Ein Sprung ins kalte Wasser
Und diese zwei Beine stiefelten mühelos die Straße entlang. Im Gegensatz zu Lara. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Ihr taten die Beine weh. Bis auf ein paar Umrisse in der Dunkelheit konnte sie nichts erkennen. Timo leuchtete zwar schwach, aber nicht hell genug, um den Weg zu erkennen.
Sie liefen jetzt schon eine Stunde die Straße entlang. War das überhaupt noch eine Straße? Es gab keine Laternen, und das letzte Auto war ihnen vor einer halben Stunde begegnet. Erst war es eine halbe Ewigkeit bergauf gegangen. Nach Sasbachwalden durch Schönbüch, einen Ort, der aus einer Ansammlung von Häusern bestand und sich den Hügel hinauf schlängelte. Dann ging es den Berg auf der anderen Seite wieder runter.
Lara spürte ihre Verletzungen und hatte Schmerzen, weshalb sie nur langsam vorankamen. Wo war Styx, wenn man sie mal zum Beamen brauchte?
Mila tapste die ganze Zeit schweigend vor Lara her. Sie kam nicht mal außer Atem, während Lara ständig Pausen einforderte. Nicht nur ihre Knochen, auch ihre Kondition brauchte nach der Zeit im Krankenhaus Zeit zum Aufbau. Die beiden sprachen ansonsten kein Wort, obwohl Lara so viele drängende Fragen hatte. Wusste Mila, dass sie Karin die halbe Wahrheit gesagt hatte? War sie deshalb sauer? Und was konnte Mila ihr über die Blasen sagen, die Lara neuerdings sah? Doch ein Thema stand all diesen voran.
»Was passiert mit dir, wenn du Weltenhüterin bist?«, fragte
Lara.
»Das hat Styx dir doch erklärt.«
»Ja, aber was passiert mit dem Kind
Mila? Mit Jos und Karins Tochter.«
Für einen Moment verlangsamte sich Milas Tempo.
»Werden sie dich beerdigen? Oder wirst du einfach unsichtbar?«
»Das muss nicht deine Sorge sein.«
»Ist es aber!« Lara holte Mila ein und drehte sie zu sich um. »Ich werde mit den beiden zusammenleben. Ich werde für sie da sein, wenn sie dich verloren haben. Ich will wissen, was mich erwartet. Was die beiden erwartet.«
Mila schwieg einen Moment, ehe sie leise weitersprach. »Sie werden eine neue Tochter haben.« Die kleine Gestalt mit ihren wirren Haaren drehte sich abrupt um und lief weiter.
»Wen meinst du damit? Mich?«
Keine Antwort. Lara beeilte sich, Mila zu folgen. »Hast du überhaupt kein Problem damit?«, bohrte Lara jetzt wütend weiter. »Das sind zwei tolle Menschen! Sie haben so lange auf dich gewartet. Sie haben das nicht verdient.«
»Das spielt keine Rolle.«
»Natürlich spielt das eine Rolle!«
»Meine Aufgabe, die spielt eine Rolle. Ich kann keine Rücksicht nehmen.«
»Es gibt aber mehr als Regeln und Aufgaben! Es gibt ein Miteinander. Es gibt Familie. Das ist viel wichtiger!«
»Du verstehst es nicht, oder?« Mila drehte sich nun um. »Ihr alle, ihr seid meine Familie. Alle Menschen. Jeder Einzelne von euch.
«
Lara schwieg. So hatte sie es noch nie gesehen. Mila hatte ihr Dasein der ganzen Menschheit gewidmet. Und auch wenn sie ihre Aufgabe Laras Geschmack nach ein bisschen zu ernst nahm, so spürte sie doch, wie wichtig Mila die Menschen waren. War das wirklich so einfach?
»Und die Vorstellung, wie sehr Karin leidet, stört dich nicht?«
»Was ist dein Vorschlag? Dass ich keine Weltenhüterin werde?«
»Sie weiß bereits, dass du besonders bist. Warum sagen wir ihr nicht die Wahrheit?«
»Sie würde nicht verstehen.«
»Aber ...«
»Wir sind da.« Mila verschwand so schnell in einem kleinen Weg, der direkt in den Wald führte, dass Lara ihren Satz nicht beenden konnte.
Lara tastete vorsichtig mit dem Fuß in der Dunkelheit, als sie über eine Wurzel stolperte. Unsanft landete sie am Boden und wollte sich mit den Händen abstützen, als ihre linke Hand einen geschliffenen, runden Stein ertastete. Der Botswana-Achat. Den Ayse ihr geschenkt hatte! Er war ihr beim Sturz aus der Tasche gefallen. Schnell steckte sie ihn wieder ein. Wenn die Energie, die sie bei diesen Steinen nun sehen konnte, wirklich existierte, dann schadete es bestimmt nicht, einen dabei zu haben.
