Tonka
Wie ein Kirschkern wurde Lara ausgespuckt. Von einer weichen, gummiartigen Masse. Sie flog gute zwei Meter hoch in die Luft und fiel dann auf den Boden, der dankbarerweise nachgab. Trotz ihrer noch verheilenden Brüche fühlte sie keinen Schmerz. Lara blieb einen Moment liegen und starrte in den blauen Himmel über ihr. Bei näherem Hinsehen erkannte sie, dass der Himmel im steten Ablauf seine Farbe änderte. Ein dunkles Blau wechselte zu einem helleren, dann ging es in ein glitzerndes Weiß über.
Sie setzte sich auf und erkannte eine ihr vertraute weite Fläche, in der sich eine dicht bewachsene Graslandschaft befand, die sich im Wind sanft hin und her bewegte. Von unten nach oben hin flackerten sämtliche Farben des Regenbogens auf, sausten über jeden Halm hinweg. Auf der weiten Ebene mit all ihren Halmen war das ein unfassbares Farbspiel. In der Ferne entdeckte Lara ein Gebirge, das sich hoch in den Himmel erstreckte und ebenfalls einen Wechsel von Braun- und Grautönen zum Besten gab. Kein Zweifel, sie war zurück in der Welt der Frauen.
Sie fasste sich an den Unterleib und hoffte, dass es Körnchen gut ging. Einen Moment überlegte sie, ob Timo der Name Johanna gefallen würde. Warum geisterte dieser Name jetzt in ihrem Kopf herum? Es gab etliche andere Namen, die sie im Falle einer Tochter in Erwägung ziehen konnte. Sie würde sie alle aufschreiben und Timo vorhalten, damit er mit ihr gemeinsam einen aussuchen konnte. Lara lächelte. Irgendwie
war es absurd, einem Sesamkorn einen Namen zu geben. Und gleichzeitig war es wunderschön.
Sie wollte sich gerade nach Marc umsehen, als sie einen empörten Schrei hörte. Neben ihr öffnete sich der Boden, und Marc wurde im hohen Bogen ausgespuckt. Seine Arme ruderten, während er auf dem Boden landete. Hart. Der Boden gab nicht mal ansatzweise nach. Marc stöhnte vor Schmerz.
»Mir hat sie
eine leichtere Landung beschert«, stellte Lara fest.
Er stand auf und funkelte sie an. »Wer?«
»Na ... sie
«, erwiderte Lara. »Die Welt. Du weißt doch, dass sie ein Eigenleben besitzt und hier alle wesentlichen Entscheidungen trifft.«
»Und sie kann Menschen heilen«, erinnerte sich Marc.
Lara traf es wie ein Schlag, als sie Timo wieder vor sich sah. Wie er auf einer Wiese genau wie dieser gelegen hatte. Blutend und ohne Bewusstsein. Wie die Erde sich aufgetan hatte, um ihn zu verschlingen. Um ihn dann, Stunden später, nackt und völlig geheilt wieder herauszugeben. Warum hatten sie nicht versucht, sich hier das Leben zu nehmen? Vielleicht hätte diese Welt sie beide heilen können? Wobei es keine Rolle gespielt hätte, fiel Lara ein. Denn wenn Timos Seele im Totenreich geblieben war, dann hätte auch diese Welt hier nichts daran ändern können.
Sie konnte seine Abwesenheit förmlich spüren. Ein Schmerz im ganzen Körper. Als könnte sie nicht mehr so leicht aufstehen wie früher.
Marc sah sie an. Wusste er, was in ihr vorging? Sie versuchte, ihre Gedanken und
Gefühle zu verdrängen, und stand entschlossen auf. »Wir müssen die Weltenhüterin finden.«
»Hallo!«, rief eine helle Stimme.
Sie drehten sich überrascht um. Hinter ihnen stand eine Gestalt, ein paar Zentimeter kleiner als Lara. Ihre großen, schwarzen Augen musterten sie, während ihre Haut in rascher Abfolge ihre Farbe änderte. Die langen Haare trug sie offen, eine wilde Mähne. Ein gelber Schimmer floss an ihrem Körper herunter, gefolgt von Orange, Rot und Grün. Schneller, als Lara es in Erinnerung hatte. Als wäre sie nervös. Über ihr entdeckte Lara eine kleine, bunte Willensblase. Das Bild darin konnte sie nicht erkennen. Es war zu verschwommen.
