Jamsession
Ayse starrte auf den Bildschirm, auf dem ihre aktuelle Melodie als Linie in der Endlosschleife lief. Eine nichtssagende Melodie. Die Töne wollten nicht recht zueinander passen. Sie machte Ayse schlechte Laune. Immer wieder schob sich das letzte Bild ihrer Erinnerung in ihr Bewusstsein. Dann war es, als hätte die Melodie einen Sprung, wisse nicht mehr weiter. Die Töne tanzten ins Nichts. Unzusammenhängend und ohne Verbindung.
»Ich dachte immer, meine Melodie hat sich verändert, weil ich Streit mit Lara habe«, sagte Ayse leise. »Aber das stimmt nicht. Sie hat sich verändert, weil ich mich an einen Teil meines Lebens nicht erinnern kann.«
»Das würde Sinn ergeben«, bestätigte Leo ihre Überlegung. »Ich hatte den Gedanken schon beim Pizzaessen. Es ist, als hätte deine Platte einen Sprung.«
»Das ergibt überhaupt keinen Sinn«, rief Malik nun. »Keine Ahnung, was hier abgeht. Ich will jetzt jedenfalls nach Hause.«
Ayse musterte ihren kleinen Bruder. »Begreifst du nicht? Ihr habt dieselbe Gabe. Auch er hört die Melodien. Genau wie du früher.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich gehe jetzt. Kommst du?«
Ayse ignorierte ihren Bruder. Ohne sie würde er ohnehin nicht gehen. »Was hast du noch?«, konzentrierte sie sich wieder auf Leo.
»Ich habe erst vor Kurzem mit dem Vertonen angefangen. «
»Warum? Du hörst die Melodien doch schon länger.«
»Ja, aber ... ich wollte sie nicht hören.«
Malik gab ein Schnauben von sich.
»Ich habe getrunken. Der Alkohol hat die Musik abgestellt.« Leo wirkte bei diesen Worten so verloren, dass Ayse ihn am liebsten in den Arm genommen hätte. »Dann habe ich eine Melodie gehört, die ... keine Ahnung, ob es meine ist und sie mich deshalb so berührt hat. Aber seit ich sie gehört habe, habe ich keine Angst mehr.«
Ayse grinste. »Na, dann her damit.«
Leo klickte sich ins Internet und öffnete YouTube. Er gab seinen Namen ein und öffnete seinen Account. Dann blieben seine Hände wie erstarrt in der Luft hängen.
»Was ist?«, fragte Ayse.
Seine Stimme war leise, als er antwortete. »Über 100.000 Likes.«
Ayse hörte, wie Malik wieder hinter sie trat. Als sie aufschaute, bemerkte sie, wie er Leo über die Schulter sah.
»Das ist eine Menge«, stellte sie fest.
Mit offenem Mund starrte Leo auf den Bildschirm. Er rührte sich nicht, als Ayse auf Play drückte.
Die Melodie erklang. Gleichzeitig. In so vielen Wohnungen und Häusern. Erklang in so vielen Seelen und jeder, wirklich jeder hielt inne und lauschte. Als würde für diesen Moment die Zeit stillstehen.
Jo hielt die Djembe zwischen den Händen, während er und der Rest seiner kleinen Band dem Song lauschten. Sie hatten sich im Wohnzimmer zusammengesetzt, wie immer, wenn sie eine Jamsession veranstalteten. Titus und Bodo, beide an der Gitarre, saßen auf der abgewetzten Couch. Ralf, der eigentlich jedes Instrument spielen konnte, das man ihm in die Hand drückte, hockte angelehnt an das Sofa, auf dem Mila saß und ein Bild malte. Jo hockte den dreien gegenüber und beobachtete ihre Reaktion auf das Lied. Titus hatte die Augen geschlossen, Bodo fummelte noch an seiner Gitarre rum, erstarrte nun aber in der Bewegung. Ralf starrte mit verlorenem Blick ins Leere und sah unfassbar traurig aus. Sogar Mila hörte mit dem Malen auf und betrachtete die anderen.
Sie beobachtete am liebsten Menschen, das war Jo schon vor Langem aufgefallen. In seiner Fantasie würde Mila mal Künstlerin werden. Autorin oder Zeichnerin. Und all ihre Beobachtungen zu Papier bringen. In welcher Form auch immer. Sie sah nun zu ihm, während das Lied seinen Refrain ansteuerte. Sie lächelte.
