Ein Geist mit Blockade
Er starrte auf das Wasser. Es konnte jeden Moment passieren. Sie würde auftauchen, ans Ufer schwimmen, und er könnte sie wieder begleiten.
Als Timo verstanden hatte, dass Lara ihn sehen konnte, war alles andere unwichtig geworden. Sie konnten weiter zusammen sein. Kommunizieren. Er konnte nicht nur dabei sein, wenn ihr gemeinsames Kind auf die Welt kam. Er konnte den Moment auch mit Lara teilen. Sie konnten das Leben miteinander teilen, obwohl er nicht mehr lebte. Nach allem, was sie erlebt hatten, fand Timo das fair. Natürlich würde er sich auch um die anderen kümmern. Dazu hatte er noch Zeit genug. Oder nicht? Keiner der Sechs brauchte ihn mehr als Lara. Also ging er seiner Aufgabe nach, wenn er bei ihr war.
Warum hatte sie sich dann auf diesen Trip eingelassen? Die Welten nach Isa abzusuchen. Schwanger! Das war Wahnsinn!
Anstatt auf ihn zu achten, war sie einfach durch ihn hindurchgegangen, sodass er ihr nicht signalisieren konnte, dass Marc den beiden gefolgt war. Jetzt war er an ihrer Seite. Timo spürte die Eifersucht. Wie war das möglich? Wo er doch gar keinen Körper mehr hatte?
Er stellte fest, dass es für ihn keinen Unterschied machte, ob er lebte oder tot war. Er fühlte und dachte genauso wie zuvor. Auf der eigenen Beerdigung dabei zu sein, das war allerdings krass gewesen.
Dabei zuzusehen, wie sein lebloser Körper in einen Sarg gelegt wurde, seine Eltern sich für diesen
Tag vorbereitet hatten, seine Mutter zusammengebrochen war und sein Vater, von jeher darauf getrimmt, Gefühle zu unterdrücken, sie gestützt hatte ... Heftig. Seine Familie hatte sich in der kleinen Kapelle getroffen, um dann gemeinsam seinen Sarg zu dem Loch in der Erde zu tragen. Timo war es wie ein Film vorgekommen, den er vor sich ablaufen sah, der aber nichts mit ihm zu tun hatte. Obwohl dieser Moment doch alles mit ihm zu tun hatte.
Als seine Mutter einen Weinkrampf bekommen hatte, war er zu ihr gegangen. Hatte sie in den Arm nehmen wollen, ihr sagen wollen, dass er okay war. Dass er Vater werden würde. Was natürlich nicht möglich gewesen war. Er hatte seine Hand oder das Abbild davon, auf ihre Schulter gelegt. Obwohl sie ihn nicht hatte fühlen können, hatte seine Mutter einen Moment wie erstarrt dagestanden. Sie hatte sich sogar umgedreht und an ihm vorbei ins Leere gestarrt. Sie hatte ihn zwar nicht gesehen, aber sie hatte nicht mehr geweint.
Es gab eine Verbindung.
Aber alles, was Timo wollte, war eine Verbindung zu Lara.
Besessen. So hatte Cem ihn damals bezeichnet, als Timo in dessen Schwester Sazan verliebt gewesen war. Timo hatte seinen Vorwurf abgetan, hatte seinerseits Cem vorgeworfen, noch nie verliebt gewesen zu sein.
Vermutlich hatten sie beide recht gehabt.
Das Wasser auf dem Mummelsee kräuselte sich. Lara und Marc waren seit drei Tagen verschwunden. Timo hatte keine Ahnung, wie die Zeitrechnung in den
anderen Welten ablief. Wie lange würden sie brauchen, um Isa zu finden?
»Timo?«
Er fuhr herum. Hinter ihm war Styx aus dem Wald getreten.
»Was machst du hier?«
»Ich warte auf sie.« Timo starrte wieder auf den See.
»Oh, das kann noch eine Weile dauern.« Styx hockte sich neben ihn auf den Boden.
»Macht nichts. Ich habe Zeit.«
»Die hast du tatsächlich«, tönte Styx. »Aber wie wäre es, wenn du diese Zeit auch sinnvoll nutzt? Anstatt hier rumzuhängen?«
»Was soll ich sonst machen? Die anderen besuchen? Ihnen beim Leben zusehen? Warum? Reicht doch, wenn ich im Moment des Todes bei ihnen bin.«
»Du hast Fähigkeiten«, betonte Styx, als könnte sie nichts aus der Ruhe bringen. »Je länger du deine Sechs beobachtest, desto mehr wirst du verstehen, was sie brauchen. Du kannst ihnen helfen, ihre Wünsche zu erfüllen. Ihnen Hinweise geben, wenn sie in die falsche Richtung laufen. Diese Gabe ist ein Geschenk. Sie wird dich sehr glücklich machen, wenn du sie erlernt hast. Glaub mir. Ich spreche aus Erfahrung. Aber um das zu tun, musst du lernen, deine Sechs zu verstehen. Die Zusammenhänge zu begreifen.«
»Kein Interesse.«
»Du hast
Interesse. Das war nämlich deine eigene Idee.«
»Kann ich mich nicht erinnern.«
»Du kennst die Regeln. Du bist der Abholer.
