»Ich Steine, du Steine«
Peter Fox
»Hier ist es!« Karin bremste mitten auf der Landstraße abrupt ab und lenkte den Wagen nach links in den Hof eines Bauernhauses. »Ich verpasse immer die Einfahrt.«
Kunststück. Nur ein kleines Schild wies darauf hin, dass hier das Steinlädele
zu finden war. Ayse hatte auf diesen Besuch bestanden. Sie wollte Lara einen Stein schenken. Mit der richtigen Energie. Ayse hatte eindeutig zu viel Zeit mit Karin verbracht.
Umrankt von Zitronenmelisse und Johanniskraut hatte Karin Ayse in ihrem Garten von den heilenden Kräften der Kräuter erzählt. Als sie dabei erwähnt hatte, dass auch Steine heilende Kräfte besaßen, hatten Ayses Augen zu leuchten begonnen. Ein sicheres Zeichen dafür, dass es um Laras Freundin geschehen war.
Laut Karin sollte man den Stein nehmen, zu dem man sich »hingezogen fühlte«. Genau diesen Stein, samt seiner Heilkraft, brauchte man dann. Lara glaubte nicht daran. Aber sie wollte Ayse diese Freude machen, auch wenn kein Stein dieser Welt ihre Freundin ersetzen konnte. Im Kofferraum lag bereits Ayses Gepäck. Sie konnte nicht weiterhin die Schule versäumen, nur damit sie mit Lara Händchen hielt und mit Cem flirtete.
Vielleicht war es auch besser, wenn Lara und sie erst einmal getrennt sein würden. Denn Ayse hatte an ihre Zeit im Raum des Auges keinerlei Erinnerung. Ein totaler Blackout, wie Lara und Timo ihn nach ihrem
Ausflug ins Totenreich gehabt hatten. Lara hatte ihre Erinnerungen wiedererlangt, als sie Timo geküsst hatte. Aber Ayse weigerte sich, Cem zu küssen. Sie war verliebt, das leugnete sie nicht. Die beiden hatten die letzten Wochen dazu genutzt, sich intensiver kennenzulernen. Küssen – davon war Ayse noch weit entfernt. Dabei hatte sie längst mit Cem rumgeknutscht! Doch das konnte Lara ihr nicht sagen. Obwohl sie schon mehrmals kurz davor gewesen war. Sie hatte ihr bisher immer alles erzählt. Nun ein so großes Geheimnis vor ihr zu haben, fühlte sich bedenklich danach an, als würde Lara irgendwann platzen. Mila war jedoch in ihren Anweisungen sehr strikt gewesen. Ayse sollte nichts erfahren. Weder von ihrer Knutscherei im weißen Raum noch von Laras Reise durch die anderen Welten.
Lara verstand ja, warum Mila das so wichtig war. Was sollte Ayse mit diesen Informationen anfangen, wenn sie sich nicht selbst erinnerte? Aber es war Ayse gewesen, die Lara das Leben gerettet hatte. Nur wegen ihrer Worte hatte Lara erkannt, wie sie zurück in ihr Leben gelangen konnte. Ohne Ayse wäre sie jetzt in ihrem Totenland. Und das Kind in ihr würde nicht heranwachsen. Lara konnte Ayse nicht einmal dafür danken.
Aber auch, wenn Mila Lara mit ihrer Forderung gehörig auf die Nerven ging, wagte sie es nicht, sich ihnen zu widersetzen. Mila würde wissen, was sie von Lara verlangte.
Also musste sie weiter hoffen, dass Ayse und Cem sich irgendwann endlich küssten. Diese Wahrscheinlichkeit schwand mit Ayses anstehender Abreise. Fast 800
Kilometer zwischen Cem und ihr. Es war aussichtslos.
Karin parkte den Wagen am Rand des Hofs. Das Steinlädele
befand sich innerhalb eines riesigen Gehöfts. Drei große Gebäude standen in einem Halbkreis beisammen. Weiß und mit dicken dunkelbraunen Holzbalken versehen. Karin hatte von diesem Laden geschwärmt, der ihrer Meinung nach ein ganz besonderer Ort war. Mit guter Energie, wie sie sagte.
»Ist das hübsch hier!«, rief Ayse begeistert, während sie aus dem Wagen stiegen.
Das war es wirklich. Auch wenn der Geruch von Kühen und Dünger Lara in die Nase drang. Außerdem ein kalter Wind. Es war mittlerweile Ende September und bereits kühler geworden. Sie blieb einen Moment stehen und sah sich nervös um. Es dauerte immer eine Weile, bis Timo sie nach einer Autofahrt gefunden hatte. Lara wusste nicht, wie es funktionierte. Aber natürlich konnte sich Timo nicht zu ihr ins Auto setzen, körperlos, wie er war. Wie fand er sie? Flog er über dem Auto mit? Musste er erst wieder mit ihr eine Verbindung herstellen, ehe er sie finden konnte? Jedes Mal vergaß Lara zu atmen, bis er endlich neben ihr auftauchte. Ständig war da die Angst, dass er dieses Mal nicht kommen würde. Einfach nicht mehr erscheinen würde.
