Kapitel 4
Die Hühnerdiebe von Trikala
(1943–1947, die Kriegszeit)
S chweißgebadet wache ich auf. Neben mir das Tagebuch mit dem Lesezeichen auf dem Nachttisch, genauso, wie ich es neben den Wecker gelegt habe. Ich schlage die Stelle, an der ich stehengeblieben war, auf, um sicherzugehen, dass ich die furchtbaren Szenen nur geträumt habe. Gott sei Dank, unsere Familie wurde verschont, es gibt nur wenige Hinweise und Seiten über die Zeit bis 1945, als hätte der Krieg nie stattgefunden.
«Die deutschen Soldaten im Dorf waren gut zu uns, Linda», beruhigt mich Chrissi am Telefon, als ich mehr über diese Jahre und Mamas ersten Kontakt mit ihrem späteren Wohnort zu erfahren versuche .
«Aber das ist doch komisch. In den Geschichtsbüchern klingt das ganz anders», hake ich nach.
«Die Soldaten waren doch ganz klapprig, nachdem sie so lange Hunger gelitten hatten. Selbst wenn sie gewollt hätten – die konnten niemandem mehr etwas tun. Jedenfalls die dürren Heringe, die bei uns stationiert waren. Haben höchstens ein paar Hühner geklaut.»
«Die haben EURE Hühner geklaut?»
«Nein, nein. Bei uns waren doch deutsche Jäger im Garten. Die haben aufgepasst.»
«Ihr hattet Jäger im Garten, Mama? Du meinst doch wahrscheinlich Feldjäger.»
«Jaja. Von einem weiß ich sogar noch den Namen: Herr Schubert. Er war gerne in Griechenland, konnte Kali Nichta sagen und noch ein paar andere Wörter. Ochi, ochi. Als er uns Kinder zum ersten Mal auf dem Hof gesehen hat, ließ er die Finger vom Hühnerstall, weil wir ja selber nichts zu essen hatten.»
«Und das war alles? Kein Feuer, keine Schüsse, keine Toten?»
«Das war alles. Er hat mit Papa noch zwei Schnaps getrunken und Jannis sein Gewehr anheben lassen, als mein großer kleiner Bruder ihn darum angebettelt hat. Aber die Waffe war zu schwer, und sie fielen beide auf den Boden, der kleine Kerl UND das Riesengewehr.»
Mama muss lachen.
«Und wie ging es weiter?»
«Dann waren die Deutschen wieder weg. Ganze nette Mensche. Wirklich! »
«Waren vielleicht noch andere Soldaten im Dorf? Italiener oder Bulgaren?» Nach Massakern und Vergewaltigungen, die die Nazis nachweislich begangen haben, traue ich mich wirklich nicht zu fragen. Als die Wehrmacht am 12. Oktober 1944 aus Griechenland abzog, hinterließ sie ein geplündertes, ausgeblutetes und zerrissenes Land. Die Nazis haben Hunderttausende Griechen ermordet oder verhungern lassen. Warum sollen sie also Mitleid mit einem kleinen Mädchen gehabt haben? Vorsichtig frage ich nach bewaffneten und brutalen Menschen.
«Kann ich mich nicht erinnern. Als die deutschen Soldaten weg waren, kamen Griechen in Uniform und haben in großen Töpfen für uns gekocht. Wir haben uns angestellt für Kartoffeln, Bohnen, Linsen, und wenn wir an der Reihe waren, unsere Näpfe befüllen zu lassen, wurden wir gefragt, wie viele wir sind. So war das.»
