5. KAPITEL

»H…hund?«, rief Sieben.

Die vier standen im Lichtschein neben dem Korb und spähten hoffnungsvoll in die Schatten um sie herum. Der Mond war nur eine schmale Sichel und linste durch die Wolken, die sich teilweise aufgelöst hatten und über Kliff hinaufgestiegen waren, wo sie jetzt die Sterne verhüllten.

Die Dunkelheit waberte und wallte um sie herum. Dann hörten sie Schritte knirschen.

Winnie hüpfte aufgeregt auf Phönix’ Schulter, als eine Gestalt im Dämmerlicht sichtbar wurde und stetig näher kam, bis in ihr der Wächter zu erkennen war. Im schwachen Licht wirkte sein rötlicher Stein beinahe schwarz, und er schien noch größer zu sein als sonst.

»Phönix«, sagte Hund mit tiefer, rauer Stimme. Er stupste überraschend sanft ihre Schulter an, bevor er sich den anderen zuwandte. »Sechs, Fünf und Sieben.« Aus seiner Stimme war das Lächeln herauszuhören. »Ich freue mich, euch zu sehen.«

Winnie fiepte empört auf Phönix’ Schulter, und Hund lachte. »Und dich, kleiner Winnie«, fügte er hinzu. »Dich habe ich nicht vergessen.«

Besänftigt rieb Winnie seine Nase an Hunds Schnauze, während sein Schweif ein glückliches Muster in die Luft malte.

»Hab mir fast gedacht, dass wir uns hier unten treffen würden«, ertönte eine vertraute Stimme aus der Dunkelheit. Kurz darauf tauchte Raureif auf dem losen Geröll auf.

»Raureif hat mir von eurem Kampf gegen den Kantenwurm erzählt.« Hund begann mit dem Schwanz zu wedeln. »Offenbar habt ihr euch gut geschlagen. Ich hatte natürlich auch nichts anderes von euch erwartet.«

»Uns … gut geschlagen?« Fünf warf Raureif einen überraschten Blick zu. Aber dann fasste er sich schnell und nickte begeistert. »Sehr gut sogar. Du hättest uns sehen sollen, Hund! Wir waren alle großartig, aber ich ganz besonders. Ich habe Phönix das Leben gerettet! Hat Raureif das auch erwähnt?«

Phönix stieß ihn fest mit dem Ellbogen in die Seite. »Stimmt gar nicht.«

»Genug«, fuhr Raureif sie an. »Ihr habt diesem Kantenwurm den Garaus gemacht und selbst überlebt. Das war eine annehmbare Leistung.«

»Das ist nicht …« Fünf hielt abrupt inne, als er Raureifs wütenden Blick bemerkte.

»Bist du nur hier runtergekommen, um Hund von uns zu erzählen?«, fragte Sechs.

»Ich spreche mit dem Wächter, wann es mir beliebt«, sagte Raureif barsch. »Und ohne dass ich euch Rechenschaft darüber ablegen müsste.«

Sechs zuckte zusammen. »Natürlich, aber …?«

Raureif seufzte und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er wirkte plötzlich erschöpft. »Ich warte noch immer auf einen Falken von Kiefers Mannschaft. Habe seine Leute zum Flussclan geschickt, damit die bei sich in der Gegend Ausschau nach den Kobolden halten. Er ist spät dran.« Der Älteste schnaufte. »Und es sieht ihm gar nicht ähnlich, sich zu verspäten.«

Fünf zögerte. »Es gibt noch nichts …« Er brach ab und schüttelte den Kopf. »Egal.«

»Spuck’s aus, Junge«, sagte Raureif ungeduldig.

»Die Hexen …« Fünf zuckte mit den Schultern. »Wir haben immer noch nichts von ihnen gehört. Glaubst du …«

»Die Hexen!«, brüllte Raureif plötzlich erbost. »Das ist noch so ein verdammter Stachel in meinem Fleisch. Ich habe ihnen geschrieben, was in der Jägerloge vorgefallen ist und dass Phönix und Sieben beide über gewisse magische Fähigkeiten verfügen. Da sollte man doch meinen, dass sie …« Er rang die Hände. »… zumindest mit einem gewissen Interesse reagieren.«

»Oder mit Rat«, ergänzte Sechs.

»Oder Entsetzen«, sagte Phönix. »Offenbar gehöre ich ja zu den bösen Hexen.«

»Ein böses Omen!«, meldete sich Fünf grinsend zu Wort. »Das wusste ich gleich, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind.«

Der Schlag, den sie ihm auf den Arm versetzte, war alles andere als sanft.

»Zumindest sollte man meinen, dass sie irgendwie reagieren!«

»Eine Elementhexe, eine Seherin und die Rückkehr der Koboldmagie.« Fünf seufzte. »Wenn das nicht reicht, damit sie reagieren, dann weiß ich auch nicht.«

Raureif nickte widerwillig. »Da hast du vollkommen recht, Fünf.«

Irgendwo weit über ihnen loderte eine Flamme auf. Kurz darauf hörten sie ein Knistern.

Raureif legte den Kopf in den Nacken, um die Ursache der herabregnenden Funken zu finden. »Was beim …?«

»Ein Leuchtfeuer«, sagte Hund mit dringlicher Stimme. »Kliffs Alarmsignal. Zurück in den Korb. Schnell. Bevor sie ihn hochziehen.«

Phönix erkannte augenblicklich, dass er recht hatte. Der Korb hob sich bereits vom Boden. Winnie fiepte erschrocken.

Über ihnen loderte ein weiteres Lichtsignal auf, während sie zum Korb eilten. Phönix erstarrte, als am Himmel hoch über Kliff etwas auftauchte und das Leuchtfeuer einen riesigen vogelartigen Schatten auf die hohen Wolken warf.

»Was bei Embra …?«, keuchte Fünf mit offen stehendem Mund.

Eine weitere helle Flamme flackerte auf, und diesmal konnte Phönix den Umriss genauer erkennen. Es war wirklich ein Vogel: riesig und so hell wie Perlen in der Dunkelheit.

Raureif bekam weiße Fingerknöchel, während er nach oben starrte.

Der große Vogel über ihnen legte seine Flügel an und begab sich in einen fast senkrechten Sturzflug entlang der Steilwand direkt auf sie zu.

»Verdammt, das glaube ich jetzt nicht«, flüsterte der Älteste.

»Was denn?«, fragte Fünf, der mit weit aufgerissenen Augen nach seinem Schwert griff. »Was ist das?«

Es war Hund, der antwortete. »Ein Eisadler«, sagte er staunend. »Da kommt eine Hexe.«