Ihr Herz machte einen Sprung, als die Luft vor ihr flirrte. Ein Leuchten, ein Schimmern, wie die Luft an einem heißen Sommertag. Langsam nahm seine Gestalt Konturen an. Seine Hände, die
das Skateboard hielten; sein Körper, der die Kleider trug, die er beim Sprung in den Tod getragen hatte. Seine dunkelblonden Haare, die zerzaust in alle Richtungen abstanden, und sein wunderbares Lächeln. Lara strahlte erleichtert.
Timo drehte sich um und deutete auf etwas. Sie folgte seinem Blick. Sie waren Richtung Rhein gefahren. Vom Schwarzwald aus dehnte sich die Ebene ungefähr zwanzig Kilometer aus, ehe man den Fluss erreichte. In dieser Rheinebene war es im Sommer laut Karin unerträglich heiß, weshalb sie die Nähe zum Wald und die Anhöhe bevorzugte, auf der es meist etwas windig war. Was Timo Lara nun zeigte, war die Bergkulisse des Schwarzwalds, die man von hier aus bewundern konnte. Nahezu riesig ragte die Hügelkette empor. Ein großartiger Anblick. Lara glaubte zu verstehen, was Timo ihr sagen wollte. Er war immer mit dem Skateboard in diese Ebene gefahren. Nachts. Um in Unterführungen seine Bilder zu sprühen. Er hatte diesen Anblick bestimmt jede Nacht genossen und wollte ihr zeigen, wie schön seine Heimat war. Die nun ihre sein würde.
»Lara?«
Sie drehte sich zu Karin und Ayse, die bereits die Stufen zum Eingang des Ladens hochgegangen waren. Die beiden musterten sie fragend und leicht besorgt. Ayse hatte die gedankliche Abwesenheit ihrer Freundin natürlich bemerkt. Keine Erklärung von Lara zu erhalten, verstärkte ihre Sorge, und oft genug zeichnete sich Enttäuschung in ihrem Gesicht ab. Ayse hatte längst bemerkt, dass Lara
ihr etwas verheimlichte.
Sie ging auf die beiden zu. »Der Anblick ist wirklich schön«, erklärte Lara und deutete Richtung Schwarzwald, bemüht, ihre Stimme locker und neutral klingen zu lassen. Timo folgte ihr.
Ayse sah einen Moment zur Hügelkette, ehe sie Lara wieder musterte. Karin öffnete die Tür zum Laden. Anstelle eines Türknaufs war eine Steinscheibe angebracht. Weiße und braune Farbtöne gingen ineinander über und bildeten fließende Kreise. Lara stutzte einen Moment, als sie um die Scheibe herum ein Flirren wahrnahm, das sofort wieder verschwand. Nachdenklich strich Lara über die Scheibe, ehe sie den beiden folgte.
Sie betrat einen schmalen Flur, von dem aus eine weitere Tür in den eigentlichen Laden führte. Der Flur war bestückt mit Steinen. An zwei Fenstern hingen kleine, runde Kristalle an Fäden befestigt von der Decke, die von der hereinscheinenden Sonne angestrahlt wurden und Regenbögen auf die weiße Wand gegenüber warfen. Lächelnd betrachtete Lara das Farbspiel und sah dann zu den riesigen Steinen, die auf einem Regal entlang der Fenster standen.
»Wow!«, rief Ayse, die bereits einen dieser Steine betrachtete. Gut einen Meter hoch, wie eine ausgehöhlte Säule, in deren Innerem lilafarbene Kristalle wuchsen.
»Ein Amethyst«, erklärte Karin, die Ayses Begeisterung lächelnd beobachtete.
»Ist der nicht wunderschön?«, fragte Ayse unbestimmt in den Raum, während sie die Hand in die schmale Höhle legte. »Da ist jetzt bestimmt total viel Energie.
«
»Der Amethyst reinigt den Geist. Trauer, Kummer, Sorgen ... das alles kann der Stein beruhigen und ordnen. Er löst negative Energien auf.«
Lara sah Karin zweifelnd an, die dies alles wiedergab, als wäre es ein bestehendes Gesetz. Und nicht einfach eine Annahme, die jeglicher Beweisgrundlage entbehrte.
»Gibt es den auch in klein?«, fragte Ayse mit Blick auf das Preisschild.
