2. KAPITEL

»Ich wünschte, sie hätten die Plattform nicht ausgerechnet rot gestrichen«, murmelte Sechs.

»Ja, ganz schön grell, nicht wahr?« Fünf verzog das Gesicht.

»So können die Gleiter sie aus der Luft besser erkennen«, erklärte Phönix.

Blutrotes Holz, so glatt geschliffen wie Schiefer, erstreckte sich vor ihnen in ein unendliches Meer aus Blau hinaus.

Als das Holz unter ihr unangenehm knarzte, zog sich Phönix’ Magen zusammen. Sie konzentrierte sich auf die Äxte in ihren Händen, deren vertrautes Gewicht ihr ein Gefühl von Sicherheit gab.

Neben ihr stieß Fünf einen leisen Pfiff aus. »Der Gedanke, dass zwischen uns und dem Abgrund nur diese Planken sind, ist nicht gerade beruhigend. Wie hoch sind wir laut Oberhaupt Schwinge hier oben?«

»Darüber denken wir besser nicht nach«, antwortete Sechs, der auf Phönix’ anderer Seite stand und vorsichtig einen Schritt vortrat.

Das Ende der Plattform war etwa drei Meter entfernt.

Phönix suchte die Planken nach irgendwelchen Abweichungen in Farbe oder Struktur ab. Fünf stach mit seinem Schwert alle paar Zentimeter vor sich ins Holz. Sechs tat dasselbe mit einem Pfeil.

»Noch nichts«, flüsterte Fünf und stieß mit der Schwertspitze in eine weitere Planke. Er hatte jetzt nichts Belustigtes mehr an sich. Seine Gesichtszüge waren bis aufs Äußerste gespannt.

Zwei Meter fünfzig von der Kante entfernt.

Phönix rückte behutsam vor, ihr Sichtfeld ausgefüllt von einem nahtlosen Rot. Winnie saß starr und still auf ihrer Schulter, den Blick ebenfalls auf das gestrichene Holz gerichtet.

Zwei Meter zehn.

Sechs’ Pfeil drang beinahe lautlos in die Holzmaserung ein.

Ein Meter achtzig.

Phönix versuchte ihren Blick davon abzuhalten, immer wieder nach vorne zum Abgrund zu schweifen, zum endlosen Blau, das sie erwartete, wenn sie einen Fehler machten.

Ein Meter fünfzig.

Eine Schweißperle erschien auf Fünfs Stirn. »Wir müssen jetzt ganz nah dran sein«, flüsterte er und streckte erneut das Schwert aus.

»Da!« Mit plötzlicher Gewissheit fiel Phönix eine winzige Veränderung des Musters im Holz auf, eine Abweichung, die so gering war, dass man sie nur bemerkte, wenn man ganz genau hinsah. Sie streckte die Hand aus und packte Fünf am Handgelenk, bevor die Spitze seines Schwerts den Boden berührte.

»Hier?«, flüsterte Sechs. »Ja, jetzt sehe ich’s auch!«

Sie traten alle gleichzeitig einen Schritt zurück. Die Kante der Plattform schien noch etwa einen Meter fünfzig entfernt zu sein. In Wirklichkeit befand sie sich nur wenige Zentimeter vor ihnen. Ein Schritt weiter, und sie wären in den Tod gestürzt.

Die Stille um sie herum war absolut; sogar der Wind schien den Atem anzuhalten. Dann, mit einer urplötzlichen Bewegung, sprang Fünf vor. Er versenkte sein Schwert tief in das Wesen zu ihren Füßen und sprang wieder zurück, als ein wütender Schrei die Stille zerriss.

Seite an Seite wichen Fünf, Sechs und Phönix zurück, während sich eine Welle der Veränderung von der Wunde her ausbreitete, die Fünf geschlagen hatte. Die roten Planken kräuselten sich, zitterten und ruckten, während sich ihre Farbe und Struktur verwandelte. Kurz darauf wurde ein grobes, schuppiges Wesen sichtbar. Seine gelben Augen musterten sie bedrohlich, während sich seine gedrungene, langbeinige Gestalt anspannte und zum Angriff bereit machte.