Die harten Folgen des Krieges, den Hunger und die bittere Armut bekam meine damals noch kleine Mama also jeden Tag zu spüren. Doch seltsamerweise sind in ihren Notizen fast nur schöne Erinnerungen zu finden. Die Kinder von Trikala machten also das Beste aus dieser schwierigen Zeit und lebten in ihrer eigenen, ebenso kleinen Welt. Sie waren den ganzen Tag an der frischen Luft, rannten herum, spielten mit alten Walnüssen auf den staubigen Straßen und gingen erst rein, wenn es so dunkel war, dass beim besten Willen keine Walnuss-Murmel mehr zu finden, geschweige denn die Hand vor den Augen zu sehen war. Sie nahmen das, was der letzte Winter und die Mäuse ihnen gelassen hatten, um damit zu spielen, weil es Murmeln schlicht nicht gab. Machte aber nix: Draußen vor der Tür fanden sie alles, was sie brauchten. Zum Beispiel ein Loch im Boden, damit die Nuss-Murmeln bei einem guten Wurf auch vom Erdboden verschluckt wurden. Der Sieger bekam alle Nüsse, die im Spiel gewesen waren, und konnte sie beim nächsten Mal einsetzen. Wenn es nicht ganz so heiß war, spielten die Jungs auch mal Fußball zwischen den Olivenbäumen. Sie waren froh, wenn sie irgendwo auf dem Weg einen alten Schuh oder Autoreifen fanden. Das Gummi schnitten sie dann mit ihren Messern in kleine Stücke, wickelten Stoffreste herum – und fertig war der Fußball. Der Pass in die Spitze war mit dem holprigen Spielgerät vielleicht nicht ganz so einfach zu schlagen, und so verschleppte sich fast jeder Angriff, aber am Ende reichte es dann doch für einen Treffer, Torjubel und Tränen.
«Lass uns noch kurz mit den Puppen spielen», schlug Jannis seiner kleinen Schwester manchmal vor, wenn er barfuß vom Bolzplatz kam. Er humpelte etwas, weil der Torwart der anderen Mannschaft kleine Kieselsteine vor sich auf dem Boden verteilt hatte, um es den gegnerischen Stürmern schwerer zu machen (als wenn ihr eiriger Ball nicht Hindernis genug war). Das machte jeden Angriff im gegnerischen Strafraum besonders schmerzhaft, aber nach dem 2:0-Triumph über Panathinaikos war ihm das völlig egal .
«Aber Jannis! Wir haben doch seit dem Feuer keine Puppen mehr!», belehrte ihn meine kleine Mama.
«Das denkst du. Aber schau nur her: Die Puppen waren beim Fußball das Publikum. Jetzt sind sie etwas müde.»
Jannis holte mit großer Geste ein paar zerknäulte Baumwollreste aus seiner Hosentasche, die der Wind nach der Ernte über die Felder verteilt hatte. Vor Chrissis Augen rollte er das grau-weiße Bündel mit der flachen Hand zu einer Wurst, holte sich einen Stift und malte zwei Augen ins Gesicht. Zu guter Letzt wickelte er der noch etwas leblosen Puppe eine alte Socke als Schleife um den Hals und wackelte damit wie bei einem Puppentheater.
«Ti kanis – wie geht es dir?», fragte er mit hoher Babystimme und näherte sich Chrissis Nasenspitze.
Chrissi strahlte über das ganze Gesicht und streckte ihre Hände nach der neuen Spielgefährtin aus. Danach drückte sie ihre neue Freundin ganz fest und kuschelte mit ihr.
«Gute Nacht, Püppi», flüsterte Jannis. «Ich fahre noch kurz in die Stadt und bringe Tantchen einen Korb Tomaten mit dem Zug.»
Jannis’ Eisenbahnwaggons, mit denen er in seinem Zimmer rangierte (er war der einzige der Geschwister mit einem eigenen Zimmer – und einem eigenen Bett), waren aus leeren Streichholzschachteln gebaut, die Papou Kostas mit einer Schnur verbunden hatte. Die Tomaten waren allerdings durchaus echt, denn alle Kinder spielten gar nicht hauptsächlich, sondern halfen meist bei der (Garten-)Arbeit: Chrissi und ihre großen Schwestern zogen Gemüse, schleppten Wasser und verarbeiteten die Ernte (meist direkt für das Abendessen). Sie vertrieben sich die Zeit unter der sengenden Sonne damit, dass sie ein paar Volkslieder sangen. Nach einer Weile bekam eine nach der anderen einen trockenen Hals, sodass der Chor erst immer leiser und schließlich ganz eingestellt wurde. Nach getaner Arbeit waren sie meistens so müde, dass sie ein paar Happen runterschlangen, sich irgendwann einfach auf den Fußboden legten und mit einer Wolldecke zudeckten, bis Jannis sie aufweckte, weil sein Zug auf dem Rückweg aus der Stadt einen Umweg über den Tunnel nehmen musste. Seine Hand verschwand also unter der Decke, bis eines der Mädchen vor Schreck laut aufheulte. Wie gemein! (Jannis’ Zug und die Esel waren übrigens die einzigen Fortbewegungsmittel im Dorf. Autos gab es dort erst viele Jahre später.)