Lara wollte ihrer Freundin gerade raten, Karins Aussagen zu hinterfragen, als sie innehielt. Ayse berührte mit den Fingern immer noch die kleinen Kristalle. War da wieder dieses Schimmern? Diesmal um Ayses Hand herum? Lara trat näher. Betrachtete Ayses Hand genauer. Ja, da war ein Schimmern. Ähnlich dem, das Timo umgab. Lara konnte beobachten, wie die Farbe des Steins auf Ayses Haut überging. Als würde der Stein auslaufen, färbte sich die Hand ihrer Freundin lila. Schließlich sogar der Unterarm. Zu Laras großer Verblüffung schien Ayse nichts davon zu merken. Sie zog ihre Hand zurück, die noch schwach leuchtete und schließlich wieder ihre normale Farbe annahm.
»Komm! Wir schauen, was es noch alles gibt.«
Lara sah sich noch einmal zu dem Amethyst um, ließ sich aber mitziehen.
Sie betraten den kleinen Laden, der sich an den Flur anschloss und mit Glasvitrinen vollgestellt war. Jeder Winkel des Raums wurde genutzt, um etliche Steine zu präsentieren. Lara sah Schmuck aus verschiedenen Kristallen; Lederbänder, an denen geschliffene
Steine in allen möglichen Formen hingen; Armbänder, Briefbeschwerer und kleine Steintiere. In der Mitte des Raums stand ein Tisch, auf dem in voneinander abgetrennten Behältern kleine Steine lagen. Trommelsteine, wie ein Schild beschrieb. Schwarze, blaue, rote, durchsichtige und bunte lagen da zusammen. Lara verstand nun, was Karin meinte. Dieser Raum hatte tatsächlich eine beruhigende Wirkung auf sie.
Hinter der Verkaufstheke stand ein gedrungener Mann mit grauen Haaren, der gerade einen Stein polierte und die drei Ankömmlinge lächelnd begrüßte. Offensichtlich kannten Karin und er sich gut, denn Karin zog einen Beutel Kräutertee aus ihrer Tasche.
»Hier. Für Magda«, sagte sie. »Geht es ihr besser?«
»Sie säuft jeden Tag dein Kräuterzeug. Behauptet, es hilft«, erklärte der Mann, während er den Beutel nahm.
»Es hilft ja auch.« Karin lächelte.
»Was kriegst du?«, wollte er wissen.
»Einen Trommelstein. Für meine Nichte.« Sie deutete auf Lara, die dem Mann unbeholfen zulächelte.
Der musterte sie mit undurchdringlicher Miene. »Das ist also das Mädchen aus Berlin«, stellte er fest.
Natürlich. Er hatte von ihr gehört. Wie vermutlich alle hier. Also wusste er auch, dass sie verschollen gewesen war. Lara wappnete sich gegen den Ansturm an Fragen, doch der Mann widmete sich bereits wieder seinem Poliertuch. »Such dir einen aus.«
Lara entspannte sich und ging mit Ayse zu dem Tisch mit den Trommelsteinen.
»Also«, betonte Ayse mit großen Augen. »Du guckst dir jetzt die Steine hier an. Dann nimmst du den,
zu dem du dich hingezogen fühlst. Und dann sagt Karin uns, für was der Stein steht.«
Lara musste über die sichtliche Aufregung ihrer Freundin lächeln. Sie stellte sich vor den Tisch und betrachtete nach und nach die Steine. Sie erkannte, dass kein Stein einfach nur eine Farbe hatte. Sie waren alle durchdrungen von vielen Farbelementen. Es gab schwarze Steine, auf denen weiße Schneeflocken zu erkennen waren. Andere waren von unterschiedlichen Brauntönen durchzogen und schimmerten golden. Wieder andere waren blau mit schwarzen Elementen darin. Und dann war da ein Stein, der Laras Aufmerksamkeit auf sich zog, obwohl er neben den sonstigen Steinen eher unscheinbar wirkte. Grau mit weißen Adern schien er neben den blauen und roten Steinen um ihn herum wie ein normaler Kieselstein. Lara trat näher. Ganz deutlich sah sie das silberne Leuchten um den Stein herum. Ein Schimmern, das Laras Hand automatisch zu sich zog.
Sie nahm den Stein und legte ihn sich auf die Handfläche. Das Schimmern hielt an, wurde sogar noch kräftiger.
»Ein Botswana-Achat«, erklärte Karin, die neben Lara und Ayse getreten war. »Der Schutz- und Heilstein für Schwangere.«
Einen Moment lang war es ganz still in dem kleinen Raum. Ayses Augen wurden, wenn dies überhaupt möglich war, noch größer, als ihr staunender Blick von Karin zu Lara wanderte. »Siehst du? Es funktioniert«, flüsterte sie.
