bringe ich spöttisch über die Lippen. Als ich in sein Gesicht blicke, von dem ich nur seine Augen erkenne, sehe ich seine Bedenken.
»Du willst mich vielleicht tot sehen, Juan, aber ich wollte das nie. Wenn du dich wegen allem wieder aufgibst, schwöre ich dir, werde ich weiterhin verhindern, dass du ausgeliefert wirst. Du weißt, wie die Gefängnisse sind.«
Er noch besser als ich. »Bleib hier, bis alles vorbei ist«, bietet er mir mit vertrauenswürdiger Stimme an. »Lass mich dir helfen und mich bei dir revanchieren.«
Mein Blick wandert von meinem Bruder zu seinen Leuten, die uns weiterhin aus sicherer Distanz beobachten. Er hat sich ein ebenso sicheres System aufgebaut wie Elian und ich und ist womöglich in der Lage, mich lange Zeit verstecken zu können, trotzdem kann ich nicht bleiben.
»Nein. Gib mir eine Maschine und lass es mich zu Ende bringen.«
Skeptisch kneift er die Augen zusammen. »Wie willst du es zu Ende bringen? Fliehen?«
»Verschwinden, das, was ich am besten kann. Wenn du mir wirklich helfen willst, dann leih mir ein Motorrad.«
Ich höre ihn tief durchatmen. Er kennt mich lang genug. Er wird mich nicht von meinem Vorhaben abbringen. Ich habe jedoch eine Idee, um allem zu entkommen und Lilith mitzunehmen, sobald sie wieder gesund ist. Nur gerade kann ich nicht in ihrer Nähe sein, ohne geschnappt zu werden. Denn Miró ist es gelungen, mein Ansehen nachhaltig anzukratzen. Ich werde immer der gesuchte Serienkiller sein, der nachweislich einen Mann auf offener Straße abgeknallt hat.
Mich in einer Industriehalle verkriechen? Nein. Selbst wenn mir die Terequeraz und die Muerte Negra ihren Schutz anbieten und alles Mögliche tun, um mich zu verstecken, sie werden mich irgendwann kriegen. Und das Risiko gehe ich nicht ein. Nicht, wenn Lilith überleben sollte.
Er seufzt, bevor er nach einem seiner maskierten Männer schnippt. »Bringt die Schlüssel, die in Liliths Jacke gefunden worden sind.«
Ein Typ setzt sich in Bewegung, während ich die Augenbrauen zusammenziehe.
»Was?«, fragt Aramis. »Lilith hat deine Maschine aus dem Feld gezogen und sie zu deinem Unterschlupf gefahren, wobei sie von einem meiner Leute beobachtet wurde.«
Als ihm die Motorradschlüssel gebracht werden, reicht er sie direkt an mich weiter. »Ich dachte mir, dass du sie wiederhaben möchtest. Ich weiß, wie sehr du an deinen Motorrädern hängst.«
Er legt die Schlüssel in meine Hand. »Bring es zu Ende, aber bleib am Leben. Versprich es mir.«
»Wirst du mir zuvor auch einen Chip implantieren?«, frage ich zynisch, schließe die Finger um die Schlüssel und grinse knapp.
»Keine Sorge, ich weiß, wo Lilith ist.« Obwohl er seine Maske trägt, entgeht mir nicht das dunkle Funkeln in seinen Augen.
Ich nicke, erhebe mich und finde weiter abseits stehend meine Ninja vor, deren Schäden vom Unfall behoben worden sind, da ich keinen Kratzer beim flüchtigen Anschauen entdecken kann.
Selbst mein Helm ruht auf dem Tank, den ich schnappe und aufsetze. Als ich mich auf meine Maschine setze, reicht er mir eine Pistole.
Ich nehme sie, prüfe das Magazin und nicke mit dem Helm auf dem Kopf. »Falls du es dir anders überlegst …«
»Werde ich nicht«, unterbreche ich ihn. »Ich kann dir noch nicht verzeihen. Nicht nach allem, was vorgefallen ist. Aber irgendwann … vielleicht.«
Er nickt, weicht anschließend einige Schritte von der Maschine zurück und wartet, bis ich sie gestartet habe. In seinen Augen kann ich seine Reue ablesen, auch erkennen, wie sehr er Lil liebt und dass er seine Hände nicht von ihr lassen konnte. Ihn danach fragen, ob er sie gevögelt hat, brauche ich nicht. Ich weiß es längst. Und dieser Gedanke macht mich rasend. Wenn ich auch nur eine Minute länger in seine Augen blicken muss, könnte ich es mir anders überlegen und haltlos auf ihn einprügeln. Doch gerade habe ich andere Probleme.
Ich brauche einen neuen Unterschlupf, einen Plan und will am liebsten zu Lilith, wenn das FBI nicht das gesamte Krankenhausgelände abriegeln würde.