Rechtsanwalt
Als ich das Mandat erhielt, Bernhard Scherrer zu vertei- digen, war ich unsicher. Unsicher, ob er der Täter oder ob er ein Opfer ist. Spätestens als klar war, dass in seiner Wohnung kein Einbruch stattgefunden hatte, wusste ich nicht mehr, ob und was und wie viel ich ihm glauben sollte. Aber das spielt keine Rolle, das darf keine Rolle spielen. Verteidige ich einen Menschen, stelle ich mich voll und ganz in seinen Dienst. Wenn er sagt, er sei unschuldig, dann ist er das für mich auch. Denn falls es zu einem Gerichtsprozess kommt, gibt es nur noch Schwarz und Weiß. Entweder man steht zu hundert Prozent hinter seinem Mandanten, oder man lässt es bleiben.
Vor Gericht erzähle ich seine Geschichte. Meine Meinung bleibt außen vor.
Gehe ich also einen neuen Fall an, sieht mein Vorgehen folgendermaßen aus: Bestreitet mein Mandant die Tat, der er beschuldigt wird, will ich die Details zunächst nicht hören. Ich beurteile den Fall einzig aufgrund der Aktenlage. Komme ich zum Schluss, dass die Beweislage nicht ausreicht, um meinen Mandanten der Tat zu überführen, dann will ich gar nicht wissen, ob er sie begangen hat oder nicht. Denn später, vor Gericht, wird einzig entscheidend sein, was bewiesen werden kann. Ich schaue mir also die Akten an und schildere meinem Mandanten, wie sich die Lage aus der Sicht des Richters präsentiert. Er muss dann entscheiden, ob er die Tat weiterhin bestreiten will oder nicht. Entscheidet er sich, auf unschuldig zu plädieren, dann unterstütze ich ihn dabei. Falls die Beweislage schwierig oder aussichtslos für ihn ist, weise ich ihn natürlich auch auf andere Strategien hin, zum Beispiel auf ein Geständnis. Ich erkläre ihm, was aus meiner Sicht die beste Taktik wäre. Aber letztlich bleibt es immer seine Entscheidung.
Sie fragen sich nun sicher, wie ich es mit meinem Gewissen vereinbaren kann, einen Mörder zu verteidigen, wenn ich nicht von dessen Unschuld überzeugt bin, oder mehr noch: wenn ich vielleicht sogar von dessen Schuld überzeugt bin. Die Frage wird mir immer wieder gestellt. Für mich aber gilt: Meine Meinung spielt keine Rolle. Wenn eine Tat nicht bewiesen werden kann, steht die Wahrheit nicht fest.
Trotzdem möchte ich hier klarstellen: Einen wegen Mordes angeklagten Menschen zu verteidigen bedeutet nicht, die Tat gutzuheißen oder sich mit dem Täter zu identifizieren. Es bedeutet einzig, die Rechtsstaatlichkeit zu wahren und zu verteidigen. Und ja, manchmal hat das zur Folge, dass ich einen Schuldigen freibekomme – aber es kann auch bedeuten, dass ich einen Unschuldigen vor einer langen Freiheitsstrafe bewahre. Es ist meiner Meinung nach nicht eine Frage der Moral, ob man einen des Mordes beschuldigten Menschen verteidigt – es ist eine Frage des Glaubens an den Rechtsstaat und die Annahme, dass jeder Mensch als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen ist.
Das klingt jetzt alles sehr pathetisch, und natürlich gestaltet sich jeder Fall anders, aber grundsätzlich sind das die Werte, an die ich mich halte. Es gibt jedoch Fälle, die mir – obwohl ich versuche, die Distanz zum Delikt zu wahren – näher gehen als andere.
Wie zum Beispiel dieser Fall.