»Seid ihr gut gelandet?«
»Ähm ... ich schon«, erwiderte Lara mit einem Blick zu Marc.
Die Frau kam näher. »Ich habe euch erwartet.«
Lara betrachtete die kleine Gestalt. Die Weltenhüterin war bei ihrem ersten Besuch die Einzige gewesen, die ihre Sprache gesprochen hatte. Aber sie hatte anders ausgesehen. Vor allem war sie größer gewesen. Und diese Frau hier hatte eine Willensblase. Ganz schwach nur, Lara konnte nicht erkennen, was darin war. Die anderen Weltenhüter hatten jedoch keinen eigenen Willen.
»Bist du die Weltenhüterin?«, fragte sie dennoch zögernd.
Die Frau lachte, was ihre Haut nun in den verschiedensten hellen Farbtönen aufflackern ließ. »Nein. Ich bin Tonka.« Sie verneigte sich mit vor der Brust gefalteten Händen. »
Namasté.«
Lara und Marc sahen sich kurz an, ehe sie sich ebenfalls vor Tonka verneigten.
Diese spürte ihre Unsicherheit. »So begrüßt man sich doch bei euch?«
Sie mussten verwundert geschaut haben, denn Tonka wirkte mit einem Mal bedrückt. Die Farbe ihrer Haut ging in ein dunkles Braun über.
»Meine Seele grüßt deine Seele. Das bedeutet es?«
»Ja! Na klar«, beeilte sich Lara zu sagen. »Es gibt viele Menschen, die diese Geste machen. Sie ist nur uns nicht so vertraut.«
Tonka wirkte unzufrieden. »Ihr seid die Welt der Unterschiede. Daran hätte ich denken sollen.«
»Du sprichst unsere Sprache wirklich gut«, betonte Lara. Sie hatte in Erinnerung, dass die Frauen hier die Sprachen aller Welten lernen konnten.
Tonka sah sich einen Moment um und kam dann näher, um leiser weiterzusprechen. »Als ihr das letzte Mal hier wart. Und sie
euch eingesperrt hatte ...«
... und ausgezogen
, ergänzte Lara in Gedanken.
»... da bin ich zu euch gegangen. Mit einer Freundin. Wir wollten euch ansehen. Kennenlernen. Es war so aufregend! Also haben wir uns euch genähert. Aber du ...«
Lara sah fasziniert, dass auch die Farbe ihrer Augen sich änderte. Waren sie vorhin noch schwarz gewesen, so musterte sie Lara nun mit einem dunklen Braun.
»Du hast uns angeschrien.«
»Oh, daran erinnere ich mich gut«, betonte Marc.
»Bring ihn zurück! Das hast du geschrien.«
Lara
nickte.
»Es war toll!«, rief Tonka mit Begeisterung. »So viel Gefühl.«
Lara stutzte verwundert. Sie hatte Panik gehabt und war mehr als nur ein bisschen unfreundlich zu ihr gewesen.
»Ich habe nach dieser Begegnung eure Sprache gelernt«, erklärte Tonka nun. »Und als ich gehört habe, dass ihr kommt, war ich so aufgeregt!«
»Warum?«, entgegnete Marc trocken. »Damit sie dich noch einmal anschreien kann?«
Tonka schnalzte aufgeregt, was ihre eigentliche Sprache war. Dann schien sie sich an die Sprachbarriere zu erinnern. Sie schloss einen Moment die Augen, konzentrierte sich. »Wir haben hier nicht so viel Gefühl. Außer Liebe findet ihr hier nichts. Aber du hattest Angst. Das ist faszinierend!«
Lara ignorierte die für sie absurde Feststellung, da eine andere Sache sie beschäftigte. »Wir waren erst vor ein paar Wochen hier. Wie kann es sein, dass du unsere Sprache schon so gut sprichst?«
Tonka musterte sie verwundert. »Ich habe singend um das Wissen gebetet, und dann hatte ich es.«
Sogar das Erlernen von Sprachen funktionierte hier mit Singen.
»Wir benutzen wesentlich mehr Prozent unseres Gehirns als ihr. Deshalb fällt mir das Lernen leichter«, betonte Tonka.
