12. KAPITEL

Am nächsten Morgen machte sich ein blasses niedergeschlagenes Grüppchen auf den Weg bergab durch Kliff. Obwohl sie wach war und ihre Freunde bei ihr waren, hallten Teile ihrer Albträume noch immer in Phönix’ Innerem nach. Sie hatte überlegt, Traummilch zu nehmen, um ihre schlechten Träume in Schach zu halten, den Gedanken aber schnell wieder verworfen. Ohne die Milch erinnerte sie sich viel deutlicher an ihre Familie, und das wollte sie um nichts in der Welt opfern. Aber sie hatte das Gefühl, dass der Krock ganz in der Nähe war und sie von jedem Schatten aus beobachtete. Winnie knabberte nervös an einer ihrer Haarsträhnen, als der Korb aus Kliff hinabgelassen wurde. Sein Gewicht und seine Wärme trösteten sie.

»Sie sind schon da unten«, sagte Fünf mit einer Kopfbewegung Richtung Raureif und Nara, die unter ihnen sichtbar wurden. Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte, und er war ungewöhnlich schweigsam.

Phönix starrte schweren Herzens hinab, als der Korb sich senkte. Eigentlich sollte Hund jetzt auch da sein. Es kam ihr nicht richtig vor, dass das alles ohne ihn stattfand.

»Da seid ihr ja«, sagte Raureif. Er musterte sie nacheinander, während sie aus dem Korb kletterten. »Gut, wie ich sehe, habt ihr eure Waffen dabei.« Er warf Fünf, Sechs und Phönix einen scharfen Blick zu. »Ihr drei seid jetzt Jäger.« Mit einer Kopfbewegung wies er auf Sieben. »Sie ist noch ein Jagdling. Was bedeutet, dass ihr für ihre Sicherheit verantwortlich seid und dafür, dass sie regelmäßig trainiert und den Schwur aufsagt. Verstanden?«

Sie nickten.

»Und, beim frierenden Frost, Fünf und Sechs, ihr müsst euch bald für einen Jägernamen entscheiden.«

Die beiden Jungen nickten erneut schnell.

»Wir grenzen es immer weiter ein«, sagte Fünf.

Phönix verkniff sich ein Schnauben. Das stimmte nun wirklich nicht.

»Hmph«, entgegnete Raureif, dem nicht viel entging. Dann wandte er sich an Nara. »Nun gut, hier sind sie.«

Der schneeweiße Federumhang der Hexe schien in der Morgendämmerung zu leuchten, als sie vortrat, den hellen Blick fest auf Phönix gerichtet. »Danke«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Vielen Dank an euch alle. Ich weiß, es muss sich seltsam anfühlen, dass ich euch entführe, bevor wir uns ein bisschen besser kennen. Aber die Zeit drängt wirklich, und ich würde gern so bald wie möglich aufbrechen.«

Plötzlich bekam Phönix große Angst. Die Zeit drängt wirklich. Nara war darauf angewiesen, dass es ihr gelang, ihr Feuer unter Kontrolle zu bringen, dass es ihr gelang, den Schattensaum zu zerstören. Ganz Eisgard hing von ihr ab, vielleicht sogar ganz Embra. Phönix wünschte sich von ganzem Herzen, dass der Schattensaum etwas wäre, das sie einfach mit ihren Äxten bekämpfen könnte, dann hätte sie größeres Vertrauen. Stattdessen spürte sie nur eisige Furcht in sich aufsteigen. Was, wenn es ihr nicht gelänge? Was, wenn sie Eisgard zerstören würde, genau wie sie die Jägerloge zerstört hatte? Was, wenn das irgendwie auch Embra schadete?

»Wir haben alles, was wir brauchen, dabei«, sagte Sechs, dessen Stimme seine Aufregung verriet. Ausnahmsweise schien er mal nicht zu wissen, was Phönix dachte.

»Wir sind b…bereit«, stimmte Sieben ihm zu.

»Fliegen wir nach Eisgard? Auf deinem Adler?«, fragte Fünf staunend.

Der Vogel landete mit lautlosen Schwingen hinter Nara.

