Namasté
Der Flug dauerte bereits gute zwei Stunden. Lara war lange in den faszinierenden Anblick dieser Welt versunken gewesen. Wenn man eine Weile in die sich immer verändernden Farben starrte, lullte es einen regelrecht ein.
Das lenkte sie ab, denn der lange Flug gab Zeit zum Nachdenken, und wann immer sie Zeit zum Nachdenken hatte, war da nur Platz für Timo. Nun, da sein Geist sie nicht begleitete, vermisste Lara ihn umso mehr. Auch die Tatsache, dass sie um das Leben nach dem Tod wusste, änderte nichts an diesem Gefühl. Sie wusste, dass sein Geist weiter existierte. Wusste, dass sie sich wiedersehen würden. Wusste, dass sie ohne ihn existieren konnte. Aber mit ihm wäre es um so vieles schöner gewesen. Als Lara Feingeist würde sie ihn nie wieder berühren oder küssen. Das Leben würde sie ohne ihn entdecken. Konnte diese Erfahrung nicht mit ihm teilen. So war die Aussicht auf die Ewigkeit in diesem Leben nichts weiter als ein theoretisches Konstrukt. Weshalb sie unendlich dankbar dafür war, wenigstens Timos Geist sehen zu können.
Hatte Marc recht? Führte sie eine ungesunde Beziehung? Lebte sie selbst dadurch weniger? Sie sah zu Marc, der auf seiner Flunder saß und zu den beiden Sonnen starrte. Lara wusste, wie gern er jetzt sein Tablet rausgeholt und Fotos gemacht hätte. Aber das wagte er sich angesichts der Weltenhüterin nicht.
Was konnte ausgerechnet er ihr denn über Beziehungen erzählen? Er war jahrelang mit einer Frau zusammen gewesen, die er wie den letzten Dreck behandelt hatte. Marc hatte keine Ahnung von Liebe. Sie würde sich von ihm gar nichts einreden lassen!
Plötzlich wurde ihr schlecht. So schnell und unerwartet, dass sie nur noch daran denken konnte, zu landen. Als hätte ihre Flunder ihren Willen gespürt, sank sie Richtung Boden.
»Was ist los?«, hörte Lara die Weltenhüterin rufen.
»Ihr ist schlecht«, erklärte Marc.
Wie zur Bestätigung sprang Lara von der Flunder, ehe diese den Boden erreichen konnte, und übergab sich in das farbenfrohe Gras. Danach blieb sie auf dem Boden sitzen. Die bunte Welt drehte sich leicht vor ihren Augen. Mittlerweile waren die anderen auch gelandet und Marc hockte sich zu ihr.
»Alles okay?«
»Zu viele Farben«, murmelte sie.
Er stand auf und kramte in seinem Rucksack nach der Flasche Wasser. »Wir brauchen eine Pause.«
»Keine Pause. Es wird bald Nacht.«
»Dann fliegen wir eben morgen weiter«, beharrte er.
Lara sah verwundert zu ihm hoch. Spielte er sich jetzt als ihr Beschützer auf, um sie zu schonen? Oder witterte er eine Möglichkeit, den Sternenhimmel zu fotografieren?
»Wie weit ist es noch?«, fragte Lara leicht benommen.
»In eurer Zeiteinteilung ... drei Stunden?«
Ein erneuter Schwall Übelkeit überkam sie und beantwortete die Frage nach einer Weiterreise.
Die Weltenhüterin willigte darin ein, Marc und Lara über Nacht hier zu lassen. Sie wollte ihnen etwas zu essen bringen und sie dann am frühen Morgen wieder abholen.
Entspannt lehnte sich Lara im Gras zurück. Ein leichter Wind wehte und brachte die Halme zum Schwingen. Die Farben wechselten langsam, und Lara wurde schläfrig. Als Marc die Lebensmittel entgegennahm, bekam sie gerade noch mit, wie die Weltenhüterin und ihre Begleiter auf den Flundern davonflogen. Dann schlief sie ein.
