»I’m hungry for your touch«
U2 – Unchained melody
Absolute Dunkelheit. Lara konnte nicht erkennen, wo sie sich befand. Sie hatte keinen Boden unter den Füßen und konnte mit den Händen die Grenzen des dunklen Raums nicht ertasten. Sie spürte, dass sie nicht allein war.
»Timo?«
Keine Antwort.
»Wo bist du?«
Stille. Von Weitem näherte sich ein Leuchten. Ganz schwach. Aber größer werdend. Das Leuchten nahm die Konturen einer Kugel an, die langsam auf Lara zuschwebte.
Ihre Kugel.
Laras Herz klopfte. Diese Szene kannte sie. Sie hatte sie schon einmal gesehen. In den Augen der Katze. Und bei ihren Eltern, bevor diese eine neue Welt erschaffen hatten. Diesmal war es ihre Kugel, die eine neue Welt werden würde. Ihre Anwesenheit bedeutete, dass auch die anderen da sein mussten. Ihr Kreis der Sieben. Und damit Timo.
Durch die Kugel wurde die Umgebung etwas erhellt. Ganz schwach konnte Lara nun die Umrisse von sechs Personen erkennen. Aufgeregt flog sie zu ihnen, um ihre Gesichter zu betrachten.
»Timo?«
Sie näherte sich einer Gestalt. Schwarz gekleidet, barfuß, den Kopf unter der Kapuze eines schwarzen Hoodies versteckt. Lara kam näher und hob die Kapuze. Sie stieß einen erschrockenen Schrei aus und wich zurück. Die Person hatte kein Gesicht! Keine Augen, keine Nase, keinen Mund. Eine gesichtslose Maske. Lara flog zur nächsten Gestalt. Der gleiche Anblick.
»Wer seid ihr?«, fragte Lara.
Keine Reaktion. Die kleine, goldene Kugel in ihrer Mitte drehte sich langsam um sich selbst. Aber sie verlor zunehmend an Leuchtkraft.
»Nein!« Lara flog zur Kugel und wollte sie in die Hand nehmen. Im selben Moment schoss aus dem Nichts eine Gestalt auf sie zu. Auch ihr Gesicht konnte Lara nicht erkennen.
Die Gestalt riss die Kugel an sich.
»Gib sie zurück!«, forderte Lara.
Sie hörte ein Lachen, und die Gestalt flog mit der Kugel davon. Lara nahm die Verfolgung auf. Wer auch immer das war, er durfte nicht gewinnen. Durfte die Kugel nicht mit sich nehmen! Aber die Gestalt war schnell. Zu schnell für Lara. Das goldene Licht wurde schwächer, und schließlich blieb Lara wieder in der Dunkelheit zurück.
Allein.
Mit einem Schrei erwachte Lara aus dem Traum. Verwirrt sah sie sich um. Klitschnass saß sie aufrecht in dem Bett, das Jo ihr in das kleine Nähzimmer gestellt hatte. Sie keuchte schwer und hatte Schwierigkeiten, das beklemmende Gefühl ihres Traums abzuschütteln. Schon hörte sie jemanden über den Flur kommen. Der alte Holzboden knarzte bei jedem Schritt. Die Tür öffnete sich.
»Lara?«
»Ich habe nur geträumt.«
Karin trat ins Zimmer und schaltete das Licht ein. Ihr besorgter Blick wanderte direkt zu Lara. Die kleine, runde Frau trug eine weite Yoga-Hose und ein Shirt von Jo. Die beste Kleidung für tiefen Schlaf, wie sie Lara erklärt hatte. Das mit dem tiefen Schlaf war jetzt vorbei.
»Ich wollte dich nicht wecken. Schon wieder«, entschuldigte sich Lara.
»War es derselbe Traum?« Karin setzte sich zu ihr ans Bett.
»Keine Ahnung. Kann mich nicht erinnern«, log sie.
Karin musterte sie, als würde sie ihre Seele scannen. Sie wollte alles über Lara wissen. Ihre Gedanken, ihre Gefühle ... ihre Erinnerungen. All das musste sie vor Karin geheim halten. Aber ihre Träume wollte sie geheim halten. Lara konnte ihr schließlich nicht erklären, dass sie von ihren sechs Gefährten träumte, die sie nicht erkennen konnte. Genauso wenig wie die Person, die alles zerstören wollte. Immer wieder hatte sie diesen Traum. Seit sie vor zwei Wochen aus dem Krankenhaus entlassen worden war. Was bedeutete er? Was wollte er ihr sagen?