»In gewisser Weise.« Nara lächelte und streichelte dem Vogel das Gefieder im Gesicht. »Ich habe in der Nähe von Eisgard ein Portal hinterlassen. Wenn ich hier ein weiteres öffne, können wir hindurchfliegen und landen direkt beim Frostpalast.«

»Was ist ein P…portal?«, fragte Sieben.

»Es ist absolut sicher«, erklärte Nara schnell. »Wenn es zwei Portale gibt, kann man sie miteinander verbinden, hindurchreisen, so einfach, wie wenn man eine Schwelle übertritt. Aber es muss zwei geben, und sie müssen verbunden sein. Es hat eine Woche gedauert, auf Chiara hierherzufliegen, aber der Rückweg wird nur einen Augenblick dauern, sobald ich das andere Portal geöffnet und mit dem in Eisgard verbunden habe.«

Sie lächelte den Adler neben sich an, der sanft den Kopf neigte. Verwundert bemerkte Phönix den intelligenten Blick des Vogels. Winnie starrte den Adler von Phönix’ Schulter aus genauso fasziniert an.

»Das klingt aber gar nicht gut«, sagte Fünf leise und erntete dafür einen überraschten Blick von Sechs.

Nara unterdrückte ein Lächeln. »Ich glaube, unsere Magie ist in Embra vergessen worden. Aber das würden wir gerne wieder ändern. Vertraust du mir?« Die Frage war so offen und direkt, dass sie Fünf unerwartet traf.

»Es bleibt mir wohl nichts anderes übrig«, murmelte er mit unbehaglicher Miene. »Und wie funktioniert das dann?«

Nara wandte sich mit einem Lächeln an ihren Eisadler. »Das soll Chiara beantworten.«

Zu Phönix’ Erstaunen begann der Vogel zu sprechen. Ihre Verwunderung spiegelte sich auch auf den Gesichtern der anderen, abgesehen von Raureif und Winnie, der anfing, sich zu putzen. Chiaras Stimme war sanft wie Naras und so leise, dass sie sich anstrengen mussten, sie zu verstehen.

»Es ist ganz einfach«, sagte der Vogel. »Ihr steigt mit Nara auf meinen Rücken, und ich hebe ab. Sobald wir in der Luft sind, wird Nara das Portal öffnen, und wir fliegen hindurch. Von der anderen Seite aus ist es dann nicht mehr weit bis nach Eisgard. Ich bitte euch nur darum, dass ihr versucht, mir nicht an den Federn zu ziehen.«

»Also gut.« Nara lächelte nervös. »Es wird Zeit.« Sie winkte sie zu sich, als Chiara den Kopf senkte und die Flügel ausbreitete, um ihnen das Aufsteigen zu erleichtern. Nara half ihnen hinauf und leitete sie zum langen glänzenden Rücken des Vogels. Phönix war die Letzte, und sie staunte über die Federn, die so glatt waren wie Flussseide, und über ihre kühle Helligkeit. Sie versuchte, an keiner davon zu ziehen, während sie zu den anderen aufrückte, die alle gleichermaßen fasziniert und verängstigt wirkten.

»Es gibt nichts, woran man sich festhalten kann«, sagte Fünf hektisch. »Gar nichts!«

Er hatte recht, bemerkte Phönix leicht beunruhigt. Aber dann sprang Nara leichthin auf und ließ sich direkt hinter dem großen Kopf des Adlers nieder.

»Phönix, halt dich an mir fest. Ihr anderen haltet euch an Phönix fest. Der Flug wird ruhig, sanft und glatt verlaufen, aber für alle Fälle …« Sie reichte ein Seil nach hinten und wartete geduldig, bis sie sich alle aneinandergebunden hatten. Fünf überprüfte und erneuerte alle Knoten viermal, bevor er zufrieden war.

»Ausgezeichnet«, sagte die Hexe, als er endlich fertig war. »Dann machen wir uns auf den Weg.« Sie hob die Hand, um sich von Raureif zu verabschieden.

»Pass auf meine Jäger auf«, knurrte der Älteste, der ebenfalls die Hand hob.

Dann riefen sie alle Auf Wiedersehen, während Chiara die Flügel ausbreitete und mit einem mächtigen Satz abhob.