Mutter
Ich weiß nicht mehr, was ich glauben soll. Was ich fühlen soll. Meine Empfindungen sind tot. Das Leben zerrinnt mir zwischen den Fingern wie allzu feiner Staub. Da ist nichts als Hoffnungslosigkeit.
Ob es stimmt, was sie sagen? Dass es gar keinen Einbrecher gegeben hat? Hat Bernhard mir die Kinder genommen? Bernhard? Mein Mann?
Immer und immer wieder gehe ich in Gedanken die schreckliche Nacht noch einmal durch, obwohl ich am liebsten nicht mehr daran denken möchte, es braucht zu viel Kraft, zu viel Energie, dabei habe ich gar keine mehr, ich bin ganz leer.
Ich vermisse die beiden so sehr.
Trauer ist der schlimmste körperliche Schmerz, den ich je erfahren habe. Mein Körper fühlt sich an wie ausgeweidet, eine einzige offene, blutende Wunde, die nie mehr heilen wird. Das weiß ich. Ich brenne innerlich und möchte, dass mein Körper auch äußerlich brennt, ich will ihn nicht mehr, ich will das Leben nicht mehr, weil es kein Leben mehr ist, ich möchte bei meinen Kindern sein. Mira, Sophie, Noah. Ich werde ihnen folgen. Sobald sie mich lassen.
Ich verstehe nicht, warum ich hier bin, eingesperrt, als wäre ich eine Verbrecherin.
Zuerst wollte ich stark sein, überleben, kämpfen, für Bernhard, ich dachte, ich könne ihn nicht alleine lassen in diesem Schmerz und überhaupt. Doch plötzlich behaupten sie, dass er die Kinder getötet hat. Ich kann es nicht glauben. Ich will es nicht glauben. Aber vielleicht … wenn er das wirklich getan hat … dann ist alles vorbei. Ist es möglich, dass ich mich derart in ihm getäuscht habe? Kannte ich ihn wirklich, oder sind wir uns vielleicht all die Jahre immer fremd geblieben? Ist mein eigener Mann der Mörder unserer gemeinsamen Kinder?
Ich weiß es nicht. Nichts weiß ich mehr. Sie sagen, dass es kein Fremder gewesen sein kann. Keine Einbruchspuren. Kein Einbrecher im Haus. Also muss Bernhard die Kinder umgebracht haben. Denn ich war es nicht. Ich habe meine Kinder Sophie und Noah nicht getötet, so etwas könnte ich nie tun, niemals.
Ich versuche mich zu erinnern, wie Bernhard sich in dieser Nacht verhalten hat, nachdem ich ihn geweckt hatte. Er schien geschlafen zu haben, sein Atem ging schwer, ein leises Schnarchen fast, bevor ich ihn an der Schulter fasste.
Die fast ganz geschlossene Tür. Das Licht im Flur. Ich hatte Angst. Bernhard ist sofort aufgestanden, um nachzusehen.
Der Polizist hat mich gefragt, ob Bernhard schon vorher in der Nacht einmal auf war. Aber das kann ich nicht sagen. Ich habe geschlafen. Ich habe vor dem Zubettgehen nicht nur eine Kopfschmerz-, sondern auch eine Schlaftablette geschluckt. Vielleicht hat Bernhard es ausgenutzt? Ich kann mir das noch immer nicht vorstellen.
Aber womöglich muss ich mich an den Gedanken gewöhnen, dass er nicht der Mann ist, den ich meinte zu kennen. Vielleicht kennt man einen Menschen nie ganz, und jede Person verbirgt eine dunkle Seite, von der man nichts ahnt.
Der Polizist sagte, dass Väter manchmal töten, wenn sie Angst hätten, die Kinder an die Frau zu verlieren. Er wollte von mir wissen, ob Bernhard und ich uns gestritten hätten und ob wir über eine Trennung nachgedacht hätten. Das haben wir. Vor allem ich. Immer öfter.