Wieder schwebte sie im Dunkeln. Wieder flog die kleine, goldene Kugel auf sie zu. Diesmal wusste Lara, dass es ein Traum war, und sie wollte ihn kontrollieren. Wollte auf die goldene Kugel aufpassen. Sie flog darauf zu und nahm sie schützend in die Hände. Dann sah sie wieder die Umrisse der Gestalten. Auch ihre Gesichter. Timo! Er war überall. Jede Gestalt trug sein Gesicht. Wie eine Maske. Laras Herz machte einen Sprung. Sie flog auf einen von ihnen zu. Er sah an ihr vorbei. Sie flog zum nächsten. Auch dieser Timo ignorierte sie. Verwirrt sah Lara von einem zum anderen.
»Welcher bist du wirklich?«, fragte sie.
Jetzt lachten die Gestalten. Lachten sie aus!
Lara wollte nach einer greifen. Sie berühren. Aber ehe ihre Hände sie fassen konnten, verschwand er. Löste sich in Luft auf. Lara flog zur nächsten Gestalt. Dasselbe Spiel. Wann immer sie zu Timo wollte, verschwand er. Schließlich war sie ganz allein im Dunkeln. Mit ihrer goldenen Kugel in der Hand. Ganz klein war sie geworden. Nur noch so groß wie ein Tischtennisball. Ohne nachzudenken, steckte Lara sich die Kugel in den Mund und schluckte sie.
Sie spürte, wie sich die Kugel ihre Kehle hinunterquetschte. Schwer landete sie in ihrem Magen. Lara sah an sich herunter, als sie mit einem Mal bemerkte, dass der Bauch größer wurde. Die Kugel in ihrem Bauch wuchs heran! In kurzer Zeit war ihr Bauch zur Größe eines Fußballs angewachsen. Und immer weiter wuchs er. Immer praller wurde er. Lara fasste an ihren Bauch und wollte ihn schützend zusammenhalten. Der Druck in ihrem Inneren war enorm.
Jeden Moment würde sie platzen! Jeden Moment würde sie ...
Mit einem Schrei wachte sie auf. Sie saß senkrecht in den Gräsern. Um sie herum Totenstille. Ihre Hände wanderten zu ihrem Bauch. Alles noch da! Nichts war geplatzt. Aber das Gefühl, nach Timo greifen zu wollen und ihn immer wieder zu verlieren, war allgegenwärtig. Lara sah sich um und entdeckte direkt neben sich das Obst, das die Frauen gebracht hatten. Hungrig begann sie zu essen. Sie erinnerte sich, dass es einige Sachen gab, die sie nicht mehr essen sollte. Rohen Fisch, Rohmilchkäse, rohes Fleisch ... Letzteres kam für sie sowieso nicht mehr infrage. Lara betrachtete das Obst in ihrer Hand und hoffte, dass es für sie und Körnchen gesund sein würde.
Als sie ihren Hunger gestillt hatte, sah sie sich nach Marc um. Er war nirgends zu sehen. Sie stand auf und ging ein Stück weit die Wiese entlang. Der Wind wehte leicht, und die Luft roch so gut, dass Lara einen Moment stehen blieb und tief einatmete. Diese Welt hatte noch nie ein Auto oder eine Fabrik gesehen. Ob ihre Welt auch einmal so gut gerochen hatte?
Als sie in den Himmel sah, verschlug es ihr die Sprache. Er war von so vielen Sternen erleuchtet, dass er einen silbernen Schimmer auf sie und diese Welt warf. Sie versank einen Moment in diesem unglaublichen Anblick, den sie bei ihrem letzten Aufenthalt gar nicht zu würdigen gewusst hatte, ehe sie sich umsah und ein paar Meter von ihr entfernt eine Gestalt im Gras sitzen sah. Langsam trat sie näher.
Marc saß auf dem Boden und tippte auf seinem Tablet herum.
»Hey.« Sie ging näher und setzte sich neben ihn. »Warum schläfst du nicht?«
»Geträumt.« Er musterte sie kurz und widmete sich dann wieder seinem Tablet.