»Und das hier ist also euer magischer Eingang?«, fragte Lara verwundert und sah sich dabei um. Nun, da die Erde sie ausgespuckt hatte, hatte sie sich
wieder verschlossen, und nichts deutete auf einen Eingang oder eine Höhle hin.
»Nein. Unser magischer Eingang ist überall. Sie
wirft einen da raus, wo sie
einen haben will. Der Ausgang ist an einem festen Ort. Den kennt nur die Weltenhüterin.«
»Warum hat sie uns dann hier ausgespuckt? Und nicht bei der Weltenhüterin?«, fragte Lara verwundert.
»Weil sie wollte, dass wir uns treffen.« Tonkas Augen nahmen ein tiefes Rot an. Es wirkte, als würde sie gleich vor Spannung platzen. »Ich will mit euch gehen.«
Lara hätte mit allem gerechnet, aber nicht damit. »Du willst ... was?«
»Ich will eure Welt kennenlernen!« Die Farben flossen in hellen Rottönen über ihren Körper hinweg. Ihre Willensblase blähte sich etwas auf. »Ich will wissen, wie das ist. Diese Gefühle. Angst. Und Wut. Es muss so aufregend sein!«
»Was hast du vorhin über euer Gehirn gefaselt?«, fragte Marc dazwischen. »So intelligent kannst du nicht sein, wenn du so einen Quatsch erzählst.«
Tonkas Augen wurden schwarz. Ihr Körper färbte sich ebenfalls dunkel. »Warum Quatsch?«, fragte sie mit großen Augen.
»Hey, guck mich nicht so an. Ich habe das nicht böse gemeint.«
Lara musterte Marc erstaunt. Tonkas offensichtliche Betroffenheit schien ihn mitzunehmen.
»Aber Angst ist etwas sehr Unangenehmes. Kein Gefühl, das du unbedingt erfahren solltest.«
»Warum macht
ihr es dann?«
»Es gehört zum Leben dazu. Wir wollen das nicht!«
»Natürlich wollt ihr es. Ihr habt es euch doch ausgesucht.«
»Wir haben was?«
»Marc ist mit dieser Theorie nicht vertraut«, mischte sich Lara nun ein.
Tonka musterte ihn interessiert. »Du bist ein ... Mann. Richtig?« Sie sprach das Wort Mann
langsam und bedächtig aus. Als wisse sie noch nicht richtig, was damit anzufangen war. »Männer und Frauen, ich finde das total faszinierend. Wir empfinden auch Liebe. Liebe für alles, was uns umgibt. Für alle anderen Wesen hier. Aber ihr, ihr sucht euch jemanden aus, den ihr noch mehr liebt als alle anderen. Richtig? Stimmt es, dass ihr gemeinsam Leben erschafft?«
Lara wollte überfordert antworten, als Tonka bereits weitersprach.
»Und der Junge, wegen dem du so wütend warst, den liebst du, richtig?«
Lara schwieg.
Marc kramte in seinem Rucksack. »Ja. Sie haben sich geliebt. Und haben zusammen ... Leben erschaffen.«
Tonka sah Lara begeistert an. »Du hast es dabei?« Sie sah an Lara hoch und runter. »Wo ist es? In dem Rucksack?«
Bei dieser Vorstellung musste Lara nun doch lachen. Sogar auf Marcs Gesicht konnte sie ein Grinsen erkennen. Sie deutete auf ihren Bauch. »Hier. Es wächst in mir.«
Tonka starrte Lara mit offenem Mund an. »Faszinierend«, fand sie. »Und wo ist der, den du liebst?
«
»Er ist tot«, erklärte Marc, ehe Lara reagieren konnte.
Wütend sah sie ihn an. »Sie hat mich gefragt.«
»Und was hättest du geantwortet?«, konterte er.
»Warum hat er sich entschieden, jetzt schon zu gehen? Ihr habt gerade neues Leben erschaffen?«, wollte Tonka wissen.
»Er ... hat es aus Liebe getan. Für die anderen Menschen in unserer Welt.«
Eine Antwort, die Tonka mit einem Nicken bestätigte und Marc ein verächtliches Schnauben entlockte.
Er schloss den Rucksack wieder. »Sie kann seinen Geist sehen. Sie führt eine Beziehung mit einem Toten.«
»Ich führe keine Beziehung!« Laras Herz schlug nervös.
