Polizeiliche Sachbearbeiterin

Nach der Pause kam der Zusammenbruch. Der war nicht gespielt, aber das hat nichts zu bedeuten. Scherrer hat nur noch geweint, er hatte sich nicht mehr unter Kontrolle, aber ich darf mich davon nicht beeindrucken lassen. Das lernt man in der ersten Stunde: Sich ja nicht zu früh auf eine Spur einschießen, sonst verliert man das Gesamtbild aus den Augen und übersieht vielleicht etwas. In diesem Fall ist nichts unmöglich. Ich muss offen bleiben für alle Hinweise.

Ich habe Bereitschaftsdienst über die Feiertage, wie jedes Jahr. Weihnachten ist mir nicht wichtig. Ich feiere nicht und ich habe auch keine Familie, die feiern will, daher steht fest, dass ich ausrücke, wenn was ist. Und über Weihnachten ist immer etwas, vor allem abends und erst recht nachts. Von wegen Heilige Nacht – unheilvolle Nächte sind das. Die Familien halten es mit sich selbst nicht aus und schlagen sich halb tot.

Oder eben ganz.

Mit zwei toten Kindern habe aber auch ich natürlich nicht gerechnet, das ist schon heftig. Das fährt einem in Mark und Bein, das wünscht man keinem. Mein Pager ging mitten in der Nacht los. Ich war sofort hellwach und fuhr von zu Hause direkt an den Tatort. Als ich hörte, dass es um Kindstötung geht, war mir von Anfang an klar, dass es der Beginn einer großen Geschichte war und nicht bloß ein

Ich werde so rasch als möglich mit der Medienabteilung Kontakt aufnehmen müssen. Ein zweifacher Kindermord – das öffentliche Interesse und die Schlagzeilen werden riesig sein. Das ist nicht gut, es erschwert unsere Ermittlungen enorm. Und es erhöht den Druck: Springen die Medien auf einen Fall an, wollen Politik und Volk am liebsten schon am nächsten Tag einen Täter präsentiert bekommen. Wir müssen versuchen, gleich von Beginn an die Berichterstattung über den Fall in eine einigermaßen annehmbare Richtung zu steuern. Doch darum kümmere ich mich morgen. Auch die Redaktionen werden derzeit nur spärlich besetzt sein, es reicht, wenn wir die Medien nach den Feiertagen informieren. Wichtig ist, dass wir ruhig bleiben und uns nicht unter Druck setzen und beeinflussen lassen.

Am Tatort nahm ich nur einen kurzen Augenschein vor, die Spurensicherung war noch immer bei der Arbeit. Danach ließ ich die Eltern getrennt voneinander in die Polizeizentrale bringen und begann noch in der Nacht mit der Befragung des Vaters, während sich mein Kollege mit der Mutter unterhielt.

Es war kein einfaches Gespräch. Ein Vater, der gerade seine Kinder verloren hat – und von dem ich nicht weiß, ob er Opfer ist oder Täter. Es sieht nach einem Einbruch aus, aber ein Einbrecher, der in eine Wohnung steigt und zwei Kinder tötet? Wie gesagt, nichts ist unmöglich. Aber es gibt Wahrscheinlichkeiten. Und die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fremder in eine Wohnung einbricht und zwei Kinder umbringt, ist gering. Sehr gering. Werden Kinder getötet, kannten sie in den allermeisten Fällen ihren Mörder – oder ihre Mörderin. Meist stammt die Täterschaft aus dem

In unserem Fall wissen wir noch nicht, ob die Kinder sexuell missbraucht worden sind – die Obduktion ist noch nicht abgeschlossen, der Bericht steht noch aus. Wir werden sehen. Aber ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass jemand in ein Haus schleicht, sich im Zimmer neben den schlafenden Eltern zuerst an dem einen, dann am anderen Kind vergreift und die beiden anschließend tötet. Das geht mir nicht in den Kopf rein. Aber es gibt Verbrechen, die man nicht verstehen und die man sich nicht vorstellen kann – bis sie wirklich geschehen.

Der Vater, Bernhard Scherrer, wirkte zu Beginn einigermaßen gefasst, ich habe ihn am Anfang mit ein paar allgemeinen Fragen beruhigen können. Nach der Pause war er sehr aufgewühlt und aufgeregt, ich musste dann abbrechen, das brachte nichts. Vielleicht war es ein Fehler, eine Pause zu machen, aber im Nachhinein ist man immer schlauer.

Ob ich ihn für schuldig halte? Es ist zu früh, um mir eine Meinung zu bilden. Sobald die Ergebnisse der Spurensicherung und der Obduktion vorliegen, werden wir mehr wissen. Gewiss ist nur, dass ich Scherrers Vertrauen gewinnen muss, damit er sich mir öffnet. Es ist eine Gratwanderung: Bin ich die verständnisvolle, vorsichtige Fragenstellerin,

Dieser Fall ist eine echte Herausforderung. Ich nehme sie an. Darum bin ich geworden, was ich bin. Ich will die Wahrheit finden.