Am silbernen Faden
Lara und Marc folgten dem Riesen in einigem Abstand. Sie hatten Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Was bei ihm wie ein entspannter Spaziergang aussah, war für Lara fast schon Rennen.
»Sag schon, erinnerst du dich?«
Lara verdrehte die Augen. »Ich hatte Todesangst. Also nein, ich weiß nicht, ob wir hier damals einen Sternenhimmel hatten.«
Marc war die ganze Zeit damit beschäftigt, auf die Dämmerung zu warten, um endlich Fotos vom Sternenhimmel zu machen. Ein 3D-Programm des Universums. Das war sein Ziel. Und wenn er das berechnen konnte, dann konnte er anhand dieser Sternenhimmel feststellen, wo sie waren.
Aber Lara konnte sich wirklich nicht erinnern, ob sie damals irgendeinen Stern gesehen hatte. Sie hatte nur die Bomben gehört und die vielen Toten gesehen. Auch jetzt war der anscheinend stetig andauernde Krieg deutlich zu hören.
»Du musst ihn hinhalten. Bis es Nacht wird.«
Jetzt blieb sie stehen. Ihre Geduld war am Ende. »Ich weiß, es spielt für dich keine Rolle, aber ich bin schwanger. Und ich will so schnell wie möglich nach Hause zurück. Ich habe keine Lust und auch keine Zeit für dein Ego-Programm. Ich gehe mit ihm zu diesem Stein und dann ...«
»Was dann?«, unterbrach er sie. »Was passiert dann eigentlich? Hast du jetzt irgendwelche magischen Superkrä fte?«
»Ich sehe Blasen.«
»Blasen?«
»Ja. Wie bei den Träumern. Blasen, in denen sich mir der Wille des Menschen zeigt.«
Er musterte Lara überrascht. »Und ... was siehst du bei mir?«
Sie blickte auf die Blasen über ihm. Sie schimmerten ganz schwach, waren kaum noch zu erkennen. Sie ignorierte die Blase, in der sie sich selbst sah. »Dich und deinen Sternenhimmel. Das sehe ich. Du zeigst ihn einem Kind.«
Er stutzte und wich ihrem Blick aus, um zum Himmel zu sehen. »Vielleicht gibt es hier gar keine Nacht.«
Wieder einige Zeit später war sie am Ende ihrer Kräfte. Warum konnten Eingang, Stein und Ausgang in einer Welt nicht einfach nebeneinanderliegen?
»Ich brauche eine Pause!«, rief sie.
»Keine Pause«, gab der Riese zurück.
Sie mühte sich noch eine Weile, mit ihm Schritt zu halten, als der Schwindel sie überkam. Die sandige Welt bog sich einmal hoch und wieder herunter, ehe Lara sich selbst im Sand wiederfand. Marc an ihrer Seite.
»Hey!«, rief er dem Riesen hinterher. »Warte!« Er zog eine Flasche Wasser aus dem Rucksack und gab Lara zu trinken.
»Wir haben keine Zeit!« Die Stimme des Riesen klang nervös.
Lara trank gierig, aber das diffuse Gefühl in ihrem Kopf wurde nicht besser. Sie wollte dennoch aufstehen, als der Boden unter ihr erbebte. Sie hielt sich an Marc fest, der mit entsetztem Gesichtsausdruck in eine Richtung sah. Sie folgte seinem Blick. Da waren sie. Ein ganzes Bataillon Riesen, das direkt auf sie zustürmte. Wo kamen die so plötzlich her? Lara drehte sich zu dem Weltenhüter um und erkannte nun, dass von der anderen Seite ebenfalls ein Heer auf sie zugerannt kam. Sie waren in der Mitte einer sich anbahnenden Schlacht. Schon schlugen die ersten Harpunen rechts und links neben ihnen ein.
»Halt sie auf!«, schrie Marc, der mit einem Mal gar nicht mehr so sicher schien, dass niemand sie töten würde. »Du bist doch ihr Boss!«
»Ich bin ihr Weltenhüter!«, rief der Riese.
»Und was ist der Unterschied?«, wollte Marc gehetzt wissen.
»Sie sehen ihn nicht«, flüsterte Lara, die sich immer noch an Marc festklammerte. »Die meisten Weltenhüter sind für die Bewohner ihrer Welt unsichtbar.«
Marc sah beklommen zu den Riesen, deren Gestalten nun schon deutlich zu erkennen waren. Lara sah das Geschoss auf sich zukommen, ehe ein Schmerz sie durchzuckte und sie das Bewusstsein verlor.
Als sie zu sich kam, hörte sie die Geräusche der Schlacht. Explosionen erschütterten den Boden. Ein stechender Schmerz ließ sie aufstöhnen.
»Lara!«
Sie öffnete die Augen.