Lara sah an Karin vorbei zur Tür, in der eine kleine Gestalt stand und einen Schatten auf den Zimmerboden warf. Die Haare zerzaust, als würde sie ernsthaft so etwas wie Schlaf brauchen. Noch  musste sie das Leben eines normalen Kindes spielen. Mila musterte Lara mit mahnendem Blick. Das Auge in Milas Hand, Zwitscher, beobachtete Lara wachsam .
Sie wich den Blicken genervt aus. Schon gut! Sie würde Karin nichts sagen. Auch wenn sie nicht verstand, wieso. Karin hatte längst begriffen, dass Mila und Lara ein Geheimnis verband. Und dass Mila mit dem Auge in ihrer Hand in der Lage war, in andere Welten zu blicken. Sie verband ihrer kleinen Tochter nicht mehr die Hand. Schleppte sie nicht mehr zu irgendwelchen Kinderpsychologen, die von einer magischen Phase sprachen. Karin hatte längst begriffen, dass Milas magische Phase niemals enden würde.
Das war bereits mehr, als sie je hätte erfahren sollen, hatte Mila Lara klargemacht.
»Als ich mit Mila schwanger war, hatte ich auch die absurdesten Träume«, erinnerte sich Karin.
Wenn Mila im Mutterleib schon so viel hatte sehen können wie jetzt, und Lara traute ihr das durchaus zu, wunderte sie sich nicht über diese Äußerung. Die angehende Weltenhüterin hatte bestimmt schon damals die anderen Welten beobachtet. Von klein auf hatte Mila sowohl ins Totenreich als auch zu den anderen Planeten sehen können, die mit der Erde einen eigenen Kreis der Sieben bildeten. Hatte Karin vielleicht davon geträumt, ohne es verstehen zu können?
»Du hättest zu der Beerdigung gehen sollen«, unterbrach Karin ihre Gedanken.
Jetzt hatte sie wieder Laras ganze Aufmerksamkeit.
»Diese Albträume hast du bestimmt, weil du seinen Tod nicht verarbeiten willst. Eine Beerdigung ist wichtig. Um loszulassen.«
»Ich hab dir doch gesagt, dass Timos Eltern mich dort nicht sehen wollten. «
Timos Mutter und ihr schweigsamer Mann, die zusammen die Gaststätte Einhorn in Sasbachwalden führten, hatten keine Zweifel daran gelassen, wen sie für den Tod ihres Sohnes verantwortlich machten. Ihrer Ansicht nach hatte Lara Timo nach ihrer Ankunft im Schwarzwald zu Drogen und Schlimmerem verführt, war zwei Mal mit ihm verschollen gewesen, und das zweite Mal hatte Timo nicht überlebt. Lara hatte keinen Versuch unternommen, sich zu verteidigen. Was sollte sie sagen? Die Wahrheit? Dass Lara mit Timo im Totenreich gelandet war, in der er ihr das Leben gerettet hatte? Dass er eine Flasche mit einer Flüssigkeit mitgenommen hatte, was den Tod auf der Erde für eine Weile aussetzen ließ? Dass sie beim Versuch, den Tod wiederherzustellen, durch verschiedene Welten gereist waren, und dass sie schließlich ihr Leben hatten opfern müssen, um den Menschen das Sterben wieder zu ermöglichen? Wobei sie selbst nur ihr Leben riskiert und nicht geopfert hatte. Das Opfer war allein Timo gewesen.
Lara hatte den vagen Verdacht, dass die Wahrheit die Sachlage nicht einfacher machen würde.
Da war die Erklärung glaubhafter, dass Timo im Steinbruch Seebach tödlich verunglückt war.
»Du musst dich mit seinem Tod auseinandersetzen«, beharrte Karin.
Lara wich ihrem Blick aus. Karins Stimme hatte den gewohnten, glockenhaften Klang. Aber sie war auch fordernd.
»Das tue ich doch«, behauptete Lara.
»Dann geh morgen mit mir zum Friedhof. «
»Morgen hat Ayse noch irgendwas mit mir geplant«, murmelte Lara. »Bevor sie nach Berlin zurückfährt.«
Karin durchschaute natürlich sofort, dass Lara diesen Ausflug gnadenlos als Ausrede nutzte. Schließlich würden sie nur eine Stunde unterwegs sein, und es wäre noch genug Zeit, um auf den Friedhof zu gehen.
