Schwester von Bernhard Scherrer
Von einem Tag auf den anderen ist unsere Familie zer- stört worden. Ich war gerade mit den Kindern auf dem Spielplatz, als mein Vater anrief, doch noch bevor er zum Sprechen ansetzen konnte, ist er in Tränen ausgebrochen. Ich habe kein Wort verstanden und war zuerst überzeugt, dass Mutter gestorben wäre. Erst als sich mein Vater etwas beruhigt hatte, realisierte ich, dass es um Bernhard ging. Und um Sophie und Noah. Auch das Wort Polizei erkannte ich, ich rechnete mit einem Unfall. Ein Unfall, womöglich mit schlimmem Ausgang, aber noch klammerte ich mich an die Hoffnung, dass niemand gestorben war. Wo Bernhard jetzt wäre?, fragte ich Vater. Er antwortete: Im Gefängnis.
Ich gebe es nicht gerne zu, aber in diesem Moment dachte ich, dass Vater erkrankt war, dass er nicht mehr bei klarem Verstand war. Ich verstand überhaupt nichts mehr. Nach und nach fand er die Worte wieder, aber ich konnte noch immer nicht glauben, was er sagte: Sophie und Noah tot, von einem Einbrecher ermordet, Vera und Bernhard im Gefängnis. Die Geschichte, die mir mein Vater erzählte, hatte nichts Wirkliches an sich. Ich konnte einfach nicht glauben, dass das tatsächlich passiert war. Bis es zwei Tage später in allen Zeitungen stand.
Acht Wochen sind seit der Tat vergangen, acht Wochen, und noch immer wissen wir nicht, wer die Kinder umgebracht hat, noch immer sind Vera und Bernhard in Untersuchungshaft. Und, das muss ich ehrlich sagen, noch immer kann ich nicht fassen, dass das wirklich geschehen ist und immer noch geschieht. Ich begreife es einfach nicht. Dass Bernhard im Gefängnis sitzt, ist ein riesiger Justizskandal. Das wird ein Nachspiel haben, so viel ist sicher.
Das letzte Mal, dass ich Vera und Bernhard und die Kinder gesehen habe, war im November. Es kommt mir sehr viel länger vor, als wäre es in einem anderen Jahrhundert gewesen oder in einem anderen Leben. Wir trafen uns im Café Neuhaus. Ich wusste, dass es Vera eine lange Zeit nicht gut ergangen ist, dass bei der ersten Magenbandoperation etwas schiefgelaufen war, aber sie sah sehr viel schlanker aus als bei unserem vorletzten Kontakt. Auch gesünder und munterer.
Meinem Bruder wird vorgeworfen, er hätte die Kinder getötet, weil Vera sich trennen und ihm die Kinder wegnehmen wollte. Ich halte das für Unsinn. Aber natürlich macht man sich trotzdem seine Gedanken. Ich zerbreche mir wieder und wieder über die beiden den Kopf. Aber ich komme stets zum selben Schluss: Über die Beziehung zwischen meinem Bruder und Vera kann ich nichts Schlechtes sagen. Es ist mir nichts aufgefallen. Bei diesem letzten Mal, als ich sie gesehen habe, wirkten sie wie immer, vertraut, friedlich, nichts deutete darauf hin, dass sie sich über eine Trennung Gedanken machten. Man spürt es, wenn die Situation zwischen zwei Menschen angespannt ist, aber da war nichts. Alles war ganz normal und so wie immer.
Ich habe auch über meinen Bruder nachgedacht. Nächtelang, wenn ich wach gelegen habe. Ich versichere Ihnen: Man kann es drehen und wenden, wie man will, mein Bruder hat seine Kinder nicht getötet. Bernhard ist ein sehr guter Mensch und ein fürsorglicher Mann. Er ist überaus großzügig und hat Vera immer in allem unterstützt. Die Behauptung, dass ihm Geld wichtig war, ist falsch. Er war auch nicht mit den Kindern überfordert. Das stimmt alles nicht.
Es waren wunderbare Kinder.
Falls es wirklich keinen Einbrecher gegeben hat, dann muss es Vera gewesen sein, obwohl auch diese Theorie für mich schwer vorstellbar ist. Sie war immer nett zu mir, fürsorglich fast, wenn ich zu Gast war. Sie wirkte aufgeweckt, aber ich wusste von Bernhard, dass sie nicht immer glücklich war. Sie ist eine Zugezogene und hat hier kein großes soziales Netz, aber ich hatte manchmal auch den Eindruck, dass sie nicht viel dafür tat, um besser integriert zu sein.