»Passt auf!«, rief Fünf, als der peitschenartige Schwanz auf sie zuschwang. Phönix duckte sich und spürte den Luftzug über ihrem Kopf. Genau in diesem Moment beschloss Winnie vernünftigerweise, in ihrem Fell zu verschwinden.

Der Kantenwurm rückte vor, das Maul mit den fauligen Zähnen weit aufgerissen. Sein Atem stank so fürchterlich, dass Fünf würgen musste. »Bäh.«

Die kurze Unaufmerksamkeit war alles, was das Wesen brauchte. Sein Schwanz peitschte erneut blitzschnell vor und hätte Fünf aufgespießt, wenn Phönix sich nicht mit einem Satz vor ihn gestellt und den Schwanz mit ihrer Axt von mehreren Giftstacheln befreit hätte. Brüllend wandte sich das Wesen ab, während dunkelgrünes Blut aus seiner Wunde sickerte.

Ihr Sprung hatte sie weiter nach vorne geführt als beabsichtigt. Plötzlich stand Phönix direkt an der Kante der Plattform und das Wesen zwischen ihr, Fünf und Sechs.

»Keinen Schritt weiter!«, rief Sechs und erbleichte.

Phönix biss die Zähne zusammen, um sich eine schnippische Antwort zu verkneifen, und zwang sich, sich auf das Wesen vor ihr zu konzentrieren. Der ärgerliche Funke schien jedoch ihr Inneres zu entfachen, und mit wachsendem Entsetzen bemerkte sie, wie sich die Hitze ihrer Macht rührte.

Nein, nein, nein.

Sie umfasste ihre Äxte fester und holte tief Luft, um sich zu beruhigen, aber es war zu spät. Schon durchströmten sie warme Schwaden, sie kräuselten sich und breiteten sich aus. Phönix spürte, wie sich das Feuer zusammenbraute, mit jedem Herzschlag stärker pulsierte und hervorströmen wollte.

Der Zeitpunkt hätte nicht ungünstiger sein können.

Das Wesen sah zwischen den drei Jägern hin und her, um abzuschätzen, wer das leichteste Opfer war.

Phönix versuchte, die tiefen, langsamen Atemzüge zu machen, die ihr halfen, das Feuer einzudämmen. Wenn so etwas geschah, schloss sie normalerweise die Augen und setzte sich ein paar Minuten an einen ruhigen Ort. Das konnte sie hier nicht, und das Feuer schien das zu wissen. Immer kräftiger stieg es in ihr auf, bis ihre Hände unangenehm kribbelten und ihr der Schweiß auf der Stirn stand.

»Komm schon, Wurmi«, stieß Fünf zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, während er sich mit Sechs zurückzog und versuchte, das Wesen von Phönix wegzulocken, damit sie mehr Platz hatte. »Du willst doch eigentlich uns.«

Einen Augenblick schien es, als würde es funktionieren. Das Wesen trat einen Schritt auf die Jungen zu, aber dann fuhr es unvermittelt wieder zu Phönix herum, und seine vielen Gliedmaßen verschwammen, als sein verstümmelter Schwanz erneut ausholte und versuchte, ihr die Beine wegzuschlagen.

Phönix reagierte langsam. Ihre Aufmerksamkeit war gespalten zwischen dem Wesen und dem Feuer, das aus ihr hervorschießen wollte. Mit einem energischen Handstreich gelang es ihr gerade so, dem Kantenwurm den Rest des Schwanzes abzuhacken. Sie trat nach dem Wesen, das sich blitzschnell auf sie stürzte, aber sie zielte daneben, und der Kantenwurm prallte mit voller Wucht gegen ihre Knie.

»NEIN!« Siebens Schrei klang weit entfernt.

Beinahe in Zeitlupe spürte Phönix, wie sie das Gleichgewicht verlor und mit den Armen rudernd rückwärtsstolperte. Der Himmel füllte ihr gesamtes Blickfeld aus, als sie zusammen mit dem Kantenwurm über den Rand der Plattform stürzte.