Marc saß vor ihr. Verzweiflung im Gesicht. »Du blutest. Die haben hier kein Verbandszeug. Ich weiß nicht, was ich machen soll.«
Lara hatte nur einen Gedanken. Ihre Hände wanderten zu ihrem Unterleib. Sie fühlte etwas Warmes. »Nein!«
»Bau jetzt keinen Scheiß, klar?« Marcs Stimme drang wie aus weiter Ferne zu ihr.
Sie starrte ihre Hand an, die voller Blut war.
»Tu was!« Marc schrie den Weltenhüter an.
Lara nahm gerade noch wahr, dass sie in einer Höhle lagen. Von außen leicht erhellt. Der Weltenhüter stand neben ihnen.
»Wir sind hier nicht auf Heilung ausgerichtet«, hörte sie seine tiefe Stimme. »Hier gibt es nur den Tod.«
»Scheiße, Mann!«, schrie Marc und zog Lara fest an sich. Er sah ihr in die Augen. »Du stirbst mir hier nicht weg, ist das klar? Du nicht!«
Seine Panik ging direkt auf sie über. Styx hatte ihr versprochen, dass Körnchen nichts geschehen würde. Hatte sie gelogen?
Du trägst alles bei dir, was du zum Überleben brauchst.
Lara dachte nicht nach, handelte nur noch instinktiv. »Der Stein«, flüsterte sie.
»Der Stein? Scheiße, Lara. Dein Auftrag interessiert niemanden. Du blutest ohne Ende!«
»Der Stein ... in meiner Hosentasche.«
Marc zögerte einen Moment, dann tastete er ihre Hose ab und zog den Achat daraus hervor. Der Weltenhüter trat näher.
»Was soll ich mit dem Kiesel machen?«, fragte Marc verzweifelt.
Lara nahm den Stein und legte ihn auf ihren Unterleib. Überzeugt, dass nichts passieren würde, aber mit einer letzten Hoffnung.
»Was wird das?«
Sie hielt inne, schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf den Stein. Auf das, was sie gesehen hatte, als sie ihn das erste Mal in der Hand gehalten hatte. Die Wärme, die von ihm ausgegangen war. Wie sich eine flimmernde Energie um ihren Unterleib gelegt hatte.
Du trägst alles bei dir, was du zum Überleben brauchst.
Sie spürte den Stein auf ihrer Wunde liegen. Spürte den Schmerz, das Blut, das herausfloss. Und dann spürte sie etwas Neues. Eine Wärme, eine Energie. Sie hielt die Augen weiter geschlossen. Konzentrierte sich ganz auf diese Kraft. Auf die Natur des Steins. Die Geräusche um sie herum ebbten ab. Sie hörte nur noch ein Rauschen. Spürte zunehmend die Wärme, die sich in ihrem Unterleib breitmachte. Sie wusste nicht, wie lange sie da lag. In der wohligen Wärme. In dem plötzlichen Gefühl, behütet und beschützt zu sein. Irgendwann war der Schmerz ganz weg. Da war nur noch Wärme. Und Sicherheit.
Und Marcs Stimme, die dies alles durchbrach. »Wow.«
Langsam öffnete Lara die Augen und setzte sich auf. Der Schmerz war vollständig verklungen. Als sie auf ihren Bauch sah, konnte sie gerade noch ein Schimmern wahrnehmen, das langsam verblich. Der Stein lag auf ihrem Shirt, das von Blut durchtränkt war. Sie zog das Shirt hoch. Wischte das Blut beiseite. Die Wunde war ... weg.
»Was hast du gemacht?«, fragte Marc, der leichenblass war .
»Ich habe nichts gemacht.« Lara nahm den Stein in die Hand und betrachtete ihn. So unscheinbar sah er aus. Sie konnte es selbst nicht fassen.
»Ich habe von euren Zaubersteinen gehört«, erklärte der Riese nun.
Lara sah zu ihm. »Zaubersteine?«
»Eure Welt schenkt euch Zaubersteine. Das habe ich gehört.«
»Zaubersteine. Bullshit.« Marc stand völlig neben sich. »So was ist bei uns noch nie passiert.«
»Dann passiert es vielleicht nur in Verbindung mit ihr.«
Jetzt sah Marc Lara an. Anders als zuvor. Eine Mischung aus Vorsicht und Verwunderung. »Kannst du aufstehen?«, fragte er.
Sie nahm seine Hand und erhob sich. Tatsächlich fühlte sie sich großartig. Als sie die Hände auf den Bauch legte, spürte sie deutlich die Präsenz ihres Kindes. Wenn auch nicht körperlich, dazu war Körnchen noch zu klein.
»Alles gut?«, hakte Marc nach.