»Ist seltsam, oder? Diese Welt hier trifft eigene Entscheidungen. Sie hat entschieden, uns die Kleidung zu stehlen. Sie hat entschieden, Timo zu heilen. Sie hat entschieden, uns einzusperren. Warum lässt sie jetzt zu, dass Isabel und du Fotos machen? Ich meine, sie hätte Isabel einfach verschlucken können. Problem gelöst.«
Marc hielt das Tablet Richtung Sternenhimmel und machte Fotos. »Keine Ahnung«, erklärte er. »Vielleicht ist es ihr egal?«
»Oder sie findet es gut«, überlegte Lara. »Vielleicht sind nicht alle der Meinung, dass die Welten ein Geheimnis bleiben sollten.«
»Vielleicht.«
»Machst du dir keine Sorgen? Dass sie dich verschluckt oder so? «
Er machte weitere Fotos. »Sie wird mir nichts tun.«
»Was macht dich so sicher?«
»Sie hat mich damals nackt gesehen. Vielleicht habe ich ihr gefallen. Sind ja nicht viele Männer hier.«
Lara starrte Marc einen Moment an, ehe sie schallend loslachte. »Das ist das Dümmste, was du je von dir gegeben hast. Und das Schlimmste ist, dass du das auch noch wirklich glaubst!« Sie lachte so sehr, dass ihr der Bauch wehtat.
Er musterte sie und grinste. Lara ließ sich auf den Rücken fallen und blickte, noch immer kichernd, in den Himmel.
»Hast du mal darüber nachgedacht, dass es mit einer Welt begann?«, fragte er nun.
»Mit einer Welt?«
»Als die Seelen angefangen haben ... mit dem Erschaffen ... irgendwo muss es noch diese Welt geben. Die erste, die jemals erschaffen wurde. Die würde ich gerne sehen«, erklärte er.
Lara betrachtete Marc lächelnd. Da war sie wieder. Diese Seite an ihm, die ihr so gut gefiel.
»Wenn du rausgefunden hast, wo diese Welt hier ist, was machst du dann?«
»Nichts«, erklärte er ruhig.
»Du könntest berühmt werden. Du könntest die Welt sogar nach dir benennen.«
»Wenn, dann würde ich sie nach Gustav benennen.«
Lara richtete sich wieder auf. »Fehlt er dir?«
Marcs Blick wanderte nur kurz zu ihr, ehe er sich wieder auf sein Tablet konzentrierte. »Jedenfalls kommt er mich nicht als Geist besuchen. «
»Fängst du wieder damit an?«
»Ich werde immer damit anfangen. Bis du kapierst, dass du dich verrennst.«
»Ich verrenne mich nicht!«
»Was willst du deinem Körnchen erzählen? Guck mal, da ist dein Papa. Er ist leider unsichtbar, aber ich kann ihn sehen. Und jetzt gerade lächelt er dich an.« Marc sah sie ernst an. »Ist das gut für ein Kind?«
Lara schwieg.
»Ich habe meine Eltern auch verloren, Lara. Genau wie du. Das war hart. Aber wenn Gustav mir erzählt hätte, dass ihre Geister um mich rumspringen, dann hätte ich nie aufgehört, sie zu vermissen.«
»Er ist nicht für immer weg«, flüsterte sie.
»Er ist jetzt weg!«, rief er laut.
Sie zuckte zusammen.
»Er ist weg. Tot. Begraben. Sag mir eines: Warst du an seinem Grab?«
»Seine Eltern wollten nicht, dass ...«
»Seine Eltern? Den Müll kannst du dir selbst erzählen. Du gehst nicht an sein Grab, weil du dich dann mit seinem Tod konfrontieren müsstest.«
»Das stimmt nicht!«
»Natürlich stimmt das.«
Sie spürte, wie ihr Herz schneller schlug. Sie stand auf. »Sag du mir nicht, wie ich zu trauern habe! Du hast deinen Opa verloren. Der Mutter und Vater für dich war. Und du hast noch nicht mal eine Träne vergossen. Habe ich recht?«
Auch Marc stand auf. »Ich habe nicht geflennt. Aber ich habe ihn verabschiedet. Und das Einzige, was mich aufregt, ist, dass ich ihm seinen letzten Wunsch nicht erfüllen kann.«
»Und was war sein letzter Wunsch?«
Er atmete schwer und sah ihr tief in die Augen.