Wann hatte sie das letzte Mal gelächelt? Jo erwiderte das Lächeln, während Ralf plötzlich zu weinen begann. Jo sah ihn erschrocken an, doch er winkte nur ab und signalisierte ihm, dass er okay sei. Das Lied lief weiter, und auch Bodo hatte nun die Augen geschlossen.
Jo hatte es gewusst. Dieser Song würde alle umhauen. Er selbst hatte etwas Derartiges noch nie gehört. War noch sie so berührt worden von einem Lied.
Karin trat ein. Sie stand im Türrahmen und lauschte dem Lied. Auch sie blickte ins Leere und wirkte traurig. Lag es an Lara? Ihrem erneuten Verschwinden? Obwohl Karin betont hatte, sich keine Sorgen zu machen. Lara würde wie immer wiederkommen und wie immer kein Wort darüber verlieren, wo sie gewesen war. Es war das letzte Mal, dass Jo das mitmachte. Sollte sie nach dieser Tour noch einmal abhauen, würde er seine Tür verschließen. Aus rein egoistischen Motiven.
Er hatte es Lara nie gesagt, aber vom Tag ihrer Geburt an war sie in seinem Herzen gewesen. Mit vier Jahren hatte er sie das erste Mal verloren. Als sie dann vor ihm gestanden hatte, vor einigen Wochen, auf der Suche nach Peter, da hatte sich ein Kreis geschlossen, und er hatte sich geschworen, sie niemals wieder zu verlieren. Er wollte sie festhalten. Sie beschützen. Lara schien es ganz anders zu gehen. Sie konnte gehen, konnte loslassen. Sie war es gewohnt, schließlich hatte sie ihren Vater lange vor dessen Tod immer wieder loslassen müssen.
Das Lied lenkte ihn von seinen Gedanken ab. Die Melodie schien noch einmal Anlauf zu nehmen, um auf ihren Höhepunkt zuzusteuern. Jetzt schloss auch Jo die Augen. Diesen Moment wollte er genießen. Es war der Moment, wenn seine Gedanken einfach ausgeschaltet wurden. Da war nur noch Gefühl. Ein Kribbeln in seinem Magen.
Als das Lied aufhörte, herrschte Stille. Erst nach und nach hörte Jo Bewegungen, ein Räuspern. Er öffnete die Augen wieder und klappte den Laptop zu. Karin starrte immer noch ins Leere, während Ralf sich seine Tränen wegwischte. Titus und Bodo starrten Jo an.
»Von wem ist es?«, fragte Titus.
»Anonym. Keiner weiß es. Ich habe schon recherchiert. Das ganze Netz scheint den Urheber zu suchen. Aber der Account ist geschützt. Auf Anfragen kommt keine Antwort.«
»Scheiße, Alter«, ließ Bodo vernehmen. »Wenn ich so einen Song geschrieben hätte, dann würde ich mir ein T-Shirt drucken lassen, auf dem groß und breit gedruckt steht: Hab ich gemacht!«
Jo und Karin mussten lachen, und auch Mila grinste.
»Dann weiß doch keiner, was du gemacht hast«, kicherte sie.
Bodo sah Mila an und grinste zurück. »Keine Sorge. Jeder würde wissen, was ich meine. Ich würde mich dafür abfeiern lassen und Millionen verdienen.«
»Offensichtlich will der Künstler keine Kohle«, mutmaßte Ralf.
»Hast du geflennt?«, wunderte sich Titus.
»Ja, ich habe geflennt! Wie kann man bei dem Song denn nicht flennen?«
»Wollen wir ihn spielen?«, fragte Jo.
»Dann flennt Ralf aber die ganze Zeit.«
Ralf schnappte sich ein Kissen und warf es zu Bodo, der es grinsend auffing.
»Memme!«, rief er lachend.
Da warf auch Mila ein Kissen nach Bodo.
»Na warte!«, rief Bodo und warf je ein Kissen in Milas und Ralfs Richtung.
