39. KAPITEL

In ihrem Zimmer starrte Phönix in die Kerzenflamme und versuchte sich mit zusammengebissenen Zähnen und geballten Fäusten zum Einschlafen zu zwingen. Sie hatte mit ihren Freunden zu Abend gegessen, es war ihr aber irgendwie nicht gelungen, die richtigen Worte zu finden, um ihnen zu sagen, was sie am folgenden Tag tun musste. Um ihnen zu sagen, dass sie fürchtete, es könnte ihr letzter sein.

Sie wurde von Angst überwältigt, stärker, als sie es je erlebt hatte, und ihr Herz klopfte, als würde sie gejagt. Sogar Winnie, der sich eng an ihren Hals schmiegte, konnte sie nicht von ihrer Furcht ablenken.

Wie war sie nur in diese Lage geraten? Sie wollte nicht sterben; sie wollte leben.

Vielleicht sollte sie einfach aufstehen und gehen. Sie sollte sich die Stiefel anziehen, aus Eisgard hinausmarschieren und die Frostige Ebene durchqueren. Sie könnte fliehen. Überleben.

Aber zu welchem Preis?

Langsam und widerstrebend zwang Phönix sich, die wahren Folgen dessen, was sie sich da ausmalte, zu bedenken. Würde sie die Hexen allein lassen, die sie um Hilfe gebeten hatten? Konnte sie ihre Freunde an einem Ort zurücklassen, von dem sie wusste, dass er gefährlich war? Den Jägerinnennamen aufgeben, für den sie so sehr gekämpft hatte? Zulassen, dass Embra und all seine Bewohner vernichtet wurden?

Was hätte ihre kleine Schwester davon gehalten? Was würde Hund sagen, wenn er wüsste, wie sehr sie sich nach einer Flucht sehnte?

Phönix wusste bereits, dass sie nicht weggehen würde. Nicht weggehen konnte. Aber diese Erkenntnis trug nicht gerade dazu bei, ihre abgehackte Atmung oder das übelkeiterregende Magengrollen zu beruhigen.

Dann überlegte sie, dass sie Nara bitten wollte, ihre Freunde und alle Hexen nach Kliff zu fliegen, bevor sie dem Schattensaum entgegentrat. Je weiter sie von Eisgard entfernt waren, wenn dessen Magie nachließ und die Welle ihren tödlichen Zweck erfüllte, desto besser. Wenigstens war Kliff hoch gelegen und würde so vielleicht dem schlimmsten Schaden durch das Wasser entgehen.

Es war undenkbar, unmöglich, dass sie einschlafen konnte, und doch war sie plötzlich wieder auf dem schwimmenden Markt.

»Gut! Jetzt hast du’s!«, rief Schilf vom Ufer aus und feuerte Mohnblüte begeistert an. »Fester treten.« Dann, kurz darauf: »Nicht den Atem anhalten!«

Von ihrem Versteck hinter einigen Kisten aus, die am Rand des Wassers aufgestapelt waren, beobachtete Sperling aufmerksam die platschenden Bewegungen ihrer Schwester und versuchte sich Schilfs Anweisungen einzuprägen. Es war ein warmer Tag und Schweiß lief ihr über den Rücken. Das Wasser wirkte wunderbar kühl … aber diesen Gedanken verscheuchte sie sofort wieder. Sie war hier, um sicherzugehen, dass ihrer Schwester keine Gefahr drohte, und sonst nichts.

An jenem Morgen hatte Mohnblüte erneut gesagt, dass Schilf auch Sperling gerne das Schwimmen beibringen würde, aber irgendetwas in ihr hatte sich dagegen gesträubt. Zum Teil lag das daran, dass Mohnblüte es vorgeschlagen hatte – normalerweise war es Sperling, die sich um ihre Freizeitbeschäftigungen kümmerte –, aber ein anderer Teil ihres Gehirns fragte sich, ob es überhaupt erlaubt war. Wenn sie in Poa gewesen wäre, wäre es nicht gern gesehen, geschweige denn erlaubt gewesen, dass ein Junge aus dem Flussclan Mohnblüte irgendeinen Unterricht erteilte. Aber hier herrschten andere Regeln, an diesem Ort, der niemandem und allen gehörte. Sie war unsicher, verspürte ein Unbehagen darüber, wie sehr Mohnblüte die Anwesenheit der anderen Clans genoss.

Mohnblüte verschluckte sich und musste husten, und Sperling versteifte sich, bereit, zu ihr zu laufen, aber da war schon Schilf an ihrer Seite, zog sie aus dem Wasser und klopfte ihr auf den Rücken.

»Als ich ›atmen‹ gesagt habe, meinte ich, wenn dein Kopf über Wasser ist!« Er lachte freundschaftlich.

»Danke«, keuchte Mohnblüte, als sie wieder Luft bekam. Sie setzte sich ans Ufer und ließ die Füße ins Wasser baumeln. »Es ist schwerer, als es aussieht.«

Schilf ließ sich achselzuckend neben ihr nieder. »Erst vielleicht schon. Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie ich es gelernt habe, aber wahrscheinlich ist es wie mit allem: Je häufiger man es macht, desto mehr geht es einem in Fleisch und Blut über.« Er warf Mohnblüte aus den Augenwinkeln einen Blick zu. »Sperling wollte also nicht mitkommen?«

Mohnblüte schüttelte den Kopf, und ihre nassen Haare versprühten Tropfen über ihm. »Nein.«

Dabei ließ sie bekümmert die Schultern hängen, und Sperling bekam sofort Schuldgefühle.

