Fass!
»Pass auf dich auf«, nuschelte Ayse in Laras Haare. Die gepackte Tasche stand neben ihr auf dem Bahnsteig in Baden-Baden. Der ICE, der Ayse Richtung Berlin bringen würde, wurde angekündigt.
Lara erwiderte die Umarmung ebenso fest. »Grüß Begüm von mir. Und deinen Vater. Und Malik!«
Die beiden lösten sich voneinander und sahen sich an.
»Soll ich Cem noch was ausrichten?«, fragte Lara mit einem Lächeln.
»Wir chatten. Heute Abend«, erwiderte Ayse leicht verlegen. Dann musterten ihre dunklen Augen Lara aufmerksam. »Was ist es, was du die ganze Zeit siehst?«
Lara schwieg überrascht.
»Du lächelst, obwohl es nichts zu lächeln gibt. Du starrst in die Luft, und manchmal sieht es aus, als würdest du dich mit jemandem unterhalten. So wie damals im Garten bei Marc. Als du nach Timo gerufen hast.«
»Ich sehe Timo nicht,« erwiderte Lara hilflos. Unsicher schaute sie zu ihm, der in der Nähe stand und die beiden musterte.
»Schon wieder!«, rief Ayse und folgte Laras Blick. »Was ist da?«
Lara konzentrierte sich auf ihre Freundin. »Nichts. Da ist gar nichts.«
Sie konnte die Enttäuschung in Ayses Gesicht lesen, ehe diese mit leicht provozierendem Ton weitersprach. »Timo ist tot. Und ich habe dich deshalb noch nie weinen sehen. «
Laras Herz klopfte wild.
»Kannst du es mir nicht sagen? Oder willst du nicht?«
Lara zögerte, ehe sie antwortete. »Ich kann nicht.«
»Warum?«
Sie schwieg. Wie sollte sie darauf eine unkomplizierte Antwort geben?
»Hat es mit unserer Abwesenheit zu tun?«
Lara gefiel die Richtung nicht, die dieses Gespräch nahm. Doch ganz gleich, welches Versprechen sie Mila gegeben hatte, sie würde Ayse niemals anlügen. »Ja. Hat es.«
Ayse atmete tief durch. »Du erinnerst dich, oder?«
Lara schwieg wieder.
»Wirklich? Du erinnerst dich? Du weißt, wo wir waren?«
»Ayse, das ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um ...«
»Du hast recht! Der richtige Zeitpunkt wäre in den letzten Wochen gewesen. In denen ich halb verrückt geworden bin. Weil ich mich an nichts erinnern kann!«
Der Zug kam hinter ihr quietschend zum Stehen.
»Warum redest du nicht mit mir? Du hast das alles doch schon selbst durchgemacht. Du weißt, wie schrecklich sich das anfühlt. Wenn du weißt, wie ich meine Erinnerungen zurückbekommen kann, dann sag es mir!«
»Du wirst dich erinnern«, beharrte Lara.
»So wie du?«, hakte Ayse nach.
Lara konnte nichts erwidern. Aus dem Zug traten zahlreiche Fahrgäste, die an ihnen vorbeigingen.
»Wann haben wir aufgehört zu reden?«, fragte sie jetzt verzweifelt. »Lara, ich fühle mich beschissen! Du kannst mir helfen. Kannst alle Fragen beantworten. Warum, verdammt noch mal, schweigst du?«
Die Türen des Zugs wollten sich zur Weiterfahrt schließen, als Ayse energisch ihre Tasche nahm, in den Zug schmiss und hinterhersprang. Sie musterte Lara verletzt, ehe die Türen sich schlossen.
Nein. Das war falsch! So durften sie nicht auseinandergehen.
»Ich erzähle dir alles«, rief Lara.
Ayse sah sie aufmerksam an.
»Ich rufe dich später an!«
Zwischen Ayse und ihr durfte sich keine Tür schließen.
Sie würde ihr Versprechen gegenüber Mila brechen.
Sie sah dem Zug nach. Dann atmete sie tief durch und wollte sich auf den Weg zu Karin machen, die in ihrem Auto vor dem Bahnhof auf sie wartete, als sie einen Körper spürte, der um ihre Beine strich. Sie sah hinunter.
»Styx!«, rief sie verwundert.
Die dicke Katze sah kurz zu ihr hoch, ehe sie ihr herzhaft ins Bein biss.