Lachend ging Karin dazwischen und warf sich schützend vor ihre Tochter, die sich kichernd hinter ihrem Rücken verschanzte und noch ein Kissen zu Bodo warf. Eine Kissenschlacht begann, und Jo konnte sich nicht erinnern, wann sie das letzte Mal so ausgelassen gewesen waren. Hatte der Song das bewirkt ?
Als die Tür langsam aufgeschoben wurde, entdeckte Jo Styx, die behäbig zum Kamin trottete, sich hinlegte und das Treiben beobachtete. Er konnte ihr Schnurren hören.
Eine Stunde später machten sie Musik. Anders als sonst waren die Männer nicht unter sich. Auch Mila und Karin hatten sich je eine Trommel geschnappt und spielten mit. Jo betrachtete Karin und seine Tochter, die sich immer wieder anlächelten. Das war einer von diesen Momenten, die perfekt waren. Bei denen er vor Glück hätte platzen können.
Warum nur hatte er ständig das Gefühl, dass dieses Glück ein Ablaufdatum hatte?
»Wenn ich dieses Lied höre, bin ich verliebt«, erklärte Ayse leise, als sie das Lied zum vierten Mal anklickte. Die Gänsehaut prickelte am ganzen Körper. Wie mochte es den anderen Menschen gehen, die die Melodie bereits gehört hatten? Auch Malik war verdächtig ruhig. Sie hatte gesehen, wie er sich eine Träne weggewischt hatte.
Leo lachte auf.
»Ist das lustig?«, fragte Ayse verwundert.
»Ja. Das ist lustig.« Er wurde ernst. »Weil ich in meinem ganzen Leben noch nie geliebt habe.«
Ayse sah Leo an, der immer noch auf den Bildschirm starrte. »Dann wird es aber Zeit«, fand sie.
»Die wollen alle wissen, wer du bist«, stellte Malik fest, der mit seinem Stuhl näher rückte und es mit einem Mal gar nicht mehr so eilig hatte, von hier wegzukommen. Er las die Kommentare unter dem Video. » Hier. Von San07: ›Geiler Song. Wer bist du?‹ oder hier, von JoBlackF: ›Mein Kumpel findet, du sollst dir ein T-Shirt bedrucken lassen. Hast du noch mehr davon?‹ Oder der hier ...«
»Niemand darf das erfahren!«, rief Leo plötzlich.
Sie sahen ihn erstaunt an.
»Warum nicht? Schreib noch so ein paar Songs, mach eine Platte und schwupp, bist du aus dem Schimmelloch hier raus.«
»Ich habe keinen Plan, wo diese Melodien herkommen. Aber ...« Leo schien nach den richtigen Worten zu suchen. »Sie gehören nicht mir. Diese Melodien gehören allen, versteht ihr? Ich bin nur der Überbringer.«
»Das Medium«, betonte Ayse, was ihr einen fragenden Blick der beiden Jungs einbrachte. »Es gibt automatisches Schreiben. Das habe ich mal geübt. Die Theorie ist, dass alle Geschichten schon da sind. Um uns herumschweben. Und man sich als Autor für eine Geschichte öffnet, die man aufschreibt. Sie stammt dann nicht von einem selbst. Man ist nur das Medium.«
»So ein Quatsch«, fand Malik. »Deine kitschigen Liebesgeschichten kommen eindeutig von dir.« Jetzt sah er Leo an. »Und du hast diesen Song geschrieben. Du musst ihn nicht verschenken.«
Leo schwieg nachdenklich.
Ayse sah ihren Bruder an, dessen Augen seit Langem wieder einmal leuchteten. »Was ist mit seiner Melodie?«, fragte sie und deutete auf Malik.
Leo sah zu ihm, der ihn nun mit seinen großen, dunklen Augen musterte. »Ich kann sie nicht hören«, gestand er. »Sie ist ganz dumpf.«
Ruckartig schob Malik seinen Stuhl zurück und stand auf. »Wen interessiert das schon?« Überstürzt verließ er die Wohnung.
Ayse sah ihm einen Moment erschrocken über diese Heftigkeit nach.
»Sorry, ich wollte ihn nicht beleidigen.«
»Er ist nicht beleidigt«, sagte sie zögernd. Sie würde sich später mit ihrem Bruder auseinandersetzen. Sie lächelte Leo an. »Wir sollten herausfinden, was die Melodien bewirken. Wir sollten sie zu den Menschen bringen.«