Teil 1
Laras Geist
Schnalz!
Der Mann hob den Kopf und lauschte. Hatte er richtig gehört? Ja. Eindeutig. Ein Ton, wie der Gesang eines Wals, der durch das dichte Erdreich zu ihm in die Höhle drang. Noch klang er leise, als wäre er weit entfernt. Doch dann kam er näher und wurde lauter. Der Mann stand langsam auf. Dabei pfiff er einmal und schnalzte.
Der Ton war jetzt ganz nah. Immer lauter dröhnte er durch das Gestein. Die glitzernde Wasseroberfläche des Sees, der in der Mitte der Höhle lag, bildete kleine Wellen. Aus dem See wuchs ein riesiger Baumstamm empor, der mit unzählig verzweigten Ästen eine enorme Baumkrone bildete. An den Zweigen hingen kleine, silberne Kristalle, die mit ihrem Leuchten die Höhle erhellten und die mit roten und blauen Steinen besetzten Wände zum Funkeln brachten.
Der Mann ging näher an den kleinen See heran und blickte ins Wasser. Ein weiteres Schnalzen, das von seiner Nervosität zeugte. Der Grund des Sees war nicht zu erkennen. Die Wurzeln des Baums wuchsen in die scheinbar endlose Tiefe, aus der nun ein Ton empordrang. Wie eine unsichtbare Kraft sauste er nach oben und schoss aus dem See heraus mitten in die Höhle hinein. Dort flog er herum. Hoch, runter, zur Seite. Wie ein freigelassener Vogel. Wurde mal lauter, mal leiser. War auf Bodenhöhe zu hören, dann wieder unter der hohen Decke. Er sauste an den blauen und roten Kristallen vorbei, die in verschiedenen Größen aus der Wand
ragten.
Der Mann stand lachend neben dem See und wurde fasziniert Zeuge des Rundflugs. Langsam, als wollte er den Ton nicht erschrecken, tauchte er die Hände in das silbern glitzernde Wasser, schüttelte sie kurz und ging dann zu zwei großen, runden Kristallen, die ein paar Meter vom See entfernt aus der Erde wuchsen. Sie waren in Größe und Form identisch und unterschieden sich nur in ihrer Farbe. Während der eine in einem dunklen Rot leuchtete, war der andere hellblau. Der Mann hob seinen langen, ausgeblichenen Bademantel an, um nicht über dessen Saum zu stolpern. Der Zylinder auf seinem Kopf kippte leicht zur Seite, sodass der Mann ihn wieder in die Waagerechte schieben musste. An der Krempe des schwarzen Huts steckte eine gelbe Wäscheklammer. Der Mann war zwei Meter groß und hatte riesige Hände. Seine ebenso großen Füße waren nackt und tapsten schmatzend über den feuchten Boden. Aus der Tasche seines Bademantels lugte ein zerfetztes Poliertuch.
Als der Mann die Kristalle erreichte, verharrte der Ton für einen Moment an der Decke des Raums. Der Mann sah nach oben.
»Ich bin bereit!«, rief er.
Als hätten ihm diese Worte Mut gemacht, breitete sich der Ton nun in der gesamten Höhle aus. Drang von oben immer weiter in den Raum hinein. Erkundete Kristall für Kristall und wurde zu einer Melodie, die sich in kurzer Abfolge ständig wiederholte. So schön und zart, dass sie von unendlichen Gefühlen erzählte. Der Mann lauschte und betrachtete erst den blauen, dann den roten Kristall zu
seinen Füßen. Schon bewegten sich seine Hände in Richtung des blauen Steins, als die Melodie lauter wurde. Der Mann änderte seine Meinung und stellte sich vor den roten Kristall. Dort hob er einladend die Arme.
»Komm!«
Der Ton verstummte, als wäre er überrascht über diese rigorose Aufforderung. Er erklang wieder leise und sauste dann mit lautem Getöse einmal durch den Raum direkt in den roten Kristall hinein. Lächelnd legte der Mann die noch nassen Hände auf den Stein und schloss die Augen. Er begann, über den Stein zu streichen. Erst langsam, dann flogen seine Hände immer schneller über den Kristall, der unter den Berührungen in regelmäßigen Abständen zu pulsieren begann. Wie ein schlagendes Herz. Während dies geschah, war an der Wand ein Glitzern zu erkennen, das immer heller wurde. Zwischen zwei roten Steinen funkelte es im selben Takt wie das Pulsieren des roten Kristalls. Die Spitze eines kleinen, neuen Steins schob sich hervor und drängte die Steine um ihn herum ein wenig zur Seite. Verschaffte sich Platz zwischen seinen funkelnden Nachbarn.
Ein roter Kristall.
Durch die Melodie zum Leben erwacht.
Der Mann sang die Abfolge der Töne leise mit und rieb den großen Kristall weiter, während auf dem neugeborenen Stein an der Wand wie von einer unsichtbaren Nadel etwas eingraviert wurde. Ein fremdartiges Zeichen. Dann noch eines und schließlich ein drittes.
Der Ton verstummte. Die Bewegungen des Mannes wurden langsamer, das Pulsieren schwächer, und
das Leuchten des neuen Kristalls ging in ein schwaches Glimmen über. Der Mann nahm die Hände weg und öffnete die Augen. Sein Blick wanderte an die Stelle an der Wand, wo der neue Kristall entstanden war.
Langsam ging er hin und zog dabei das Poliertuch aus der Tasche. Er betrachtete die Zeichen.
»Wille ist Liebe«, las er.
Dann schnalzte er und pfiff einmal ausgiebig, während er den Stein polierte.
Währenddessen glomm der große Kristall noch einmal auf. Als hätte er nur tief Luft geholt, schoss die Melodie aus ihm hervor und erfüllte einmal mehr die ganze Höhle, ehe sie durch das Erdreich verschwand. Sie wurde leiser und war bald nicht mehr zu hören.
Die Melodie drang durch das Erdreich. Stein für Stein reichte sie weiter, bis die Töne schließlich an die Erdoberfläche gelangten.