»Hallo?«
Beide zuckten zusammen und sahen sich im Halbdunkeln um.
Eine Gestalt war zu ihnen getreten. »Ich bin es. Tonka.«
Marc fluchte genervt. »Tolles Timing.« Er drehte sich einen Moment weg, um seine Fassung wiederzuerlangen.
Lara konnte sehen, dass sein ganzer Körper bebte.
Tonka trat vorsichtig näher. Ihre Farben leuchteten leicht in der Dunkelheit. Sie wechselten von Lila zu Rosa. »Ich habe euch gesucht«, gestand sie. »Ich bin so froh, dass ihr noch da seid.«
»Willst du immer noch mit uns kommen?« Lara sah, wie Tonkas Augen rot zu leuchten begannen.
»Unbedingt!«
»Aber eure Weltenhüterin weiß nichts davon?«
»Sie würde es verbieten. Um mich zu schützen. Aber sie sorgt ständig dafür, dass wir uns treffen. Deshalb weiß ich, dass ich mit euch reisen soll. Und dass mir nichts geschehen wird.«
»Dir wird etwas passieren«, betonte Lara. »Spätestens wenn du zu uns auf die Erde kommst. Die Menschen kennen keine Außerirdischen. Sie wissen nichts von den anderen Welten. Sie wissen nicht mal, dass sie eine Weltenhüterin haben. Oder im Moment gerade nicht haben ... Wenn sie dich sehen, werden sie dich mitnehmen. Sie werden dich untersuchen wollen. Du weißt nicht, wozu sie in der Lage sind. Es ist zu gefährlich.«
Tonka schwieg und starrte Lara einfach nur an.
»Glaub mir«, fuhr diese fort. »Es ist besser, wenn du hierbleibst.«
»Nein. Das ist nicht besser.« Tonkas Stimme war leise, aber entschlossen. »Diese Welt hier hat mir nichts mehr zu bieten. Ich will mehr.«
»Dann wähl dein nächstes Leben auf der Erde«, schlug Lara ruhig vor. »Du hast selbst gesagt, dass ihr entscheiden könnt, wann ihr geht und ...«
»Ich bin nur einmal Tonka«, betonte sie. »Und als diese Tonka will ich eure Welt kennenlernen. Mit meinem Bewusstsein. Wenn ich als Mensch auf eure Welt komme, habe ich alles vergessen, was ich vorher war. Ihr könnt mich beschützen!«
»Wenn sie dich finden, kann ich dich nicht beschützen.«
»Aber Marc. Er ist doch auch zu deinem Schutz dabei?«
Marc sah Tonka überrascht an.
»Marc ist zu seinem eigenen Vergnügen hier«, betonte Lara.
»Von mir aus komm mit«, sagte er.
»Was? Bist du wahnsinnig?«
»Wenn sie sie finden, hüpft sie in den See und springt zurück in ihre Welt. Wo ist das Problem?«
Tonka strahlte.
»Wo das Problem ist? Dass sie es vielleicht nicht mehr zum Ausgang schafft!« Sie sah Tonka an. »Hör nicht auf ihn. Er sagt das nur, weil ihm alles egal ist.«
»Sie will unsere Welt kennenlernen. Soll sie doch. Wenn sie dabei draufgeht, hat sie wenigstens was zu erzählen.«
Lara rutschte die Hand aus, ehe ihr Verstand eingreifen konnte. Die Ohrfeige knallte in der Stille der Nacht.
Wütend starrte Marc sie an. Dann packte er sein Tablet und ließ die beiden stehen. Lara sah ihm nach. Erschrocken über sich selbst. Erschrocken über seine Kälte.
»Was ist passiert?«, fragte Tonka mit Sorge in der Stimme.