Lara wagte nicht mehr zu widersprechen. War das ein Zufall? Aber warum konnte sie dann das Leuchten
um den Stein herum sehen? Während Karin sich erkundigte, ob sie den Stein wirklich im Tausch gegen den Tee nehmen konnten, suchte sich auch Ayse einen aus. Mit ernster Miene betrachtete sie die verschiedenen Steine, ehe ihre Hand schließlich zu einem besonders farbenfrohen Stein wanderte. Grün, Gold und Blau schmolzen ineinander über und erinnerten Lara an die Farben einer Pfauenfeder.
»Labradorit«, las Lara auf einem Schild.
Sie gingen zu einem kleinen Beistelltisch, auf dem einige Bücher über Heilsteine und deren Wirkungen lagen. Während Karin weiter in ein Gespräch mit dem Verkäufer vertieft war, blätterte Lara neugierig in dem Buch, bis sie den Labradorit darin gefunden hatte.
»Der Heilstein wirkt beruhigend auf überschäumendes Temperament.« Lara lugte grinsend zu Ayse. »Da hat er bei dir keine Chance.«
Ayse knuffte Lara spielerisch in den Oberarm. »Was noch?«, fragte sie.
»Er fördert die Kreativität und spornt die Fantasie an.«
»Für meine Bücher!«, rief Ayse begeistert.
Schon in der Grundschule hatte sie begonnen, kleine Geschichten aufzuschreiben. Sie war es auch gewesen, die das »Freundinnen-Tagebuch« eröffnet hatte. Ein Buch, in das Lara und Ayse nacheinander ihre Erlebnisse und Gedanken geschrieben hatten. Während Lara mit viel Einsatz eine Seite zustande gebracht hatte, hatte Ayse jeden Tag zehn Seiten vollgeschrieben. Lara hatte nie gewusst, was sie reinschreiben sollte. Schließlich sahen die beiden sich jeden Tag. Aber Ayse
hatte die Gabe, auch aus den kleinsten Begebenheiten die tollsten Geschichten zu spinnen. Eine Gabe, die sie zum Beruf machen wollte. Journalistin und Romanautorin. Das war Ayses Zukunft.
»Außerdem stärkt er das Erinnerungsvermögen und hilft dabei, verdrängte Erinnerungen wieder hervorzuholen.«
Erstaunt sah Lara zu Ayse, die den Stein musterte.
»Dann nehme ich ihn mal besser mit«, stellte sie fest.
Lara hatte zunehmend das Gefühl, dass an dieser ganzen Heilsteinsache doch etwas dran war. »Karin«, rief sie deshalb und drehte sich zu ihrer Tante um. »Ich will dir auch einen Stein schenken. Such dir einen aus.«
Karin lächelte gerührt und trat an die Trommelsteine heran. Sie betrachtete die Steine jedoch nicht, sondern schloss die Augen. Dann ließ sie die linke Hand über die verschiedenen Fächer der Steine schweben. Ayse und Lara beobachteten fasziniert, wie Karin die Hand mal über dem einen, dann über dem anderen Stein ruhig in der Luft schweben ließ. Schließlich wanderte die Hand weiter bis an ein Fach am Rand des Tischs und sank schließlich auf einen der Steine. Karin öffnete die Augen, in denen nun Erstaunen zu erkennen war, als sie einen pechschwarzen Stein in die Hand nahm.
»Was ist das für einer?«, fragte Ayse.
»Ein Galat«, erwiderte Karin leise.
»Und was hat er so drauf?«, wollte Lara wissen, der Karins Gesichtsausdruck überhaupt nicht gefiel.
»Der Stein gegen die Trauer«, erklärte der Verkäufer von seiner Theke aus. »Er schenkt neuen Mut und
erleichtert den Neuanfang beim Verlust eines geliebten Menschen.«
Erschrocken sah Lara Karin an, die nun ihren Blick erwiderte.
»Den Stein habe ich bestimmt für dich gefunden«, erklärte Karin mit einem Lächeln. »Wir nehmen ihn mit.«
Lara nahm die beiden Steine, die Ayse und Karin sich ausgesucht hatten, und bezahlte sie. Der Verkäufer legte alle drei Steine in je ein kleines Stoffsäckchen. Lara war dankbar um die Ablenkung. Sie hatte Karin nicht mehr in die Augen sehen können. Der Stein hatte bereits nach wenigen Sekunden in Karins Hand zu leuchten begonnen. Was auch immer Lara da sah, warum auch immer sie plötzlich diese Fähigkeit besaß, sie wusste mit Gewissheit, dass dieser Stein für Karin bestimmt war. Und sie wusste mit derselben Gewissheit, dass Karin ein Verlust bevorstand, den sie kaum würde verkraften können.