Gartenarbeit und Puppentheater rangierten unter dem Begriff «Freizeit». In Griechenland gingen die Kinder auf dem Land hauptsächlich auf die Grundschule, die sechs Jahre dauerte. Wer danach die Prüfung fürs Gymnasium bestand und in der Nähe einer solchen Schule wohnte, konnte weitermachen. Für Chrissi ging dieser Traum leider nicht in Erfüllung. Sie bestand zwar die Gymnasialprüfung als eine der Besten, aber ihr Vater untersagte ihr trotzdem, auf die weiterführende Schule zu gehen. Er fand, das Gymnasium sei zu weit entfernt. Und außerdem sollte sie besser im Haushalt helfen.
Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb schwärmt Chrissi noch heute von ihrer Schulzeit – nicht zuletzt wegen der Schuluniformen, die es damals gab: dunkelblaue Kleidchen mit weißem Kragen für die Mädchen, weiße Hemden und kurze, dunkelblaue Hosen für die Jungs. Chrissi bekommt heute noch leuchtende Augen, wenn sie davon spricht, wie schick sie alle waren, jedenfalls auf dem Schulweg und bevor sie in der ersten, großen Pause einmal quer über den staubigen Schulhof getobt waren. Ab diesem Zeitpunkt waren alle Uniformen grau. Die meisten Kinder kamen in den Unterricht, ohne gefrühstückt zu haben. Stundenpläne gab es nicht. Alle Kinder teilten sich einen Raum, die Lehrer vermittelten deshalb eher Grundkenntnisse: Plus-Minus-Rechnungen und das kleine Einmaleins in Mathe. Lesen und Schreiben in Griechisch, etwas Religion. In der ersten Pause wurde Milch und Brot mit Rosinen verteilt. Das war alles – so etwas wie die Grundversorgung in der Nachkriegszeit. Es gab jeden Tag das Gleiche, ohne dass jemand gemurrt hätte. Nun, gemurrt vielleicht nicht, jedoch … knurrte den kleinen Geistern oft der Magen. Nicht selten schlief ein Kind vor lauter Hunger in der Schule ein. Zu Hause bekamen sie noch etwas Bohnensuppe mit Oliven oder trockenes Brot, das aus Mais gebacken war. An Fleisch war nicht zu denken! Und Lammfleisch gab es tatsächlich nur an Ostern.
«Warum schlachten wir nicht einfach ein Huhn, wie es die Soldaten damals bei der alten Familie Georgiou gemacht haben?», fragte Chrissi ihren Bruder einmal auf dem Heimweg, als die Bilder von einer reichlich gedeckten Tafel in ihrer Phantasie wieder einmal besonders plastisch geraten waren.
«Dann wären wir ja schön blöd! Was glaubst du, wer uns dann morgen und übermorgen und nächste Woche und im nächsten Frühjahr die Eier bringt?»
Und Jannis hatte recht: Die Eier waren eine wesentliche Säule des familiären Speiseplans, sie wurden abwechselnd entweder gebraten, verquirlt und gebraten oder einfach nur gekocht. Dazu gab es dann alles, was der Garten hergab. Tomaten, Gurken, Auberginen. In einem kleinen Laden im Dorf konnten die Kinder auch Olivenöl kaufen, sodass sie den Gang dorthin in ihr Spiel einbauten.
Chrissi betrat den Kaufmannsladen dann mit einem Buch, in das alles eingetragen wurde, was sie einholte. Zwei bis drei Monate lang konnten die Familien in der Regel anschreiben, bis es wieder Lebensmittelkarten vom Staat gab.