»Er macht das mit mir«, gestand Lara leise. »Er macht mich so unfassbar wütend. Weil er ständig so tut, als wäre ihm alles egal. Dabei ist er gar nicht so.« Sie atmete tief durch und musterte Tonka. »Wie kommt es, dass du etwas willst? Ihr wollt doch eigentlich nichts ... auf dieser Welt. Außer im Einklang mit allem zu leben.«
»Ich weiß es nicht.« Tonkas Augen wirkten traurig. »Ich war schon immer anders. Habe nie wirklich dazugehört. Und das ist okay für mich. Ich will nur den Weg gehen, der für mich der richtige ist.«
Lara nahm Tonkas Hand, woraufhin ihre Farben in aufgeregter Abfolge wechselten. »Du bist in unserer Welt nicht sicher«, murmelte sie. »Ich kann dich nicht mitnehmen.«
Das Farbspiel endete abrupt.
Lara ließ Tonkas Hand los und folgte Marc in die Dunkelheit, ohne sich noch einmal zu ihr umzudrehen.
Sie fand ihn bei den Lebensmitteln und den Rucksäcken. Er lag im Gras, die Jacke eng um den Oberkörper gehüllt. Schlief er? Oder stellte er sich schlafend? Sie setzte sich neben ihn und legte sich auf den Rücken. Eine Entschuldigung wollte ihr einfach nicht über die Lippen kommen.
Dafür überschlugen sich ihre Gedanken. Sie hatte Tonka eine Absage erteilt. Weil sie sich Sorgen machte? Oder weil sie es für das Richtige hielt, wenn jeder auf seinem Planeten blieb? Was war das Richtige?
Wenn Körnchen alt genug sein würde, um ihr die wichtigen Fragen zu stellen, was würde sie ihm erzählen, über die Welt? Würde sie ihm sagen, dass es andere Welten gab? Dass diese so ganz anders und wunderbar und doch ähnlich ihrer eigenen waren? Würde sie ihm von der Welt der Träumer erzählen, auf der ihr Kind selbst einmal gewesen war, um sich auszusuchen, wo es als Nächstes hinging?
Lara wusste nicht, ob sie dieses Wissen würde verheimlichen können. Sie wusste nicht einmal, ob sie das wollte. Sie empfand dieses Wissen als ein Geschenk. Hatte Mila recht und die Entdeckung der Welten war ein Versehen? Etwas, das nicht hätte stattfinden sollen? Aber vielleicht war es genau der Weg, den Lara gehen wollte. Den sie sich ausgesucht hatte. Vielleicht hatte sie ihre Eltern gewählt, in dem Wissen, dass ihr Vater das Computerprogramm Styx erfinden und sie es benutzen würde. Und wenn dies so war, vielleicht waren die Menschen dann ja bereit für das Wissen um die anderen Welten? Worauf sollten sie denn noch warten? Darauf, dass jemand eine Rakete erfand, die so weit fliegen konnte? Die Reise würde so lange dauern, dass erst Generationen nach ihnen eine Ankunft erleben würden. Die einzige Möglichkeit war der Sprung ins Wasser.
Vielleicht lag Mila falsch und Isabels Entscheidung, Fotos von den Welten zu machen, war richtig und wurde von den Menschen unbewusst erwartet? Vielleicht hatten sie sich ausgesucht, diejenigen zu sein, die den Menschen von den anderen Welten erzählten?
Styx hatte vom Gleichgewicht erzählt, das gestört werden könnte. Aber die Erde war sowieso nicht im Gleichgewicht. Wenn das Wissen über die Welten auch bei den anderen dafür sorgen würde, dass die Ehrfurcht und Liebe für das Leben und die fremden Geschöpfe zunahm, dann war das doch etwas Gutes? Dann war es das, was ihre Welt brauchte?
Die Gedanken wirbelten durcheinander, irgendwann fiel Lara in einen unruhigen Schlaf.
