8

Johannes Adressbuch liegt neben dem Telefon, ich wähle Pauls Nummer. Es tutet, und ich beiße mir gerade ins Handgelenk, als meine Mutter draußen nach mir ruft.

Meine Mutter und Tante sind auf einem kleinen Pfad ein Stück in den Wald hineingegangen. Ich schlüpfe in Omas Clogs und folge ihnen bis zu einer Lichtung, wo auf einem kreisrunden Stück das Gras gemäht wurde. Dort liegt ein Stein, neben dem eine blaue Glasvase mit einer kleinen, welken roten Rose steht. Mit dem nackten Fuß schiebe ich einige Blätter beiseite. Auf dem Stein sind ein paar Buchstaben und eine Zahl zu sehen.

»Den habe ich noch nie gesehen«, sagt Vibeke.

»Meinst du, dort liegt ihr Hund?«

»Der erste Buchstabe sieht aus wie ein E.«

»Wenn es der Hund ist, wäre Johanne allein im Wald«, sagt meine Mutter. »Marie, hast du Paul erreicht?«

»Er ist nicht ans Telefon gegangen.«

»Dann musst du jetzt rübergehen.«

Langsam schlüpfe ich in die Jacke und hänge mir meine Tasche über die Schulter. Ich sehe mich im Spiegel an, bessere mein Make-up nach und ziehe mein Haarband fest. Mein Gesicht ist älter geworden, die Stirnfalten, die schrägen Runzeln zwischen den Augen.

Der Pfad durch den Wald zu Paul, der Schleichweg.

Meine Sneaker auf dem kahlen Boden, die Baumkronen über meinem Kopf. Die metallische Schwere in meinem Körper, die mir ein Gefühl verleiht, als wäre ich blind.

Ich spähe zwischen die Bäume, und da ist etwas. Dort, in der Dämmerung, leuchtet ein Herzlicht, wild und weiß, vor meinem inneren Auge. Pauls und meine lebendige Gestalt, in der Erinnerung bewahrt, wir sind noch da. Leuchten wir?

Ich werfe einen Blick auf mein Telefon: kein Strich, ein Strich, zwei Striche, kein Strich. Ab und zu habe ich Empfang, ich könnte Fine anrufen.

Auf dem Boden liegen schwarze Steine, auf denen Moos wächst und seine kleinen Antennen ausstreckt. Es riecht nach Kaminrauch.

Jetzt habe ich erst einen Strich, dann wieder drei und sogar vier. Pauls Haus gerät in Sicht. Auf dem Hofplatz hält ein Geländewagen, neben dem Schuppen hängt kopfüber ein erlegtes Tier.

Das Dach ist von braunen Nadeln beschwert, die Bäume haben das Haus umwuchert. Paul bekommt kein Sonnenlicht durch seine Fenster.

Ich habe vier Striche, und jetzt läuft hinter dem Haus eine Person hin und her und fängt an, Holz zu hacken.

Das Telefon klingelt, ich gehe sofort ran. Fine ist atemlos.

»Hallo, Mama.«

»Hallo, mein Schatz«, flüstere ich.

»Du hast mich geweckt.«

»Nein, du hast doch mich angerufen?«

Fine verstummt.

»Hast du noch Fieber?«

»Was hast du gesagt?«

»Kannst du das Telefon denn nicht lauter stellen?«

»Wie bitte?«

Ich wiederhole meine Frage nach dem Fieber lauter. Sie sagt, sie glaube nicht, dass sie noch Fieber habe. »Aber was ist das für ein Lärm bei dir im Hintergrund?«

»Ach, nichts.«

Sie schweigt erneut, und ich flüstere: »Ist Papa auch da?«

»Der wollte heute früh schlafen gehen.«

»Hattest du Albträume?«

Sie antwortet nicht.

»Fine, was träumst du eigentlich?«

»Das ist schwer zu erklären … Ist Uroma da? Kann ich mit ihr sprechen?«

Sie hustet, ich halte das Telefon ein Stück vom Ohr weg.

»Uroma ist im Wald spazieren gegangen. Wir wissen gerade nicht genau, wo sie ist.«

»War sie sehr traurig?«

Ich antworte nicht.