Als ich Bernhard Scherrer das erste Mal traf, war die Aktenlage noch dünn. Aber schon da schien klar, dass es den ominösen Einbrecher nie gegeben hat, und die Beweise dafür folgten kurz darauf. Ich schilderte Bernhard Scherrer also, wie ich aus der Perspektive des Richters die Situation beurteilen würde: Es ist spurentechnisch erwiesen, dass er oder seine Frau oder beide zusammen die Tat begangen haben und dass ein Dritttäter ausgeschlossen werden kann. Weil aber zwei Personen für die Tat infrage kommen, ist es alles andere als einfach zu beweisen, welche der beiden es war. Eine schwierige Ausgangslage, auch für mich, um ehrlich zu sein. Denn wenn sowohl Bernhard Scherrer wie auch seine Frau die Tat bis zuletzt leugnen werden – dann fehlt dem Gericht ein Beweis, um den einen oder den anderen zu überführen. Und wenn nicht bewiesen werden kann, dass es der Vater oder dass es die Mutter gewesen ist, gilt in dubio pro reo: Das Urteil würde im Zweifel für den Angeklagten auf Freispruch lauten.
Daher ist die Ausgangslage in diesem Fall sehr speziell, und im Grunde genommen sieht es für meinen Mandanten gar nicht so schlecht aus, ganz egal, ob er es getan hat oder nicht. Zumal die Spurenlage tendenziell eher auf die Frau als Täterin hindeutet. Aber das sind nichts als Indizien. Bewiesen ist damit nichts.
Trotzdem wünschte ich mir, wir würden eine andere Verteidigungsstrategie fahren. Wir müssen Bernhards Frau ins Visier nehmen, es geht nicht an, dass er sie weiter verteidigt, er gefährdet sich dadurch nur selbst. Aber so weit habe ich ihn noch nicht.
Strafverteidigung ist eine sehr persönliche Angelegenheit. Als Verteidiger muss ich meinem Mandanten näherkommen, er muss sich mir öffnen, und das braucht manchmal Zeit. Für mich ist es sehr wichtig, dass mein Klient mir voll vertraut. Ich weiß, einige Kollegen sehen das anders. Aber wenn ich kein Vertrauensverhältnis aufbauen kann, kann ich meine Arbeit als Anwalt nicht wahrnehmen. Überlegen Sie sich also gut, wen Sie sich zum Verteidiger nehmen, falls Sie mal einen nötig haben sollten. Wenn es nicht passt, haben Sie schon verloren.
Bernhard Scherrer hat mir sofort vertraut – und doch komme ich einfach nicht ganz an ihn heran. Heute, nach den vielen Befragungen und den zahlreichen Wochen, die er bereits in Untersuchungshaft sitzt, hat sich meine Einstellung geändert. Ich bin nicht mehr unsicher, ob er der Täter ist – vielmehr bin ich überzeugt, dass er unschuldig ist.
Die Kommissarin hingegen scheint noch immer zu glauben, dass er die Tat gemeinsam mit seiner Frau oder sogar in ihrem Auftrag begangen haben könnte. Ich schließe das aus. Ich denke: Sie hat es getan, und sie hat es ganz alleine getan.
Darum möchte ich, falls es zur Gerichtsverhandlung kommt, genau diese Strategie fahren: Mein Mandant ist unschuldig – seine Frau hat die Kinder getötet. Aber Bernhard will das nicht hören, da macht er komplett zu. Ich habe mehrmals versucht, ihn zu überzeugen. Vergebens. Er hält sich an dem Trugbild fest, an das er sein ganzes Erwachsenenleben lang geglaubt hat: dass er die wundervollste Frau der Welt geheiratet hat. Er klammert sich an eine falsche Wahrheit, für ihn ist es unvorstellbar, dass sie seine Kinder umgebracht haben könnte. Er meint, sie zu kennen. Aber wen kennt man schon wirklich? Vieles war nicht so, wie Bernhard dachte, vieles ist anders, als er glaubt. Jede Tat hat ihre Geschichte. Doch in dieser Geschichte spielt nicht Bernhard, sondern seine Frau Vera die Hauptrolle.