Sie nickte und nahm ihre Tasche. Dann schaute sie zu dem Riesen auf. »Müssen wir noch mal da raus?«
»Nein. Es geht jetzt nur noch weiter hinein.« Er deutete auf die Höhle, die sich in die sandige Erde hinunterschob.
Langsam bewegten sie sich vorwärts. Je tiefer sie in die Höhle hineingingen, desto weniger hörte man die Bomben und fühlte die Erschütterung des Bodens.
»Warum eigentlich dieser Krieg?«, fragte Marc, der die ganze Zeit schweigend hinter ihr hergegangen war. Die Frage galt nicht ihr, sondern dem Weltenhüter. »Sie schlachten sich hier nur ab. Die ganze Zeit. Wer sucht sich so was freiwillig aus?«
»Das tun sie bei euch doch auch?«, stellte der Riese fest.
Marc schwieg. Und Lara stellte fest, dass er seit Langem seinen Sternenhimmel vergessen hatte.
»Wir sind da.«
Die Höhle wurde breiter und mündete in einen großen Raum. Die Wände waren grau, aber von einem weißen Licht erleuchtet, das aus einem kleinen See in der Mitte der Höhle drang. Aus dem See wuchs ein Baum. Lara war über die Anwesenheit des Baums so überrascht, dass sie stehen blieb, um ihn anzustarren. Sie hatte auf dieser Welt nicht mehr mit etwas Lebendigem gerechnet. Schon gar nicht so tief unter der Erde.
»Wie kann er hier wachsen? Ohne Licht?«, fragte sie erstaunt, während sie näher an den Baum herantrat.
Sein Holz war grau, so wie alles hier. Anstelle von Blättern hatte er kleine Lichter an den Zweigen, die immer wieder aufglommen. Lara musste bei ihrem Anblick lächeln. Das Licht stimmte sie ganz friedlich.
»Er hat sein eigenes Licht. Bist du bereit?«, fragte der Riese.
Lara sah zu ihm. Er war an einen großen, schimmernden Kristall getreten, der neben dem See lag. Der Stein war im Gegensatz zu den schroffen Felswänden glatt poliert.
Der Riese tauchte die Hände ins Wasser und legte sie dann auf den Stein.
Lara wollte zu ihm gehen, als Marc sie aufhielt. »Moment. Was passiert jetzt? «
»Das weiß ich selbst nicht genau.«
»Na toll. Und wenn du wieder zerfetzt vor mir liegst?«
»Mir wird nichts passieren. Styx hatte recht. Ich trage alles bei mir, was ich zum Überleben brauche.«
Marc zögerte, ehe er mit einem trockenen Lächeln betonte: »Damit meinte Styx bestimmt nicht mich.«
»Nein. Vermutlich nicht«, bestätige sie.
»Wenn dir doch was passiert, drehe ich dem Streuner persönlich den Hals um!«
»Wenn du wüsstest, was Styx ist, würdest du sie nicht Streuner nennen«
»Was ist sie denn?«
»Warten wir es ab.« Lara machte sich von Marc los und ging zu dem Weltenhüter. Sie stellte sich ihm gegenüber, während er damit begann, den Kristall mit den nassen Händen zu reiben.
»Der Wille auf eurer Welt ist einzigartig in unseren sieben Welten«, bestätige er Sty Worte, während seine Hände immer schneller über den Stein glitten. »Wenn eure Weltenbewohnerin hier ist, wirst du sie anhand ihres Willens finden. Breite dich aus und such einen Willen.«
Lara konnte den Bewegungen seiner Hände kaum noch folgen. Aber sie hörte etwas. Einen Ton, der aus dem Kristall zu ihr empordrang. Tief und leise kündigte er sich an. Doch je schneller die Bewegungen des Weltenhüters wurden, desto lauter wurde der Ton und wurde schließlich von den Wänden der Höhle wiedergegeben. Die ganze Höhle war erfüllt vom Klang des Tons, der Lara entfernt an den Gesang der Wale erinnerte. Sie schloss die Augen, konzentrierte sich ganz auf den Ton, ganz auf den Willen, den sie bei den Menschen gesehen hatte. Sie senkte die Hände auf den Kristall, der vibrierte. Das Vibrieren ging in ihren Körper über.
Ein Schmerz durchzuckte sie, als ihr drittes Auge zu kribbeln begann. Sie ignorierte den Schmerz und konzentrierte sich nun ganz auf den Punkt zwischen ihren Augen. Sie würde mit diesem Auge sehen, das verstand sie. Und während sie noch diesen Gedanken hegte, hatte Lara das Gefühl, als würde sich etwas aus ihrem Körper lösen. Als würde sie über sich selbst hinauswachsen. Sie sah mit geschlossenen Augen. Schwebte aus sich heraus. Sah Marcs erstauntes Gesicht. Den Riesen, dessen Hände über den Stein sausten. Lara sah sich selbst, mit ihren Händen an dem Kristall klebend. Ein silberner Faden drang aus ihr heraus, bis zu ihr nach oben. Er hielt sie fest, sorgte für Verbundenheit. Sie versuchte, an sich selbst herabzusehen. Aber sie konnte nichts erkennen. Hatte jegliche Form verloren.