»Mama, kann ich nicht nachkommen, wenn ich jetzt wieder gesund werde?«

»Was hast du gesagt?«

Ich flüstere »Hallo?«, wieder und wieder. Doch sie wiederholt ihre Frage nicht.

»Fine«, sage ich. »Vielleicht verschwinden Albträume, wenn man sie erzählt. Das ist so, wie wenn man glaubt, hinter der Tür würde ein Monster lauern, und es mit seinem Handy anleuchtet. Dann hat man es sich vielleicht nur eingebildet, weil … dort eine Jacke hängt. Oder …«

»Hm.«

Jetzt ist es dort, wo vorher Holz gehackt wurde, still.

»Jetzt kann ich wieder nicht hören, was du sagst.«

»Was träumst du?«

»Also, ich weiß nicht, ob ich wirklich Angst hatte. Aber ich habe mich gleichzeitig auch in der Wirklichkeit bewegt. Ich bin davon aufgewacht, dass ich mit dem Knie gegen die Wand gestoßen bin.«

Die Gestalt geht zum Vorplatz, holt etwas aus dem Auto, bleibt mit der Hand auf der Kofferraumklappe stehen. Ein Augenpaar hat mich gesehen. Mein Herz hämmert in der Brust, es hämmert in der Hand, im Telefon, es zittert in meinem Ohr.

»Tja, also …«, sagt Fine. »Irgendwie war ich ganz allein, und doch wieder nicht. Da waren ein paar … sie waren … sie waren ganz grün.«

»Schon gut«, flüstere ich. »Erzähl es mir ein andermal. Ich lege jetzt auf, okay? Und du kannst ja versuchen, wieder einzuschlafen.«

»Gute Nacht«, murmelt sie und verschwindet mit einem Klicken.

Ich stecke das Telefon in die Tasche. Wir sehen uns weiterhin an. Er kann nicht erkennen, wer ich bin, denke ich. Er ist noch nicht auf den Gedanken gekommen. Und jetzt? Wird er ein Gewehr holen? Schießt er auf Eindringlinge, die sein Grundstück betreten?

Ich drehe mich um und gehe davon. Für einen Moment wünsche ich mir, dass eine Kugel durch mich hindurchschießt, als ich flüstere: »Es gibt ihn, es gibt ihn wirklich. Paul ist hier. Paul wohnt im Wald. Mein Paul ist noch hier.«

Ich vermisse ihn so, wie ich ihn immer vermisst habe. Vermisst er mich? Was hat Johanne ihm erzählt? Weiß Paul etwas von Fine?

Es raschelt. Ich bleibe stehen. Das Geräusch verstummt. Ich gehe weiter, es raschelt erneut. Ein Wolf? Ein Luchs? Ein Bär? Ich beschleunige meine Schritte, würde am liebsten losrennen, aber wenn es ein wildes und gefährliches Tier ist, würde ich es durch eine Flucht nur noch mehr anstacheln.

Johannes Haus kommt in Sicht.

Natürlich sind wir unterschiedlich, Paul und ich. Er wohnt im Wald und hat keine Schule besucht. Ich habe studiert und bin die Tochter einer Mutter, die sich nicht im Geringsten für die Natur interessiert.

»War er da?«

Meine Mutter rührt in einem Topf, es riecht nach Fleisch und Kartoffeln.

»Ich versuche es später noch mal.«

Sie klopft den Löffel am Rand des Topfes ab.

»Hast du geklingelt?«

»Ja.«

Ich fröstele im Wasserdampf, meine Mutter auch.

»Soll ich den Ofen anheizen?«

Im Korb liegen Holzscheite und alte Zeitungen und dazwischen einige Seiten von Omas Briefen.

Ich reiße das Papier in Streifen, werfe es in den Ofen, lege zusammengeknüllte Zeitungsseiten darauf und stelle die Holzscheite darüber auf wie ein Tipi.

Ein Streichholz und noch eins. Das Zeitungspapier leuchtet, und ich muss nicht einmal pusten, weil das Holz schon vorher von Flammen erfasst wird.

»Danke«, sagt meine Mutter.

