Ärztin des Instituts für Rechtsmedizin
Ich hatte Dienst in dieser traurigen Nacht vor Weihnach- ten. Als der Alarm reinkam, hieß es, es gehe um zwei tote Kinder. Mir wurde die Adresse mitgeteilt, aber mehr sagten sie nicht. Etwa eine halbe Stunde nach der Polizei war ich vor Ort. Ich betrat die Wohnung im ersten Stock, rechts lag ein Zimmer, in dem die Kollegen vom Rettungsdienst gerade ihre Sachen wegräumten. Sie sagten mir, sie hätten zwanzig Minuten lang versucht, das Mädchen wiederzubeleben. Aber da sei nichts mehr zu machen gewesen.
Im zweiten Zimmer lag Noah, der Bub, er war schon steif, sein Kiefer war völlig unbeweglich. Sophie war noch weicher, ich konnte ihren Mund noch öffnen, keine Kieferstarre. Ihr Körper war auch noch etwas wärmer als der ihres Bruders. Beide Kinder hatten eingetrocknetes Blut an der Nase. Der Zustand der beiden legte nahe, dass der Todeszeitpunkt schon etwas länger zurückliegen musste. Sie waren schätzungsweise seit etwa zwei Stunden tot, als ich am Tatort eintraf.
Ich gehe davon aus, dass sich der Junge viel stärker zur Wehr gesetzt hat als das Mädchen, ich glaube sogar, dass er sich wie wahnsinnig gewehrt hat. Das würde erklären, warum sein Körper steifer war als jener seiner Schwester, als ich die beiden fand. Das liegt an den Muskelfasern: Weil Noah durch einen Kampf bereits alle Muskelenergie verbraucht hatte, trat die Totenstarre schneller ein.
Vor Ort hatte ich ein seltsames Gefühl. In den Zimmern der Kinder gab es keine Zeichnungen, in der gesamten Wohnung hingen keine Bilder. Ich bin selbst Mutter. Unser Kühlschrank ist tapeziert mit Kinderzeichnungen. Ich empfand die Wohnung als sehr beengend, da lag kein Staubkörnchen rum, ich könnte dort auf jeden Fall nicht leben. Aufgefallen ist mir auch, dass der Junge noch immer Windeln trug, das ist nicht normal in seinem Alter. Beide Kinder waren angezogen wie Puppen, alles schien super korrekt zu sein. Überkorrekt. Die ganze Situation hatte etwas Surreales und wirkte auf mich sehr befremdlich. Fast so, als hätte man mich in eine Szenerie versetzt, die sorgfältig für einen Fotografen inszeniert worden ist.
Nach der ersten Leichenschau vor Ort brachten wir die Kinder zur Obduktion ins Institut. Dort entnahm ich bei Sophie einen Vaginal-, einen Oral- und einen Analabstrich, bei Noah einen Oral- und Analabstrich. Sie waren alle negativ, das heißt, es gab keine Hinweise auf Spermaspuren. Wir haben auch andere Körperstellen mit Wattetupfern abgestrichen, aber diese Proben waren ebenfalls negativ; kein Sperma. Ich gehe daher davon aus, dass es zu keinem sexuellen Missbrauch gekommen ist, weder vor noch während noch nach der Tötung.
Auch die chemisch-toxikologische Untersuchung der Opfer ergab keinen Befund; die Kinder hatten keine Spuren von Medikamenten im Blut. Sie wurden vor der Tat also nicht betäubt.
Noah hatte Punktblutungen in den Augenlidern, Schaumbildung am Mund, Schaum in der Nase. Ich fand eine Schürfwunde an seinem Hals, fünf Zentimeter lang, die von einem Fingernagel stammen könnte, aber nicht stammen muss. Am Rücken fanden sich diverse punktförmige Blutungen, Staublutungen, die entstehen durch eine Druckdifferenz zwischen Arterie und Vene. Grund dafür kann Herzversagen oder Ersticken durch eine mechanische Einwirkung sein. Auch in der Bindehaut wies der Junge Blutpunkte auf, und beim Abnehmen der Schädeldecke stieß ich ebenfalls auf eine Blutung, was auf eine nicht unerhebliche mechanische Gewalt hindeutet. Überdies war Magensaft in seine Lunge gelaufen. Am Kehlkopf und an den Halswirbeln stellte ich keine Verletzungen fest.
Bei Sophie ergab sich ein ähnliches Bild. Sie wies Staublutungen in den Organen sowie eine Einblutung in der Halsmuskulatur auf, was auf Würgen oder Erdrosseln hindeutet. Auch erkannte ich auf ihrem Gesicht den Abdruck eines schwachen Musters.
Mit großer Wahrscheinlichkeit wurden beide Kinder mit stumpfer Gewalt erstickt, zum Beispiel, indem man ihnen ein Kissen auf das Gesicht gepresst hat. Bei Sophie kann ein Würgen nicht ausgeschlossen werden. Beide Kinder wurden massiv fixiert, wahrscheinlich indem der Täter den Rumpf umklammert hat, und daran gehindert, sich zu wehren.
Es muss sich um einen Todeskampf gehandelt haben, der mehrere Minuten gedauert hat. Da drückt man nicht einfach mal ein Kissen aufs Gesicht, und der Mensch ist tot. Das dauert einige Zeit und erfordert Kraft. Die meisten stellen sich das einfacher vor, als es ist.
Drei Tage nach der Tat sahen die Eltern ihre Kinder Sophie und Noah bei uns im Institut zum letzten Mal, um sich von ihnen zu verabschieden. Sie wurden von der Polizei aus ihren Zellen hergebracht. Offensichtlich haben sie sich seit der Tatnacht nicht wiedergesehen. Die Polizisten erlaubten ihnen, sich zu umarmen, dann führten wir sie zu Sophie und Noah. Es war ein sehr emotionaler Moment. Ihre Trauer war greifbar. Sie verbrachten etwa eine Stunde bei den Kindern. Es war ein Wechselbad der Gefühle, beide weinten und wirkten bestürzt. Da war eine tiefe Trauer, sie konnten es nicht fassen. Der Vater schien vor allem nicht begreifen zu können, dass Noah nicht mehr lebt. Auch die Mutter wirkte tieftraurig. Mir fiel aber auf, dass sie mehr von ihrer ersten Tochter als von den beiden Kindern sprach, die tot vor ihr lagen, von ihrem Baby, das sie vor neun Jahren verloren hatte: Mira.
Auch bei Mira habe damals ich die Obduktion durchgeführt. Ich habe meinen Bericht noch einmal studiert. Ich konnte bei dem Säugling Bakterien nachweisen; Mira hatte einen Ohren-Nasen-Hals-Infekt, sie war ein bisschen erkältet. Anzeichen auf mechanische Gewalt fand ich keine. Daher erachtete ich einen plötzlichen Kindstod als wahrscheinlich. Allerdings stieß ich auch auf Blutungen in der Lunge, was wiederum auf Ersticken mit einem Kissen hindeuten könnte. Aber das ist ganz schwierig zu sagen. Bei einem plötzlichen Kindstod kann nie zu hundert Prozent ausgeschlossen werden, dass nicht doch eine Gewalttat stattgefunden hat. Heute, unter diesen Umständen, erscheint die Geschichte von damals natürlich in einem anderen Licht. Doch trotz der neuen Ausgangslage halte ich an meinem alten Befund fest: Es lässt sich aufgrund der damaligen Obduktion nicht beweisen, dass Mira ebenfalls erstickt worden ist.