Einen Moment blieb sie noch auf dem Boden sitzen und holte ihr Handy heraus. Der Stein hatte sie daran erinnert, dass sie Ayse unbedingt noch Bescheid
geben musste, bevor diese wieder aus Sorge von Berlin hierherfuhr. Sie tippte eine Nachricht und schaltete das Handy dann aus. Die Diskussion darüber, warum sie jetzt wohin ging, sparte sie sich für ihre Rückkehr.
Sie stand auf und wollte Mila hinterher, als sich ihr Timo plötzlich in den Weg stellte. Er schüttelte den Kopf und wirkte nervös. Lara hatte ihm erklärt, was sie vorhatte, hatte den Plan auf einige Zettel geschrieben und diese danach gewissenhaft vernichtet. Timo war wenig begeistert von Laras erneutem Ausflug zu den Welten. Sie atmete tief durch und ging an ihm vorbei. Er machte sich natürlich Sorgen. Aber sie vertraute Styx. Ihr und Körnchen würde nichts passieren.
Der mit Wurzeln und Steinen bestückte Weg führte durch die Tannen hindurch. Lara konnte Milas Gestalt nur noch schemenhaft erkennen. Bald schon führte der Weg auf eine kleine Lichtung, und endlich blieb Mila stehen.
»Hier ist es.«
Lara konnte nichts erkennen. »Wo sind wir?«
»Das ist der Eingang zum Silbergründle. Eine stillgelegte Silbermine, in der heute nur noch Führungen stattfinden.«
Lara wunderte sich. »Ein offizieller Ort? Ist das nicht ... gefährlich? Könnte da nicht jemand aus Versehen in den magischen Ausgang stolpern und sich in der Welt der Krieger wiederfinden?«
»Das passiert nicht. Du wirst gleich sehen, warum.« Mila ging auf ein dunkles Loch in einem Hang zu und verschwand darin
.
Das war ja mal einladend. Lara wollte folgen, als Timo sich ihr wieder in den Weg stellte. Er schüttelte den Kopf. Heftiger diesmal.
Lara ging lächelnd auf ihn zu. »Ich muss das tun, Timo. Isabel muss zurück. Mit ihrer Kamera. Gerade du müsstest verstehen, dass man solche Aktionen für die anderen tut.«
Obwohl er sie nicht verstehen konnte, schüttelte er wieder den Kopf. Lara ging entschlossen auf Timo zu. Er würde sowieso mit ihr kommen. Würde begreifen, dass ihr keine Gefahr drohte. Sie trat ganz nah an ihn heran, bis ihre Gesichter dicht voreinander waren. Ein Sturm der Sehnsucht brach über sie herein. Ein Kuss. Nur ein Kuss.
Sie küsste die schimmernde Erscheinung, die er war, und ging weiter. Ganz langsam. Schritt für Schritt durch ihn hindurch. Für einen Moment raste ihr Herz. Dann war sie in der Höhle.
Die Wände waren feucht. Lara musste geduckt gehen, so schmal und eng war der Gang. Sie vermochte sich nicht vorzustellen, wie es sein musste, Tag für Tag in einer solchen Höhle zu arbeiten. Sie bekam schon Beklemmungen, wenn sie nur einmal hier durchlaufen musste.
Irgendwann hatte sie Mila eingeholt, die ihre Hand nahm und zu einer Eisenstange führte.
»Hier. Halt dich daran fest. Das ist eine Leiter. Du musst da runter.«
»Warum haben wir eigentlich keine Taschenlampen?«
»Ich kann im Dunkeln sehen.
«
Natürlich konnte sie das.
Mila kletterte bereits die Leiter hinunter. Als Weltenhüterin mangelte es ihr definitiv an Einfühlungsvermögen. Aber ganz im Stillen bewunderte Lara Mila für ihren Mut. Trotz allem, was sie bereits gesehen hatte, war Mila dennoch ein sechsjähriges Mädchen. Oder sah zumindest wie eines aus.
Lara stieg die Leiter hinab, als sie bemerkte, dass Timo ihr nicht folgte. Sie erreichte festen Boden und sah sich nach Mila um.
»Wo ist Timo?«, fragte sie.
»Er kann dir hier nicht folgen.« Lara vernahm durchaus die Zufriedenheit in Milas Stimme.
»Warum?«
»Er hat seine Aufgabe. Und die ist auf dieser Welt. Er kann den Eingang nicht betreten. Und er kann nicht zu den anderen Welten reisen.«
Lara erstarrte. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«
»Weil du dann nicht mitgekommen wärst.«
»Ganz genau!«, rief Lara und wollte die Leiter wieder nach oben klettern.
»Er ist hier, wenn du zurück bist«, rief Mila laut.
Lara zögerte. Sie ließ die Leiter los und starrte im Dunkeln die Umrisse der kleinen Gestalt an. Auch wenn sie Mila nicht sehen konnte. Mila konnte sie sehen.