Sie wurde vom Gesang der Frauen geweckt, die mit der Hüterin auf ihren Flundern zu ihnen geflogen kamen. Während Lara sich aufsetzte, bemerkte sie, dass Marcs Jacke auf ihr lag. Sie sah ihn an und reichte sie ihm. Einen Moment berührten sich ihre Hände, während Marc ihrem Blick auswich.
»Seid ihr bereit?«, fragte die Weltenhüterin ungeduldig. Sie konnte es offensichtlich nicht erwarten, Lara und Marc wieder loszuwerden.
Wusste sie von Tonkas Wünschen? Oder konnte sie, genau wie Mila, nicht alles sehen, was ihre Weltenbewohner planten?
Lara setzte sich auf ihre Flunder, die sie mit großen Augen erwartete. Sie streichelte kurz über den Kopf des eigenartigen Wesens, woraufhin die Flunder die Augen schloss und sich für einen Moment schüttelte.
»Sie sind kitzlig«, erklärte die Weltenhüterin.
Lara musste schmunzeln und setzte sich auf den Rücken des Tieres. Sie hoben ab, und Lara sah zurück zum Nachtlager, wo ihre Abdrücke noch im farbigen Gras zu erkennen waren. War Tonka noch hier? Sah sie ihnen jetzt hinterher?
Der Flug dauerte lange, genau wie es die Weltenhüterin vorhergesagt hatte. Während Lara die farbenprächtige Welt betrachtete, hatte sie irgendwann das Gefühl, dass die Farben sich auch auf ihrer eigenen Haut ausbreiteten. Als würde sie selbst ein Teil dieser Welt werden. So wie damals im Totenreich. Und auf der Welt ihrer Eltern.
Irgendwann sah sie am Horizont ein Gebirge. Sie flogen direkt darauf zu und ein Stück weit die Berge hinauf, wo Lara einzelne Lager der Frauen erspähen konnte. Sie lebten in einer Art Zelt, das nach oben hin offen war.
Regnete es in dieser Welt gar nicht? Wahrscheinlich konnte sie alle mit eigenem Wasser versorgen. Es gab so vieles über diese Welten zu erfahren. Ein wenig beneidete Lara die Frauen hier, die Zugang zu allem Wissen hatten.
Sie landeten auf einem Felsplateau. Die Weltenhüterin wirkte geschäftig. »Hier ist der Stein.«
Mitten auf dem Plateau war ein Kristall, der Lara bis an die Hüften reichte. Er war glattpoliert und leuchtete noch intensiver in verschiedenen Farben als der Rest dieser Welt. Auch neben diesem Stein war ein kleiner See, dessen Grund nicht zu erkennen war. Ein Baum wuchs aus dem See hervor und trug anstelle von Blättern kleine Lichter, die in verschiedenen Farben leuchteten. Lara konnte ihren Blick kaum von diesem Kristall abwenden. Wie gern hätte sie davon ein Foto gemacht.
»Warum ist dieser Ort nicht auch in einer Höhle?«, fragte sie.
»Weil wir ihn vor niemandem schützen müssen«, erklärte die Weltenhüterin, während sie die Hände ins Wasser tauchte. »Niemand außer mir kennt den Weg. Meine Begleiterinnen schweigen.« Sie ging zu dem Stein und begann genau wie der Riese, den Stein zu reiben. Immer schneller glitten ihre Hände über die polierte Oberfläche, und schon bald konnte Lara einen ersten Ton erklingen hören.
Marc stand in einigem Abstand. Wie gern hätte Lara ihn gebeten, das Folgende aufzunehmen. Wie sah sie aus, wenn sie ihren Körper verließ und als ein Energieschwall einmal um diese Welt sauste?
Aber daran war nicht zu denken. Wenn auch sie Marc sein Tablet gelassen hatte, die Weltenhüterin würde es sicher zerstören. Und irgendwie wollte Lara das nicht.