Nun streckte sie sich erneut, flog die Wände der Höhle entlang und drang wie der Ton selbst durch das Gestein Richtung Erdoberfläche. Sie schoss aus dem sandigen Boden heraus und sah die Ebene über ihnen, auf der sich die Krieger einen erbitterten Kampf lieferten. Aber sie wurde noch größer, noch breiter. Als hätte sie die Grenzen ihres Körpers verlassen und wäre nun endlos. Sie sah die Ebenen vor sich, dann den Strand und schließlich das graue Meer, auf dessen Wellen die Kriegsschiffe waren. Sie flog über kantige Bergrücken, durchbrach dichte Wolken und entdeckte Quellen in den Felsen. Quellen mit glitzerndem Wasser. Dann schoss sie wieder über ein Meer, weiter über sandige Ebenen. Flog über kleine Ansammlungen von Hütten hinweg, in denen die Riesen hausten und das Kämpfen erprobten. Keiner von ihnen hatte eine Willensblase über sich. Sie waren wie ferngesteuert.
Lara flog über Ebenen hinweg, die über und über mit Leichen bedeckt waren. Und sie sah, wie eine der vermeintlichen Leichen sich erhob, aufstand und einfach weitermachte. All das konnte sie sehen. Aber keine Willensblase. Sie flog noch weiter und erreichte schließlich wieder diese Wüste. Ihre Gedanken konzentrierten sich auf den Ort unten in der Höhle, und wie von magischer Hand wurde Lara zurückgezogen. Durch das Gestein direkt in ihren Körper hinein.
Sie plumpste auf den Boden, wieder ganz in der begrenzten Hülle ihres Körpers, und starrte benommen vor sich hin. Unfähig, ein Wort zu sagen, starrte sie von dem Riesen, dessen Hände mit der Bewegung aufhörten, zu Marc. Der saß vor ihr auf dem Boden und starrte sie mit riesigen Augen an.
»Was ist passiert?«, fragte sie leise. Ihre Stimme hörte sich fremd an. Als müsste sie sich erst wieder an ihren Klang erinnern.
»Du ... warst ... überall. Hier in der Höhle«, flüsterte Marc. »Du hast geleuchtet. Dein Körper war hier. Und du ... du warst draußen. Und dennoch habe ich dich erkannt.«
Lara lächelte. »Ich war überall auf dieser Welt.«
»Und? Hast du ihren Willen gesehen?«, dröhnte der Weltenhüter, der von den Vorgängen keineswegs überrascht schien.
Lara schüttelte den Kopf. »Nein. Isabel ist nicht hier.«
»Gut. Dann könnt ihr jetzt auch gehen.«
Sie waren bis zum nächsten Strand gelaufen. Schweigend diesmal. Marc starrte Lara immer wieder von der Seite an. Er hatte seine Agenda für den Moment vergessen. Es interessierte ihn nicht mehr, ob es noch einmal Nacht wurde und er die Chance bekommen würde, den Sternenhimmel zu fotografieren. Lara schluckte, als ihr klar wurde, dass auch sie für einen Moment nicht mehr an Timo gedacht hatte, als sie nur noch ... Styx gewesen war.
Sie erreichten einen Strand. Das endlose graue Meer erstreckte sich vor ihnen.
»Hier ist der Ausgang«, erklärte der Riese.
Lara sah zu seiner Hand, die eben noch auf so wundersame Weise den Kristall zum Klingen gebracht hatte. Das Weltenhüter-Auge blickte sie intensiv an. Es hatte keine Ähnlichkeit mit Milas Zwitscher, das viel kindlicher und doch gleichzeitig so streng wirkte. Sein Auge war älter, reifer, erfahrener. Und entsprechend gelassen.
»Was glaubst du, warum unsere Weltenhüterin Isabel nicht sehen kann? Durch ihr Auge? Wie kann sie sich vor ihr verstecken?«
»Ich glaube nicht, dass sie sich versteckt«, erklärte der Riese. »Ich glaube, dass sie versteckt wird.«
Lara dachte noch über seine Worte nach, als der Riese sie plötzlich packte. Ehe sie protestieren konnte, warf er Lara mit aller Kraft hoch in die Luft. Hinaus ins Meer. Sie schrie, ehe sie in den hohen Wellen landete. Ein Sog erfasste sie.
Im nächsten Moment sah sie Laniakea.