«Ich brauche auch noch eine Flasche Petroleum für die Lampen», fuhr die kleine Kundin oft noch fort, nachdem sie das Olivenöl schon eingesteckt hatte.
«Bitte schön», wurde die Ware über den Tresen gereicht – und sogleich in besagtem Heft vermerkt .
«Und darf ich kurz mit dem Finger?», fragte sie augenklappernd.
Der Ladenbesitzer kannte die Not der Kinder und hatte sie während des Krieges einmal dabei erwischt, wie sie heimlich ihre schmutzigen Finger in ein Honigglas getaucht hatten. Seitdem hatte er immer einen Topf im Regal, der nur für die Kinderhände vorgesehen war.
«Ja sou.»
Der Verkäufer streichelte Chrissi zum Abschied über den Kopf, und sie strahlte über das ganze Gesicht, weil der Honig ihren Finger in einen süßen Lolli verwandelt hatte. Den ganzen Nachhauseweg lutschte sie noch daran und stellte dort stolz das Kännchen Öl und die Petroleumflasche auf den Tisch. Strom gab es damals im Dorf noch nicht. Gekocht wurde also auf dem Kamin. Dort saß die Familie manchmal auch noch nach dem Essen und starrte einfach in das Feuer, ohne dabei groß miteinander zu reden. Die Flammen waren für sie wohl eine Art Nachkriegsfernseher, der keine schlechten Nachrichten ausstrahlte, sondern Wärme, Wärme, Wärme.
Papou kam meist spät nach Hause. Kostas war der Einzige im Dorf, der richtig lesen und schreiben konnte. Nach dem Krieg war er für den Wiederaufbau zuständig, und zwar ganz direkt wie auch sehr indirekt. Er füllte für die Überlebenden und Hinterbliebenen Formulare aus, damit sie Geld vom Staat bekamen, als eine Art Wiedergutmachung oder Rente. Die meisten Männer im Dorf waren tot. Das Grundstück, auf dem meine Familie lebte, gehörte der Kirche. Deshalb durfte sie dort auch ein kleines, festes Haus aus Stein bauen, nachdem ihre vormalige Behausung, die eher einer Hütte geglichen hatte, zu eng und zu klapprig geworden war. Jetzt hatten sie drei Zimmer und eine Küche, sie hatten aber kein Bad. Man wusch sich an der Quelle, die hinterm Haus in einen Trog plätscherte.
Was für Großstädter mit Aussteigerphantasien wie ein Paradies klingt, muss in Wahrheit ein Albtraum gewesen sein. Ich kann aber in keiner Zeile des Tagebuches einen Vorwurf finden oder eine Anklage, dass es Mama in dieser Zeit an irgendetwas gefehlt hatte. Und auch zwischen den Zeilen steht davon nichts, und das will etwas heißen, wo heute der Aufruhr meist schon fünf Minuten, nachdem ich die Harburger Wohnungstür aufgesperrt habe, losgeht: Merkel treibt den Strompreis in die Höhe, der Nachbar hat eine furchtbare Freundin und keinen Geschmack, die Erde ist eine Scheibe und lalala. Etsikietsi ist schon das höchste der Gefühle bei ihr. Besser wird’s nicht. Wie aber kann ich nur mehr über die Nachkriegsjahre in Mamas Heimatdorf erfahren, frage ich mich – und plane meine Offensive am Küchentisch.
«Hattet ihr denn gar keine Angst, Mama?», versuche ich nach einem großen Teller Spaghetti bolognese das Gespräch mit einem klugen Zug zu beginnen, der einen Rückzug unmöglich werden lässt .
«Papou hat uns immer vor den Kommunisten gewarnt. Wie Kinder vor bösem Wolf», antwortet Mama unumwunden.