Und dann war da eben die Geschichte mit der Kreditkarte. Ich wollte sie der Polizei zunächst nicht erzählen, weil es erstens lange her ist und es zweitens nichts zur Sache tut. Aber sie haben gesagt, dass alles, was ich weiß, wichtig sein kann. Selbst das kleinste Detail. Also hab ich es dann doch erzählt.
Es geschah nach Miras Tod und vor Sophies Geburt. Ich war bei Bernhard und Vera zu Besuch, weil ich meinen Bruder in der schweren Zeit unterstützen wollte, ich sprach lange mit ihm, draußen im Garten. Vera war drinnen in der Wohnung, das dachte ich zumindest. Zwei, drei Wochen später entdeckte ich auf der Kreditkartenabrechnung, dass an einem Geldautomaten Bargeld abgehoben worden war, aber nicht von mir. Ich vermisste meine Karte gar nicht und vergewisserte mich, ob ich sie noch hatte, und sie steckte tatsächlich in meinem Portemonnaie, dort, wo sie immer ist. Ich fand das sehr eigenartig und intervenierte natürlich bei meiner Bank, die prüfte, wann genau und bei welchem Automaten die Auszahlung erfolgt ist. Ich schaute in meiner Agenda nach und sah, dass ich zu dieser Zeit bei Bernhard zu Besuch war. Hier handelte es sich eindeutig um ein Missverständnis, es konnte niemand mit meiner Karte Geld abgehoben haben. Doch die Bank behauptete nach wie vor das Gegenteil und schickte mir schließlich als Beweis die Videoaufnahme des Geldautomaten. Ich konnte kaum glauben, was ich darauf sah: Das Video zeigte, dass Vera mit meiner Karte Geld abgehoben hatte. Sie muss das ganze Portemonnaie aus meiner Tasche entwendet haben – ich bewahre den PIN-Code darin auf –, danach hat sie es wieder zurückgesteckt. Ich entschied mich, keine Anzeige zu erstatten. Auch wollte ich Bernhard nicht einweihen, bevor ich mit Vera darüber geredet hatte.
Ich stellte sie also zur Rede, und Vera gab es sofort zu. Sie gab mir auch das Geld umgehend zurück. Sie erklärte, es sei aus einem Reflex heraus geschehen, sie verstehe es selbst nicht, es tue ihr leid. Und sie flehte mich an, es Bernhard nicht zu sagen. Das tat ich dann auch nicht. Er ist zwar mein Bruder … aber mir war klar, dass sich Vera in einem Ausnahmezustand befand, sie war nicht sie selbst nach dem Tod von Mira. Ich versetzte mich in ihre Lage und erkannte, dass auch ich nicht gewollt hätte, dass mein Mann davon erfahren würde, wenn ich so etwas gemacht hätte. Also schwieg ich. Vielleicht war es auch ein Fall von Frauensolidarität. Auf jeden Fall habe ich sie nicht verraten.
Vielleicht hätte ich die Angelegenheit gegenüber der Polizei nicht erwähnen sollen. Das wirft nun womöglich ein schlechtes Licht auf Vera, was nicht meine Absicht war.
Ich kann mir auch vorstellen, dass Sie nun denken, ich erzähle diese Geschichte einzig darum, weil ich meinen Bruder reinwaschen und den Verdacht auf Vera lenken will. Aber so ist es nicht. Die Sache mit der Kreditkarte ist nicht wichtig. Sie hat nichts zu bedeuten. Und vor allem bedeutet es noch lange nicht, dass eine Frau, die neben sich steht, weil sie gerade ein Kind verloren hat, und die aus einem Reflex heraus eine Kreditkarte entwendet und unerlaubterweise Geld damit abhebt, dass diese Frau Jahre später ihre eigenen Kinder umbringt. Das heißt es natürlich nicht. Ich hab davon erzählt, weil die Polizei darauf insistiert hat, dass jedes Detail wichtig sein könnte. Aber dieses Detail ist nicht wichtig.
Ich weiß, dass Bernhard es nicht getan hat. Er ist kein Mörder. Und ich glaube auch nicht, dass Vera die Kinder umgebracht hat. Sie liebten beide ihre Kinder. Ich hoffe noch immer, dass man den wahren Täter findet und dass es jemand ist, den ich nicht kenne.