Sie ging näher an den Stein heran, legte die Hände darauf und schloss die Augen. Der Ton, den der Stein nun von sich gab, schien durch das Erdreich in sie hineinzufließen. Ihr ganzer Körper vibrierte mit ihm. Dann ging alles sehr schnell. Als hätte sie sich schon daran gewöhnt, ihren Körper zu verlassen. Ein Ruck fuhr durch sie hindurch, und sie erlebte das bekannte Gefühl, als würde sie aus einer Enge heraus in die Unendlichkeit fliegen. Sie fand sich in einiger Höhe über dem Plateau wieder.
Diesmal nahm sie sich etwas Zeit und versuchte, an sich selbst herunterzusehen. Sich selbst zu erkennen. Natürlich war ihr Körper da unten. Weit von ihr entfernt. Sie war nur noch mit dem silbernen Faden verbunden. Da bekam sie Panik. Wenn sie hier war, wer war dann bei Körnchen? Sie wurde unruhig, aber als würde die Energie in ihr ein Eigenleben führen, sauste sie einmal um die Welt.
Sie sah alles Bekannte und noch viel mehr. Ganze Dörfer, in denen die Frauen lebten. Die Frauen wirkten glücklich, alle hatten ein Lächeln im Gesicht. Eine ganze Welt voller Frieden. Doch nirgendwo wollte sich eine Willensblase auftun, die auf Isabels Anwesenheit hätte schließen lassen. Erst als Lara wieder das Plateau erreicht hatte, erkannte sie etwas. Marcs Willen. Sein Blick suchte den Himmel ab, als wollte er Lara in ihrer jetzigen Daseinsform erkennen. Da war noch eine Blase. Kleiner, aber nun deutlich zu erkennen: Tonka, die an Laras Seite durch den Wald rannte.
Mit einem Schwung zog sich die Energie zusammen, und Lara fand sich in ihrem Körper wieder. Sie hatte noch weiche Knie, als sie aufstand und die Weltenhüterin vor sie trat.
»Und? Hast du einen Willen gesehen?«
Und ob. Tonka war hier, keine fünfzig Meter entfernt.
Sie erwiderte den fragenden Blick. Durfte man eine Hüterin anlügen? »Isabel ist nicht hier«, antwortete Lara wahrheitsgemäß.
Die Hüterin musterte sie einen Moment.
Sie weiß, dass ich etwas verheimliche , schoss es Lara durch den Kopf. »Wir können weiter«, betonte sie deshalb schnell. »Zeigst du uns den magischen Ausgang?«
»Er ist direkt hier«, erwiderte die Hüterin. »Folgt mir.«
Marc ging an Lara vorbei und drückte ihr den Rucksack in die Hand, ohne ihren Blick zu erwidern. Die Begleiterinnen blieben stehen. Der magische Ausgang war nur für die Hüterin bestimmt.
Lara ging zu ihrer Flunder. »Danke für den Transport.« Die Flunder gab einen quietschenden Laut von sich. Dann folgte Lara Marc und der Hüterin.
Sie gingen einen schmalen Weg entlang, der auf eine weitere Anhöhe führte. Während sie der Hüterin folgte, konnte Lara das Gedankenspiel nicht lassen. »Warum glaubst du, hat sie Isabel gehen lassen? Samt den Fotografien?«
Die Hüterin verlangsamte kurz ihren Schritt. »Ich habe mir dieselbe Frage gestellt. Es würde bedeuten, dass sie das Handeln eurer Bekannten unterstützt. Was in diesem Fall unüblich wäre.«
»Also ist es vielleicht doch in Ordnung, was Isabel tut? Dass sie die Welten fotografiert?«
Nun sah Marc Lara für einen Moment fragend an.
»Es ist gegen die Regeln, die seit Beginn dieses Universums Bestand haben«, betonte die Hüterin. »Ich halte mich an diese Regeln. Das ist meine Aufgabe.«
Sie klingt genau wie Mila , dachte Lara.
Hinter der nächsten Kurve erreichten sie ein weiteres Plateau. Lara blieb einen Moment lang sprachlos stehen. Auf der flachen Ebene war ein ovaler Kreis zu erkennen. Er schwebte ein Stück über der Erdoberfläche und schimmerte in allen nur denkbaren Farben. Blickte man in diesen Kreis hinein, konnte man nichts erkennen. Als würde ein Schleier darauf liegen.