«Ihr müsst euch verstecken oder ganz schnell auf den Berg laufen, wenn es nach Feuer riecht.» So wurde es ihnen bis zum Ende der vierziger Jahre gesagt, ach was – eingebläut. Tatsächlich ging von den Partisanen während des Bürgerkrieges die größte Gefahr aus, nachdem sie den Kampf um Athen aufgeben mussten. Daraufhin zogen sie sich in die Berge zurück, verwüsteten aus Rache und Frust Dörfer und vergewaltigten Frauen. Angeblich wurden dabei auch Kinder geraubt und nach Russland verkauft. Papou verfolgte die politische Entwicklung sehr interessiert in der einzigen Zeitung, die es im Dorf gab und die im Rathaus auslag. Er teilte sie sich brüderlich mit dem Popen und seinem Freund Evangelos, der zugleich der Bürgermeister war. Evangelos hatte zwar eine dicke Hornbrille, sie verzierte aber eigentlich nur sein Gesicht, genauso wie die dicke Warze auf der Backe – richtig lesen konnte er nicht. Deshalb hielten sie es so, dass vor allem Kostas die Texte las und interpretierte und etwas, wirklich nur ein wenig ausschmückte – und anschließend für die anderen wiedergab. (Im Grunde machte er also das Gleiche wie seine Enkelin heute in der Tagesschau.) Der Pope, der Bürgermeister und mein Opa saßen häufig gemeinsam am Tisch, tranken einen Bergtee und versuchten dabei jahrelang, das Dorf aus der Armut zu befreien, indem sie vor allem, im wahrsten Sinne des Wortes, Boden wiedergutzumachen versuchten, um so die Landwirtschaft anzukurbeln. Eine Sisyphosarbeit, die allen viel Geduld und Demut abverlangte.
Am Tag, als Fäuste laut an die Tür hämmerten und es danach nur noch laut krachte und das Holz splitterte, war ihnen sofort klar, dass die zarten Pflänzchen im Dorf erneut vernichtet werden würden und so den Aufbau um Jahre zurückwarf.
«Hände hoch, Kopf flach auf den Tisch», brüllte ein Mann mit tiefer Stimme auf Griechisch.
Noch bevor sie die Gäste einzuordnen vermochten, bekam jeder von ihnen mit dem Kolben einen stumpfen Schlag auf den Hinterkopf.
Sie machten nicht mal vor dem Popen halt, sondern drückten sein Gesicht mit der flachen Hand auf den Holztisch, bis sich sein grauer Bart mit dem Blut vollgesogen hatte, das aus seiner Nase lief. Er schnaubte vor Wut und verfluchte die Männer, wehrte sich aber nicht. Auch nicht, als er an seinen Stuhl gefesselt wurde. Kostas durfte als Erster wieder aufstehen und dem Anführer alle Papiere aus den Regalen reichen. Dieser Bandit hatte seine Füße auf den Tisch gelegt, während er Seite für Seite inspizierte, um das bereits Gelesene dann zusammengeknüllt in die Mitte des Raumes zu werfen. Offenbar war er auf der Suche nach jungen Männern zwischen 16 und 25 Jahren – und auch nach Kindern. Begleitet und beschützt wurde er von einer kleinen Widerstandsgruppe, den linken Guerilla-Kämpfern, die einen Kreis um den Tisch bildeten und mit ihren abgelatschten Lederstiefeln die Papierkugeln in die Mitte des Raumes kickten. Die Männer rochen nach Schweiß, Rauch und Alkohol, waren also nicht nur unhöflich, sondern auch sehr ungepflegt, vernarbt und mit einer Haut wie aus Leder. Anders als die Dorfbewohner waren sie nach den Kriegsjahren aber immer noch kräftig und ganz und gar nicht ausgezehrt. Bei ihren Plünderungen durch die Dörfer hatten sie offenbar jedem Huhn den Kopf umgedreht. Der jahrelange bewaffnete Kampf, zuerst gegen die Nazis, später gegen die eigene Regierung, hatte sie innerlich taub werden lassen.
«Wo sind die Bücher mit den Kindern?», fragte der Anführer zornig, der offenbar zwar lesen konnte, aber doch nicht verstand.
«Wohnen hier nur noch Alte?», hakte er unwirsch nach, während er Kostas zu ohrfeigen begann.
Kostas hielt kurz inne, um sich von den Schlägen zu erholen.
«Die meisten haben wir begraben und …»
Er konnte seinen Satz nicht mehr beenden und sackte auf dem Boden zusammen.