Der weiße Rauch steigt auf, gleitet über die Bäume hinweg.

Wir bekamen regelmäßig Post von Tante Vibeke aus den USA. Meine Mutter schrieb ebenso regelmäßig zurück, und dann gingen wir zusammen zum Briefkasten, damit ich den Umschlag einwerfen konnte. Ich hatte immer ein selbstgemaltes Bild beigelegt.

Ich vermisste meine Tante, ich liebte sie.

Zu Hause kroch ich manchmal unter das Sofa und weinte. Wenn meine Mutter mich fände, würde sie mich bestimmt fragen, warum ich so traurig sei, dachte ich.

Hatte ich Tante Vibekes Brief deshalb gelesen? Den Brief, der nur für meine Mutter bestimmt war? Ich hatte beobachtet, wo meine Mutter ihn versteckte. Hinter den Kochbüchern.

Der Brief war grausam und enthielt nicht einen Anflug von jener Freude, die aus Vibekes Briefen an die ganze Familie sprach; keine netten Beschreibungen von kleinen, alltäglichen Begebenheiten. Obwohl ich nie die Gelegenheit bekam, die Briefe meiner Mutter an meine Tante zu lesen, spürte ich, dass sie ganz ähnlich gewesen sein mussten.

Meine Mutter und Tante Vibeke wünschten sich nichts sehnlicher, als wieder vereint zu sein. Sie vermissten einander wahnsinnig und machten sich ständig gegenseitig Vorwürfe: Warum kommst du mich so selten besuchen? Warum soll immer ich dich besuchen? Ich wünschte, ich hätte nie geheiratet. Ich wünschte, ich hätte nie Kinder bekommen.

Sie beklagten sich über ihre Männer. Sie beklagten sich über ihre Kinder, die ständig Aufmerksamkeit forderten. Die kleinen Hände, die sie umklammerten, sodass sie nie an einem anderen Ort sein konnten als dort, wo sie gelandet waren.

Sie schrieben, dass sie sich fühlten, als wären sie auf der Erde abgesetzt worden, um einer nie enden wollenden Trauer und Sehnsucht ausgeliefert zu sein.

Ich war also gar nicht so seltsam, weil ich den ganzen Rückflug nach Dänemark über geweint hatte. Und weil ich jedes Mal heulte, wenn ich meiner Tante am Flughafen zum Abschied winkte.

Vielleicht besuchten sich die Schwestern deshalb so selten? Weil der Abschied, der darauf folgte, viel zu sehr schmerzte?

Aber es gab ja auch noch die fröhlichen Briefe. Spiegelten sie ebenfalls die Wahrheit wider? Oder lag sie irgendwo dazwischen?

Mein Herz tat so weh, und ich konnte mit niemandem darüber sprechen.

Wir essen drinnen, der Wind hat aufgefrischt. Die Bäume wanken, ihr Wispern dringt bis durch die Wände. Meine Mutter sagt, nach dem Essen müssten wir zu Paul fahren.

Das improvisierte Gericht soll für mehrere Tage reichen. Es lasse sich immer wieder aufwärmen, sagt meine Tante. Der Mais ist aus der Dose, man kann ihn in etwas Butter wenden. Das Fleisch könne ich ja einfach aus dem Eintopf herauspicken, sagen sie. Dann wäre er vegetarisch.

Das Telefon klingelt. Tante Vibeke trocknet sich die Hände an der Schürze. Schon wieder Onkel Charles. Sie sieht meine Mutter an und verdreht die Augen. Die Waschmaschine, mimt sie stumm.

Meine Mutter will das schmutzige Geschirr erst mal stehen lassen. Ich biete an, ich könnte doch spülen, während sie zu Paul fahren. Meine Tante erwidert, das sei doch schnell erledigt, und wir sollten es lieber gleich machen.

Als wir das Geschirr gerade wieder an seinen Platz gestellt haben, kratzt es an der Tür. Wir erstarren und spitzen die Ohren. Draußen wird gebellt.

Meine Mutter und meine Tante gehen dicht hintereinander zur Tür. Ein schwarzes Wesen stürzt herein, die Türklinke schlägt gegen die Wand. Der langhaarige Hund springt an uns hoch, leckt uns die Hände ab und steckt den Kopf in den Futternapf.