Es begann, als ich gesundheitliche Probleme bekam. Bernhard hat mich in der Erziehung der Kinder eigentlich gar nicht unterstützt, und als ich angeschlagen war, litt ich besonders darunter. Darüber haben wir oft gestritten. Es ist immer alles an mir hängen geblieben. Ich hatte mir mehr Hilfe von ihm erwartet, mehr Unterstützung. Ich fühlte mich sehr einsam und allein, im Stich gelassen. Das war der Moment, als ich darüber nachzudenken begann, mich von Bernhard zu trennen. Ich war nicht mehr zufrieden mit meinem Leben und fühlte mich noch zu jung, um das einfach so hinzunehmen und mich in mein Schicksal zu ergeben. Ich habe mit Bernhard darüber sprechen wollen, aber er hat mich nicht verstanden und sich noch mehr zurückgezogen. Es kam immer von mir aus, nicht von ihm, wenn wir über eine Trennung gesprochen haben. Bernhard hat meine Sorgen nicht ernst genommen, er meinte, ich hätte ja alles, ich müsse nicht arbeiten, ich könne zufrieden sein.
Er sah meine Probleme nicht – oder er wollte sie nicht sehen.
Oft haben wir auch über Geld gestritten. Er behauptete, ich gebe zu viel Geld aus, was erstens nicht stimmte, und zweitens hatten wir ja genug davon. Zwei Kinder kosten nun einmal Geld, auch unsere Wohnung war teuer eingerichtet. Er arbeitet ja die ganze Zeit und ist fast nie da, er hat keine Ahnung, was so ein Haushalt kostet. Ich hätte auch gerne gearbeitet, um mein eigenes Geld zu haben, aber das wollte er nicht. Ich sollte bei den Kindern sein. Wenn wir gestritten haben, bezeichnete er mich auch schon mal als »Schlampe«. Aber meistens zeigte er mir die kalte Schulter und verzog sich in sein Zimmer. Er konnte sich stundenlang hinter seinem Schweigen verstecken. Als ob man unsere Beziehungsprobleme totschweigen könnte und sie dadurch von selbst verschwinden würden.
Sogar als ich ihm klar und deutlich mit Scheidung gedroht habe, hat er sich nicht geändert. Ich war sehr oft allein und fühlte mich nicht gebraucht.
Und auch nicht mehr begehrt.
Am Anfang gab es genug körperliche Zuwendung zwischen Bernhard und mir, doch nach den Operationen wurde es weniger. Wir hatten vielleicht einmal pro Monat miteinander Sex, mehr lief da nicht mehr. Er sagte mir mal, ich sei nicht mehr die gleiche Person wie zuvor. Ich fühlte mich nicht mehr attraktiv. Alles, was uns mal so sehr verbunden hat, ist irgendwie verloren gegangen.
Ich wollte dieses Leben mit ihm nicht mehr, ich bin nur den Kindern zuliebe so lange geblieben. Mein Ziel war die Scheidung, danach plante ich, gemeinsam mit den Kindern ein neues Leben zu beginnen. Nie hätte ich gedacht, dass Bernhard fähig wäre, unsere Kinder zu töten. Noch vor zwei Tagen hätte ich gesagt, dass ich Bernhard zu hundert Prozent vertraue und meine Hand für ihn ins Feuer legen würde.
Heute kann ich das nicht mehr sagen.
Ich fühle mich verloren.
Die Situation ist nicht auszuhalten. Gleichzeitig glaube ich, dass ich immer noch unter Schock stehe, dass ich noch nicht begriffen habe, was wirklich passiert ist – oder dass es wirklich mir passiert ist, dass meine Kinder tot sind, dass mein Mann sie getötet haben soll. Es fühlt sich an, als wäre es jemand anderem passiert oder als wäre es nur ein ganz schrecklicher Traum, aus dem ich in der nächsten Sekunde aufwache und erleichtert feststelle, dass es nicht die Wirklichkeit ist.
Und wenn ich mir dann sage, doch, es ist passiert, es ist mir passiert – dann denke ich mit einer klaren Nüchternheit: Mein Leben ist vorbei.