»Versprichst du mir das?«
Ein kurzes Zögern. Dann: »Ich verspreche es dir.«
Lara nickte. »Okay. Dann lass uns keine Zeit vergeuden.
«
Noch ein paar Meter im Dunkeln, dann wurde es heller. Lara sah nun die grauen Wände um sich herum. Es tropfte von der Decke, die von dicken Holzbalken gestützt wurde. Das Licht kam von einem kleinen See, nicht größer als ein Teich, der von einem Geländer schützend umgeben war. Fasziniert trat Lara näher. Sie starrte in das klare Wasser. Es gab keine Lampen. Das Licht schien eine natürliche Quelle zu haben. Aber welche? Den Grund des Sees konnte sie nicht erkennen.
»Was ist das?«
»Du weißt ja, dass der Mummelsee mit allen magischen Orten auf dieser Welt verbunden ist. Dieser See ist es auch. Wenn man in ihn hineinspringt und ganz nach unten taucht, immer dem Licht entgegen, dann erreichst du den Ausgang.«
Lara lugte in das glitzernde Wasser hinein. »Und das ist noch keinem Besucher aufgefallen? Die haben die Höhle doch bestimmt ausgekundschaftet.«
»Sie sind getaucht. Und haben Kameras nach unten geschickt. Aber es gibt eine Stelle, die aussieht, als würde es nicht weitergehen. Als wäre da ein Stein. Du wirst dieses Zeichen darauf sehen.« Mila hielt Lara die offene Hand hin. Zwitscher starrte sie an, und in ihrem Auge konnte Lara ein Zeichen in einer fremdartigen Sprache sehen.
»Was heißt es?«, fragte sie.
»Guten Flug«, erwiderte Mila trocken.
»In welcher Sprache?«
»In der ältesten der Welt. Die Sprache der Weltenhüter.«
»Ihr habt eine eigene Sprache?
«
Mila nickte und wirkte dabei ein bisschen stolz. »Wenn du das Zeichen siehst, lass dich von deinem Willen leiten. Dein Wille findet den Weg in die andere Welt. Wer diese nicht sucht, wird nichts weiter sehen als einen Stein. Es ist wie mit Zwitscher. Kaum jemand erkennt, dass sie ein echtes Auge ist.«
Lara überlegte einen Moment, was ihr wohl noch alles entging, während sie die Hand ins Wasser hielt. Eilig zog sie sie wieder heraus. »Ist das kalt! Da soll ich rein?«
»Quellwasser hat überall dieselbe Temperatur. Sieben Grad.«
Lara schauderte. »Warum haben alle Ein- und Ausgänge bei uns was mit Wasser zu tun?«
»Es ist die Quelle eures Lebens. In Wasser kommt ihr zur Welt. In Wasser ist das erste Leben entstanden. Ihr findet Wasser super.«
Lara sah ihren Rucksack an. »Meine Vorräte? Die werden klitschnass!«
»Du brauchst sie nicht. Man wird für dich sorgen.«
Mila nahm ihr den Rucksack ab, und Lara dachte mit großem Bedauern an das Baguette, das Karin ihr zubereitet hatte.
»Spring«, forderte Mila in ihrer gewohnten Weltenhüterart.
Lara trat an das Wasser heran. Das Licht darin wirkte einladend und freundlich.
»Der Krieger erwartet dich. Du wirst wieder in derselben Reihenfolge reisen wie schon beim ersten Mal.«
Trotz der Situation musste Lara sich eingestehen, dass sie sich auf einen weiteren Besuch der anderen
Welten freute. Vor allem, da sie diesmal nicht befürchten musste, umgebracht zu werden.
Sie setzte zum Sprung an, als ein Geräusch sie herumfahren ließ. Ihr Mund öffnete sich vor Erstaunen, als sie Marcs Gesicht erkannte. Er packte sie an der Hand und zog sie ins Wasser.
Lara hörte ein verzweifeltes »Nein!« von Mila, als ihr Körper in das eiskalte Wasser eintauchte. Sie wehrte sich, versuchte, Marc die Hand zu entziehen. Aber er zog sie mit sich. Immer tiefer ins Wasser. Dem Licht entgegen. Lara bekam keine Luft mehr. Die Kälte legte sich schwer auf ihre Brust. Nur schemenhaft nahm sie das Zeichen wahr, das eben noch in Zwitschers Augen zu sehen gewesen war.
Was um alles in der Welt machte Marc hier? Sie sah gerade noch, dass er einen in Folie gewickelten Rucksack auf dem Rücken trug. Dann drohte ihre Lunge zu explodieren, als ein starker Sog ihren ganzen Körper erfasste.
Milas protestierender Schrei verstummte, während Marc Lara in die eiskalte Tiefe zog.