«Wofür haben wir eigentlich gekämpft, welches Land haben wir verteidigt, hä?», brüllte der Anführer Kostas wütend an und spuckte ihm ins Gesicht. Seine Begleiter beruhigten ihn wieder und zeigten aus dem Fenster. Vorsichtig schauten sie auf die Straße, ob vielleicht Soldaten der griechischen Regierungsarmee den Überfall bemerkt und Verstärkung angefordert hätten. Keine Spur. Alles ruhig da draußen.
Kostas kam langsam wieder zu sich, konnte aber nichts sehen, weil seine Augen verbunden waren. Zum Glück waren die Kinder aus dem Dorf an diesem Tag alle baden.
«Brennt die Hütte ab und nehmt den Verräter mit», hörte er den Anführer noch sagen, und schon lag er mit dem Rücken auf einer Lastwagenpritsche und wurde aus dem Dorf gebracht. Die Sonne blendete ihn, als ihm einer der Männer erst Zigarettenrauch ins Gesicht pustete und dann seine Augenbinde abnahm, um ihn mitten auf einem Feld zu verhören. Was mag mein Großvater, Chrissis Vater, an diesem Nachmittag wohl gedacht haben? Hatte er Angst? Oder blieb dafür gar keine Zeit? Denn nach einigen, vermutlich bangen Momenten auf dem Feld hörte er das Knattern eines Motorrads, das ihm zunächst sicher Mut machte. Vielleicht eilten jetzt endlich Soldaten der griechischen Regierungsarmee zur Hilfe herbei. Doch dann sah er nur zwei weitere Partisanen mit nacktem Oberkörper herbeirasen. Ihr Haar war verfilzt und staubig, ihre Haut blutverkrustet. Aus der Entfernung hätte man fast meinen können, sie wären schwer verletzt – dabei stammte das getrocknete Blut von einem Schaf, das über ihren Schultern hing. Ein ekelhafter Anblick, aber die Kämpfer klatschten sich ab, nahmen sich sogar in den Arm, und die Freude über das Schlachtfest war so groß, dass sie für einen kurzen Augenblick ihren Gefangenen vergaßen. Kostas nutzte den unbeobachteten Moment, hüpfte mit seinen gefesselten Beinen ein paar Schritte nach hinten und ließ sich seitwärts in einen Graben rollen, wo er regungslos liegen blieb.
Die aufgeregten Stimmen der Partisanen, die sich wohl nicht recht erklären konnten, wohin mein Opa entkommen war, drangen nur noch als dumpfes Murmeln zu ihm, irgendwann wurden Lastwagentüren zugeschlagen, und sie verstummten ganz. Der Motor wurde angelassen, heulte auf, beruhigte sich aber sogleich – sie fuhren doch nicht etwa fort? Kostas konnte sein Glück kaum fassen. Doch richtig: Das Motorengeräusch schien sich zu entfernen, wurde immer leiser, und plötzlich waren da nur noch die Grillen aus den Olivenbäumen zu hören. Ganz vorsichtig versuchte er, noch immer im Graben verharrend, seine Fesseln mit einem scharfen Stein zu lösen, was ihm mit vielen Schmerzen und noch mehr Geduld auch in dieser recht unglücklichen Position gelang. Kostas blieb zunächst einfach liegen, völlig verkrampft von der Anspannung (und den Fesseln, die ihn bis vor einem Moment noch zusammengehalten hatten), bis er irgendwann vor Erschöpfung einschlief. Am nächsten Tag hörte er zwar aus dem abseits liegenden Dorf keine Schreie und auch keine Schüsse, die seine Sorgen weiter hätten anfeuern können (wenn das überhaupt möglich war, er musste halb wahnsinnig sein vor Sorge und Angst), aber er traute dem Frieden nicht und blieb eine weitere Nacht regungslos in seinem Versteck. Erst am nächsten Morgen schlich er wie eine Katze über das vertrocknete Feld, versteckte sich dabei immer wieder hinter Sträuchern und Bäumen und beobachtete von dort, ob sich in der Gegend etwas tat. Sein Blick fokussierte die Berge am Horizont. Die Felsmassive wirkten wie immer: nackt, steinig und wild. Er versuchte, Rauchwolken oder Spuren der Verwüstung zu erkennen. Je länger er auf die Felsen starrte, umso häufiger sah er darin das versteinerte Gesicht eines Mannes, der auf dem Rücken lag und eine große Nase hatte. Wurde er jetzt verrückt? Oder halluzinierte er wegen des Hungers? Doch wirklich: Das sich anschließende Tal wirkte aus der Ferne wie ein Auge. Der Wald darüber wie eine wild gewachsene Frisur. Der Trampelpfad zog sich wie ein breites Grinsen über das in Stein gehauene Gesicht.