Karin atmete tief durch und stand auf. »Lara, ich weiß, dass gerade alles über dich hereinbricht. Du hast deinen Vater verloren. Timo. Deine Heimat. Und du bist schwanger. Mit sechzehn. Das ist ... Ich kann mir nicht mal vorstellen, wie du dich fühlen musst. Aber bitte: Mach es nicht mit dir allein aus. Ich bin da. Jo ist da. Wir sind jetzt ... deine Familie. Eure Familie.«
Lara versuchte, ihre Stimme fest klingen zu lassen. »Ich bin froh, dass ich hier sein darf. Aber ich gehe nicht auf den Friedhof.«
Karin zögerte einen Moment. Dann nickte sie und drehte sich zur Tür. Mila war längst verschwunden. Als sich die Tür schloss, sank Lara zurück ins Kissen. Karin gab ihr ein Gefühl der Geborgenheit, das sie nicht kannte. Ihre Liebe berührte sie zutiefst. Aber wie konnte Lara sie annehmen? Nach allem, was geschehen war? Hatte sie es wirklich verdient?
Sie lebte.
Timo nicht.
Seine Eltern hatten mit ihren Anschuldigungen doch recht. Wäre sie nie nach Sasbachwalden gekommen, hätte sie Timo nie kennengelernt, dann würde er immer noch nachts auf seinem Skateboard durch die Maisfelder fahren.
Es gab noch einen anderen Grund, warum Lara nicht zu der Beerdigung gegangen war und warum sie nicht an sein Grab wollte. Und dieser Grund saß in ihrem Zimmer. Am Fußende ihres Betts. Er sah sie an. Ein leichtes Leuchten umgab ihn. Seine blauen Augen musterten sie.
Timo. Ihr Timo. Hier in ihrem Zimmer. Wunderschön und fast durchscheinend.
Seit Timo begriffen hatte, dass Lara ihn sehen konnte, war er nicht mehr von ihrer Seite gewichen. Er war bei ihr. Jeden Tag. Jede Nacht. Als sie aus dem Krankenhaus entlassen worden war und Karin und Jo sie mit in das kleine Hexenhäuschen genommen hatten. Als sie entschieden hatte, in Sasbachwalden zu bleiben und die Wohnung in Berlin aufzugeben. Er war dabei gewesen, als Ayse und sie gemeinsam um die Wette geheult hatten, da ihnen eine baldige Trennung bevorstand. Und er war bei ihr gewesen, als Karin den ersten Termin bei ihrer Frauenärztin gemacht hatte und es Lara vor Aufregung ganz schlecht geworden war.
Wie hatte sich ihr Leben in dieser kurzen Zeit so extrem ändern können? Sie würde ein Kind bekommen! Mit sechzehn! Ein Kind, das auf einer anderen Welt gezeugt worden war. Ein Kind von der größten Liebe, die sie je empfunden hatte. Die viel zu schnell wieder vorbei gewesen war.
War sie wirklich vorbei? Lara hatte nach dieser Reise, im Gegensatz zu Ayse und Cem, ihre Erinnerungen nicht verloren. Sie wusste alles. Bis ins kleinste Detail. Die anderen Welten mit ihren Weltenhütern. Der Anblick von Laniakea – wie könnte sie das jemals vergessen? Sie wusste, dass Timo und ihre Liebe im unendlichen Ablauf der Weltenentstehung weiterbestehen würden. Ihre Trennung war eine Trennung auf Zeit. Sie hatten die Unendlichkeit vor sich. Auch wenn Lara die Gesichter ihrer Sieben nicht sehen konnte, war sie sich sicher: Timo war einer davon. Und er musste der Abholer sein. Genau wie Luxus. Einer der Sieben war dazu bestimmt, als Erster zu sterben, um die mit ihm verbundenen Seelen in ihrem Leben zu begleiten und im Moment des Todes da zu sein. Timo hatte diese Rolle übernommen. Nur deshalb konnte er als Geist zurück auf die Erde kommen. Es war die einzige Erklärung, die Timo ihr mit einem Nicken bestätigt hatte.
Reden konnten sie nicht miteinander. Wie auch. Timo war ein Abbild seiner selbst. Er besaß keinen Körper mehr, mit dem er sprechen konnte. Lara konnte sich noch an ihren Besuch als Geist auf der Erde erinnern und wusste deshalb, dass er sie auch nicht hören konnte. Ihre Worte drangen nur dumpf zu ihm. Aber sie schrieb Zettel. Mit einfachen Fragen, die Timo mit ja oder nein beantworten konnte. Unzählige Papiere sammelten sich bereits in Laras Schreibtischschublade.