»Ihr seid euch nicht besonders ähnlich, oder?«, sagte Schilf, und es klang mehr wie eine Feststellung.

»Vielleicht.« Mohnblüte klang unsicher. »Ich habe eigentlich nie darüber nachgedacht.«

»Ihr seid euch nicht ähnlich«, wiederholte Schilf entschieden.

Sperlings Haut kribbelte unangenehm. Plötzlich dachte sie, es wäre besser gewesen zu gehen, nachdem Mohnblüte aus dem Wasser gekommen war. Sie hatte gesehen, dass ihre Schwester in Sicherheit war; jetzt lauschte sie bloß. Aber irgendetwas hielt sie hier fest, und sie hatte das eigenartige Gefühl, Mohnblüte durch die Augen eines Fremden zu sehen, dass es vielleicht Seiten an ihrer Schwester gab, die sie nicht kannte oder bisher nicht bemerkt hatte. In Schilfs Anwesenheit war sie anders als sonst, plauderte fröhlich über die Geschichten, die sie gehört hatte, und bestand energischer als sonst darauf, dass sie wahr waren. Strahlender.

»Ich habe beschlossen, dass ich Forschungsreisende werde, wenn ich groß bin«, vertraute sie Schilf an und zog ihn hoch.

»Kann ich dann auch Forschungsreisender werden?«, fragte er mit vor Aufregung leuchtenden Augen.

»Natürlich!« Mohnblüte strahlte. »Aber ich bin die Anführerin.«

»Wohin reisen wir als Erstes?«, fragte Schilf. Dann war er abgelenkt. »Können wir uns was zu essen holen? Ich habe Hunger!«

Als Reaktion darauf knurrte Mohnblütes Magen laut, und kurz darauf hüpften die beiden davon wie Kaninchen, und ihr Lachen verhallte hinter ihnen.

Sperling saß noch lange da und starrte aufs Wasser. Es bestand kein Zweifel, dass Mohnblüte hier anders war; irgendwie hatten sich ihre Rollen verkehrt. Normalerweise war Sperling die Selbstbewusste, die die Initiative ergriff. Normalerweise musste man Angst vor den anderen Clans haben. Hier war alles auf den Kopf gestellt. Sperling schwirrte der Kopf. Sie hatte das Gefühl, dass sie irgendetwas Wichtiges verpasst hatte und hier zurückgelassen worden war.

Die Sonne glitzerte auf der Oberfläche des Sees, das Wasser roch frisch und grünstichig. Bevor sie richtig darüber nachdenken konnte, stand Sperling auf und zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Sie trat ans Ufer und warf einen finsteren Blick in seine schimmernde Tiefe. Unter der Oberfläche sah sie sanft wogende grüne Wedel und das Aufblitzen der silbernen Schuppen vorbeiflitzender Fische.

»Treten. Ziehen. Atmen«, flüsterte Sperling sich selbst zu und rief sich ins Gedächtnis, was Schilf Mohnblüte gezeigt hatte.

Bevor sie es sich anders überlegen konnte, sprang sie in den See, dessen Kälte gleichzeitig ein Schock und eine Freude war. Schmerzhaft stieg ihr Wasser in die Nase, und die friedliche Szene unter ihr wurde von Tausenden Wasserblasen verdeckt, die von ihrer Haut, ihren Haaren und ihrer Nase aufstiegen. Sie riss die Augen auf, und ihr Herz klopfte heftig, weil alles so seltsam war. Über ihr war der helle Himmel, verzerrt und gekräuselt, über den der Sonnenschein hinwegzog. Aber noch während sie hinaufblickte, trieb das Licht von ihr weg, und an den Rändern sammelte sich Dunkelheit.

In einem plötzlichen Anfall von Panik wurde Sperling bewusst, dass sie überhaupt nicht schwamm, sondern sank.

Treten. Ziehen. Atmen.

Sie schlug wie wild mit Armen und Beinen und wünschte, sie hätte für den Anfang das Stück Holz aufgehoben, dass Mohnblüte zur Sicherheit benutzt hatte. Sperling hatte angenommen, das hier würde einfach sein, aber es war alles andere als einfach. Als sie endlich mit dem Kopf die Wasseroberfläche durchbrach und einen tiefen dankbaren Atemzug nahm, schmerzten ihre Arme, und ihre Lunge brannte.

Sie zog sich ans Ufer und blieb hustend und wütend im plattgelegenen Röhricht liegen. Es war viel schwieriger, als es bei Schilf ausgesehen hatte.

Die Sonne am Himmel stieg höher, und in der Wärme verschwand Sperlings Gänsehaut. Sie setzte sich auf und sah stirnrunzelnd auf den See. Warum bestand Mohnblüte darauf, etwas so Schwieriges und Unnötiges zu lernen? Sperling war sicher, ihre Schwester wusste, dass keiner in Poa das gutheißen würde, aber davon ließ sie sich nicht abhalten; sie schien entschlossen, während ihres Aufenthalts so viel zu erleben, wie sie konnte.

War das … war daran etwas … mutig?

Sperling stand auf, plötzlich wütend, zwei ihrer kostbaren Tage hier verschwendet zu haben. Dann griff sie nach Mohnblütes schwimmendem Holzstück und sprang zurück ins Wasser.