»Doch. Tust du. Eine völlig kranke Beziehung, die dich an deinem Leben hindert.«
Lara war sprachlos.
Im Gegensatz zu Tonka. »Da sind sie wieder«, rief sie begeistert, während sie auf Marc und Lara deutete. »Diese Gefühle. Ihr liebt euch also auch?«
Überrumpelt sahen Marc und Lara sich an. »Wir lieben uns nicht!«, riefen sie beide gleichzeitig.
»Er ist emotional total verkrüppelt«, betonte Lara.
»Ich bin lebendig. Im Gegensatz zu Timo. Und dir.« Er durchbohrte sie mit seinem Blick, sodass sie ihm auswich.
»Diese Gefühle sind toll! Das will ich erleben.«
»Glaub mir. Das ist nicht so toll«, erwiderte Lara.
»Hier haben wir ein Leben lang dasselbe Lebensgefühl«, erklärte Tonka. »Und es ist toll.
Wirklich. Aber es ändert sich nicht. Es geht nicht auf und abwärts wie bei euch. Ich wünschte, ich könnte ...« Sie brach ab, als ihr Blick Richtung Himmel ging. »Da kommt sie.« In ihrer Stimme schwang Enttäuschung mit.
Lara folgte ihrem Blick. Am Himmel wurde etwas sichtbar. Ein fliegendes Objekt. Mit Freude erinnerte sich Lara an die flunderähnlichen Wesen mit ihren gütigen Augen, die Lara und die anderen damals getragen hatten. Auch der Gesang der Frauen war jetzt zu hören.
Auf der Flunder saß in aufrechter Haltung die Weltenhüterin. Lara erkannte sie sofort. Es lagen Stolz und Weisheit in ihrer Haltung. Sie hatte den Eindruck, dass dieses Wesen einem alle Fragen des Lebens beantworten konnte. Hinter der Weltenhüterin flogen noch zwei weitere Flundern. Die Frauen, die auf ihnen saßen, waren kleiner als die Weltenhüterin. Sie hatten ungefähr Tonkas Größe. Ihre Farben glitten ruhig und unerschrocken über ihre Haut. Sie sangen eine ruhige Melodie, die zum Träumen einlud und es schwermachte, sich zu konzentrieren. Sie trugen keinen Willen über sich. Wie war es möglich, dass Tonka einen Willen entwickelt hatte?
Die drei Flundern landeten sanft vor ihnen und schauten sie mit ihren wundersamen Augen an. Lara musste lächeln. Sie erinnerten sie an Susi.
»Willkommen«, sagte die Weltenhüterin. »Ich dachte, du kommst allein.« Sie musterte Marc abschätzig.
»Er ist zu meinem Schutz dabei«, erklärte Lara ruhig. »Außerdem kennt er Isabel und weiß noch besser, wie man sie finden und
aufhalten kann.«
Einen Moment lang schwieg die Frau. Dann sah sie Lara an. »Eure Weltenhüterin hat mir ausgerichtet, dass er gegen ihren Willen mitgegangen ist.«
Mila hatte also schon gepetzt.
»Ich bin aus meinem Willen mit«, konterte Marc. »Und der zählt bei uns genauso viel.«
Die Weltenhüterin zögerte. Lara war fast ein bisschen beeindruckt von Marcs Souveränität. Er ging wohl davon aus, dass keine Frau ihm widerstehen konnte. Egal von welchem Planeten sie stammte.
»Also gut«, sagte die Weltenhüterin zu Laras Überraschung. »Wir fliegen direkt zum Stein. Je schneller ihr wieder weg seid, desto besser.« Bei diesen Worten sah sie in Tonkas Richtung.
Die schnalzte leise. Rote Wellen flossen über ihren Körper.
Die drei Flundern erhoben sich in die Luft, und die Frauen sangen. Schon bewegte sich unter Lara der Boden. Sie freute sich regelrecht, als sie die Konturen der Flunder entdeckte, die nun entstand. Auch Marc wurde in die Luft gehoben. In kurzer Zeit flogen sie hoch, den beiden Sonnen dieser Welt entgegen. Lara sah noch einmal zum Boden, wo Tonka stand und ihnen nachblickte.