Geht es dir gut?
Du fehlst mir so.
Ich bin schwanger!
Bleibst du für immer?
Und doch blieb so vieles ungesagt.
Es war Folter und Paradies zugleich. Er war ihr nah. Jede Sekunde. Aber sie konnte ihn nicht berühren, ihn nicht küssen, ihn nur ansehen. Anlächeln. Das war alles.
All das war besser, als ohne ihn zu sein. 
Diese Meinung teilte Mila nicht. Die kleine, angehende Weltenhüterin machte keinen Hehl daraus, wie unpassend sie Timos Verhalten fand. Schließlich habe er Aufgaben, hatte sie gesagt. Aufgaben, denen er nicht nachging, solange er bei Lara war. Lara wusste, dass Timo als Abholer auch die anderen Seelen begleiten sollte. Sie wusste nicht, wer dazugehörte. Ideen hatte sie natürlich. Sie hoffte auf Ayse. Und Cem. Marc vielleicht, wobei es sie in diesem Fall nicht wundern würde, wenn Timo seine Hilfe verweigerte und ihn sogar im Falle seines Todes allein ließ.
Es war egoistisch, ihn nicht fortzuschicken. Aber jetzt, in diesem Moment, brauchte sie ihn. Brauchte seine Anwesenheit. Sein Leuchten. Sein Lächeln. Sie konnte sich nicht von ihm verabschieden. Nicht einmal für ein paar Stunden.
Laras Hand senkte sich auf ihren Unterleib. Sie war in der vierten Woche schwanger. Nächste Woche hatte sie eine Erstuntersuchung bei Karins Frauenärztin.
Es war ein seltsamer Zustand, in dem sie sich befand, denn trotz der Sehnsucht, die sich durch ihren Körper zog, war sie gleichzeitig erfüllt von heller Aufregung. Obwohl Timos und ihr Kind im Moment nicht größer war als ein Sesamkorn, fühlte sie bereits jetzt schon so viel Liebe. Nicht zu vergleichen mit ihren Gefühlen für Timo. Es war eine andere Form der Zuneigung. Sie kam zusammen mit einem Gefühl von Verantwortung, das Lara zuvor nicht gekannt hatte.
Für dieses Leben, das in ihr heranwuchs, würde sie alles tun. Dieses Kind sollte vor Glü ck platzen.
Ayses Mutter Begüm war voller Sorge gewesen, ehe sie bereits vor zwei Tagen zurück nach Berlin gefahren war. Ihre Ziehtochter, ihr Findelkind, schwanger. Mit sechzehn. Was sollte aus Lara werden? Wie sollte sie die Schule schaffen? Was würde sie beruflich machen? Ayse teilte die Sorge ihrer Mutter, aber die Freude über das bevorstehende Leben war mindestens genauso groß.
Und auf die wollte Lara sich konzentrieren. Alles Weitere würde sich finden. Musste sich finden. »Ein Tag nach dem anderen«, sagte Karin immer.
Lara nahm ihr Smartphone und öffnete die Baby-App, die Ayse ihr gleich nach dem Krankenhaus auf ihr Smartphone geladen hatte.
Ihr Baby ist bald so groß wie ein Sesamkorn.
Ihre Eizelle ist jetzt eine Blastozyste.
Der Dottersack liefert die Nährstoffe.
Eine Vorstellung, die Lara bereits seit einigen Tagen den Verzehr von Eiern vermieste.
Die Embryozellen teilen und arrangieren sich in tellerförmigen Schichten.
All das klang sehr abstrakt und theoretisch und hatte nichts mit dem Gefühl zu tun, das sie bereits jetzt für ihr Kind empfand.
Für Körnchen .
Das war doch ein passender Name, bis Lara das Geschlecht erfahren würde.
Sie legte das Smartphone weg und nahm den MP3-Player, der neben ihrem Bett lag. Noch immer hörte sie die Playlist, die Timo ihr geschenkt hatte. Jeden Abend. Ein Lied spielte sie immer und immer wieder. Unchained melody . Eine Version von U2, die Lara nicht gekannt hatte. Während die ersten Klänge ertönten, schloss sie langsam die Augen. Als Letztes sah sie Timo, der ihren Blick ruhig erwiderte.
Oh my darling, I’m hungry for your touch ...
I’ll be coming home.
Wait for me.
Mit den Erinnerungen an Timos Berührungen auf ihrer Haut schlief sie ein.