Ein Rascheln in seinem Rücken versetzte Kostas abermals in Angst und Schrecken. Es waren aber keine Partisanen, die zurückgekommen waren, um ihn zu holen, sondern zum Glück nur eine kleine Eidechse, die über den Besucher im Gestrüpp mindestens genauso nervös war wie er selbst. Kostas zog aus dieser Begegnung mit der Natur seine eigenen Schlüsse: Er musste einerseits weiterhin extrem vorsichtig bleiben, andererseits aber ganz unauffällig und ruhig nach Hause kommen. Also schlich er nicht länger, sondern lief aufrecht ins Dorf, als wäre nichts weiter gewesen. Allerdings wählte er dabei einen Umweg, um sich seinem möglicherweise zerstörten Haus so langsam wie möglich zu nähern. Bei jedem Hinweis auf ein Feuer oder Ähnliches wäre er lieber sofort umgedreht, als auf verkohlte Trümmer (oder Schlimmeres) zu stoßen. Er kam aus dem Grübeln nicht mehr heraus, obwohl auf dem Weg zum Kafenion alles aussah wie an jedem anderen Tag auch. Sogar der Pope saß unter einem schattigen Baum und stützte sich auf einen Stock. Kostas setzte sich zu ihm, bemerkte die aufgeplatzte Lippe und seine geschwollene Nase. Der Pope winkte nur ab, als er bemerkte, dass Kostas Tränen in die Augen gestiegen waren. Das Blut sei ganz leicht aus dem weißen Bart gegangen, die Wunden würden auch wieder verheilen, beschwichtigte der Pope. Dann wies er mit dem Stock auf die Kirchenruine.
«Und die können wir auch wieder aufbauen! Oder kämpfst du jetzt für die Kommunisten?»
Bei diesem Satz zog der Pope die buschigen Augenbrauen hoch. Offenbar wunderte er sich, dass Kostas den Überfall auf das Rathaus ohne größere Blessuren überstanden hatte, also: nicht tot. Die Kopfschmerzen, die wund gescheuerten Gelenke, den Hunger und die Angst konnte er ja nicht sehen. Nicht, dass er Kostas auch eine blutige Nase gewünscht hätte, aber vielleicht war er ja übergelaufen, um sich zu retten, und würde demnächst die eigenen Freunde umbringen, damit er am Leben blieb? In diesen Zeiten wusste man schließlich nie …
Kostas sammelte sich ein wenig und stellte die Frage, vor deren Antwort ihn am meisten graute :
«Was ist mit meinen Kindern? Hast du sie heute schon in der Schule gesehen. Wie geht es ihnen? Wie geht es meiner Frau?»
«Kostas, deine Kinder spielen Fußball, wie immer. In die Kirche können sie ja nicht mehr. Und deine Frau ist wohlauf.»
Erleichtert sprang Papou auf und rannte die Straße herunter bis zu einer großen, staubigen Freifläche, die dem Dorf als Spielplatz galt. Er machte einen riesigen Satz über die Steinmauer und sprintete die letzten Meter in den Strafraum hinein. Dort stand Jannis, zunächst etwas überrascht über den viel zu großen Mitspieler, bis er in der Staubwolke die Umrisse seines Vater ausmachen konnte. Zunächst war er etwas verdutzt, weil der ihm erst den Ball abnahm und dann auch noch neben das Tor schoss. Doch dann riss er die Augen auf und sprang in seine Arme, als hätten sie die Weltmeisterschaft in der Nachspielzeit gewonnen. Sie drückten sich ganz fest und weinten. Sie hatten ihn zurück!