Der magische Ausgang.
»Es ist wunderschön«, platzte es aus Lara heraus.
»Wenn ich könnte, würde ich den Durchgang verschließen, wenn ihr weg seid«, sagte die Hüterin.
»Und wenn der Durchgang auch für uns gemacht ist?«, hakte Lara nach. »Wenn es irgendwann so sein soll, dass auch wir Bewohner durch die Welten reisen können? Und nicht nur die Weltenhüter?«
Missbilligend sah die Hüterin Lara an.
»Das würde so vieles erklären. Vielleicht sind wir irgendwann so weit, dass wir unser Wissen miteinander teilen können.«
Der Blick der Hüterin wurde kalt. »Ihr liebt die Zerstörung. Ihr wollt selbst die Herrschaft übernehmen. Wollt göttlich sein und seht doch nicht, dass eure Welt euch genau wie unsere alles schenkt, was ihr braucht. Was glaubst du, würde passieren, wenn ihr in unsere Welt kommt? Ihr würdet sie vernichten. Deshalb: nein. Keiner von euch wird mehr durch diese Welt reisen. Nicht, so lange ich Hüterin bin.«
So viel Feindseligkeit und Arroganz lag in der Stimme, dass Lara wütend wurde. »Wir sind nicht alle so!«, rief sie erregt.
Die Hüterin packte Marc und zog ihn in Richtung des schwebenden Ovals. »Glaubst du, ich habe nicht gesehen, was er gestern Nacht getan hat? Wenn ich könnte, würde ich eingreifen! Aber ich habe nicht die Befugnis!« Sie zerrte Marc dicht vor das Oval, der sich genervt wehrte.
»Schon gut. Wir gehen«, betonte Lara ruhig.
Die Hüterin ließ von Marc ab, und Lara trat neben ihn. Mit einem Mal war sie froh, diese Welt verlassen zu können. Sie wirkte im Einklang miteinander, aber nur, solange nichts kam, das sie aus dem Gleichgewicht brachte.
Marc und Lara sahen durch das Tor. Auch aus dieser Nähe konnte sie nicht erkennen, was dahinterlag. Es war, als würde etwas ihren Blick trüben. Lara freute sich jedoch auf das, was sie erwartete. Diese stille Welt voller Pflanzen.
Sie sah zu Marc. In dieser Welt waren sie allein gewesen. Sie hatten sich geküsst. Er hatte sie geküsst, verbesserte sich Lara schnell. Und er hatte ihr von der habitalen Zone erzählt und ihr erklärt, warum er Lara den Spitznamen Goldi gegeben hatte. So hatte er sie schon lange nicht mehr genannt.
Sie erinnerte sich, wie sie mit dem Weltenhüter kommuniziert hatte. Er hatte keine körperliche Gestalt, sondern war ihr in Form von Elementen begegnet. Als Wind, als riesige Welle ... Wie würde er mit ihnen das Ritual durchführen? Wie brachte er den Stein zum Singen? Und was hatte er mit Isabel gemacht, als sie allein unterwegs gewesen war? Hätte Lara damals nicht mit dem Weltenhüter kommuniziert, hätte er sie ertrinken lassen. War Isabel längst tot? Aber müsste Mila das dann nicht wissen?
Marc nahm Anlauf und sprang ohne Zögern in das Oval. Lara wollte ihm folgen. Schon fühlte sie, wie ein Sog sie erfasste, als sie eine Entscheidung traf. Mit dem Wissen, dass Tonka ihnen gefolgt war, drehte sie sich um. Sie faltete die Hände vor der Brust und verneigte sich.
Meine Seele grüßt deine Seele.
Würde Tonka verstehen?
Ja! Sie verstand!
Keine Sekunde später war ein aufgeregtes Schnalzen zu hören. Und ehe die Weltenhüterin eingreifen konnte, rannte Tonka an ihr vorbei, griff nach Laras Hand und sprang mit ihr gemeinsam in den farbigen Kreis.