»Unter der Küchenspüle steht Hundefutter.«

Tante Vibeke lässt mich nicht aus den Augen, während ich es in den Napf schütte. Meine Mutter kniet neben dem Tier und redet mit ihm. Tante Vibeke versucht, sein Fell mit den Fingern zu entwirren, denn es hat fast den ganzen Wald mit ins Haus geschleppt, Samen und Laub, der Schwanz ist voller Zweige. An den Beinen klebt getrockneter Schlamm, und die eine Pfote blutet.

Nachdem der Hund getrunken hat, dreht er eine Runde durchs Haus. Die Krallen tapsen über den Wohnzimmerboden, er flitzt winselnd ins Schlafzimmer, starrt unter das Bett. Dann tapst er in den Flur und wirft sich ins Körbchen. Er schließt die Augen und senkt den Kopf wie ein Stein, und kurz darauf schläft er. Die Beine rennen von selbst, die Lefzen zucken, er kläfft im Traum.

Tante Vibeke zupft weiter Blätter, kleine Dornenzweige und Hagebutten aus dem Fell. Sie krümelt den getrockneten Schlamm von seinen Beinen. Dann steht sie auf und will alles hinaus auf den Rasen werfen.

Am bleichen Bauch des Hundes, in den langen Fellzotteln zwischen den Zitzen, finde ich zwei kleine Rosenköpfe.

»Die sind aber schön«, sage ich und ziehe sie heraus. Die braunen Kelchblätter neben den Blütenständen kleben an meinen Fingern. Ich setze die Rosen in ein Wasserglas und stelle es auf den Küchentisch.

»Vibeke, wir müssen jetzt los!«, sagt meine Mutter.

»Dem Hund geht es nicht gut.«

»Er muss sie irgendwo zurückgelassen haben. Vielleicht hat sie sich das Bein gebrochen? Wir hätten längst nach ihr suchen müssen.«

»Oder sie ist tot …«

»Wenn sie tot ist, müssen wir dafür sorgen, dass sie beerdigt wird.«

Meine Mutter sieht mich an, streicht mir eine Haarsträhne hinter das Ohr.

»Es ist schon zu dunkel«, sagt Tante Vibeke, »wir können jetzt nicht suchen.«

Sie beginnt zu husten, öffnet erneut ihren Kulturbeutel, inhaliert ihre Medizin, schluckt ihre Pillen. Plötzlich muss ich ebenfalls husten, und meine Mutter auch.

Auf dem Ausziehsofa bekommt Tante Vibeke endlich wieder Luft. Sie sagt, sie müsse schlafen.

»Seht euch mal meine Hände an«, sagt sie. »Ist das eine Allergie?«

Ich öffne die Tür und versuche, den Hund aufzuscheuchen. »Johanne«, sage ich. »Such! Such Johanne!«

Er legt den Kopf auf die Pfoten und seufzt. Mein Hals juckt, ich schließe die Tür hastig wieder.

Der Wind gewinnt heulend an Stärke. Ich höre ein Klopfen, vielleicht ein Ast, der gegen das Dach schlägt. Im Licht, das durch das Küchenfenster hinausfällt, sehe ich, wie sich die Bäume biegen und die Blätter drehen.

Meine Mutter legt sich neben ihre Schwester. Ich schleiche in mein Zimmer, verkrieche mich unter Omas Decke. Der Bär starrt mich an. Das Schild Für Fine hängt schief.

Ich lösche das Licht. Geht Oma dort draußen allein umher, nachtblind und schwankend? Oder liegt sie irgendwo? Wartet sie auf den Tod, die Augen zu den Sternen gewandt? Ruft sie um Hilfe, weil es zu kalt ist? Weil sie doch Angst hat, jetzt, da sich die Baumwurzeln unmerklich auf sie zubewegen, um die letzte Nahrung aus ihrem Körper herauszusaugen?

Johanne liebt ihren Wald.

Ich weiß nichts.

Es kratzt an meiner Tür, Tante Vibeke sagt: »Stop! Stop it. Lie down. Down!«