Leo
Leo saß aufrecht im Bett. Irgendetwas hatte ihn geweckt. War nahezu in ihn gefahren. Er hielt die Luft an. Endlich!
Die Melodie.
Als hätte sie ihm jemand vorgesungen, war sie nun in seinem Kopf. Wiederholte sich in einer Endlosschleife. Zwischendurch schneller werdend. Lauter! Dann wieder zaghaft, fast schon schüchtern. Die Melodie, die er seit Jahren suchte. Auf die er gewartet hatte. Die alles vereinte, was er in seinen zwanzig Jahren jemals gefühlt hatte. Seine Sehnsucht, seinen Wunsch zu verstehen. Eine Abfolge von Klängen, die ihm ein Kribbeln im Bauch verursachte, als wäre er verliebt. Das Kribbeln breitete sich in kurzer Zeit in seinem ganzen Körper aus. Versetzte ihn in Schwingung.
Gänsehaut.
»Was ist?«, murmelte eine verschlafene Stimme neben ihm.
»Nein. Nicht reden«, erwiderte Leo fast schon panisch.
Während sich eine schlanke, nackte Frauengestalt mit einem genervten Seufzer im Bett umdrehte, sprang Leo auf. Er durfte sie nicht verlieren! Musste diese Melodie in sich halten, bis er sie zu Papier gebracht hatte!
Ein lautes Scheppern. Er stolperte. Über Bierdosen vom Abend zuvor. Und dem Abend davor. Er stieß sie beiseite und erreichte ohne weitere Zwischenfälle das Klavier. Baujah 69, Eiche rustikal. Chronisch verstimmt, weil es im Winter in der kleinen Dachgeschosswohnung eiskalt war und im Sommer die Hitze das Holz des Klaviers verzog. Leo ließ die Hände über die Tasten sausen.
»Ist nicht dein Ernst!«, kam es vom Bett hinter ihm.
Leo nahm den Protest kaum wahr. Er reagierte nicht, als die Frau sich aus dem Bett schälte und ein paar Klamotten überstreifte, ehe sie, die Tür knallend, die Einzimmerwohnung verließ. Er reagierte auch nicht, als der Mieter unter ihm energisch mit einem harten Gegenstand an die Decke klopfte. Auch als die Dame von nebenan an seine Tür hämmerte und mit der Polizei drohte, hielt Leo nicht inne. Er spielte so lange, bis er die Melodie vom Kopf in das Klavier transportiert hatte und aufschreiben konnte. Jetzt würde er sie nie wieder vergessen. Sie war für immer in diesem Leben. Für immer sein.
Aber etwas war verkehrt. Die Abfolge der Töne war es nicht. Sie stimmte mit dem überein, was Leo gehört hatte. Der Klang war ein anderer. Das Klavier konnte ihn nicht ansatzweise nachahmen. Der Ton schien von einem Instrument zu kommen, das Leo noch nie in seinem Leben gehört hatte.
Er stand auf und ließ sich frustriert auf das Bett fallen. Mit geschlossenen Augen versuchte er, den Klang der Melodie noch einmal zu hören. Aber so sehr er sich auch bemühte, er konnte ihm kein Instrument zuordnen. Dabei war er so nah dran gewesen.