«
»Ich scheiß auf die Regeln!«, schrie Timo. »Es ist nicht fair!«
»Was ist nicht fair?«
»Dass ich tot bin! Und jetzt sag mir nicht, dass ich es so wollte.«
»Das muss ich nicht. Schließlich weißt du das ja selbst am besten.«
»Ich wollte leben. Mit Lara. Sie kann mich sehen. Das hat doch was zu bedeuten.«
»Als Geist bist du für viele Menschen sichtbar. Alle, die ihren Blick erweitert haben. Das ist bei Lara auch passiert. Aufgrund ihrer Reisen kann sie dich sehen. Sie kann mittlerweile eine Menge sehen. Das bedeutet aber nicht, dass du jede Sekunde an ihrer Seite sein sollst.«
»Nenn mir einen Grund, warum nicht.«
»Weil du sie am Leben hinderst.«
Timo schwieg verwundert.
»Sie führt eine Beziehung mit einem Toten. Das ist, als würde sie nur zur Hälfte leben. Willst du das?«
Styx sah Timo fest in die Augen. Der hielt ihrem Blick nicht stand. »Du verstehst das nicht«, sagte er knapp. »Du warst nie verliebt.«
Styx lachte. Sie lachte wirklich. Timo musterte sie verwundert. Sie reden zu hören, war das eine. Aber dass eine Katze sich wirklich amüsieren konnte ...
»Ich kann nicht lieben?«
Timo schwieg.
»Kümmer dich um die anderen.«
»Nein.«
»Du musst Lara ihr Leben lassen.
«
»Das will ich nicht!«, schrie Timo die Katze an. Seine ganze Seele bebte bei dem, was er sagte. Denn er wusste, wie es sich anhörte. Schlimmer noch, dass er es wirklich so empfand. »Es ist deine Schuld! Du hast uns benutzt! Du hast das Programm gestartet. Hast dafür gesorgt, dass Lara und ich überhaupt erst im Totenreich gelandet sind.«
»Konrad hätte euch den Felsen hinuntergestoßen. Indem ich euch ins Totenreich katapultiert habe, habe ich euer Leben gerettet. Eine schöne Ironie, findest du nicht?«
»Du findest das witzig?« Timo war außer sich und griff die Katze im Genick. Obwohl er doch nichts greifen konnte, packten seine Hände zu. Er konnte sie berühren. Mit seinem Willen. Seiner Wut. »Und wie findest du ein Bad im Mummelsee?«
Er wollte die dicke Katze gerade im hohen Bogen in das dunkle Nass schmeißen, als eine unfassbare Kraft ihn zurückstieß. Er hörte ein Fauchen und fand sich zwischen den Tannen wieder. Verdutzt starrte er über sich. Die Luft flirrte, als wäre überall Energie. Die Katze selbst war nicht mehr zu sehen.
»Fass! Mich! Nicht! An!«
Die Worte dröhnten durch ihn hindurch. Timo fühlte sich augenblicklich ganz klein. Erstaunt beobachtete er, wie die flirrende Luft sich zusammenzog und am Ende im Körper der nun wieder sichtbaren Katze landete. Styx schien einen Moment zu brauchen, um sich zu sammeln. Dann sah sie ihn an. »Du weißt doch, Katzen mögen kein Wasser.«
Dann ging Styx auf ihn zu und biss ihn
ins Bein.
Timo fand sich auf dem Katzenbuckel wieder. Die Halfpipe zog sich schimmernd hinunter ins Tal. Er saß wieder auf dem Felsen, auf dem er schon zu Lebzeiten gern gesessen war. Aber dies hier war nicht der Katzenbuckel. Es war sein Totenreich. Styx hockte neben ihm.
Natürlich.
»Wie kannst du mich ins Bein beißen? Ich habe keinen Körper mehr.«
»Ich kann euch in jeder Form beißen, in der ihr daherkommt.«
Das klang nicht gut.
»Und du hast gerade gelernt, dass du Dinge mit deinem Willen bewegen kannst. Auch wenn ich bevorzugen würde, dass du diese Gabe nicht mehr an mir auslässt. Und dass du mehr aus Liebe denn aus Wut zupackst.«
»Geht in Ordnung«, murmelte Timo.
»Du kennst deine Sechs«, stellte Styx fest.
Und ob er sie kannte. Die Zusammensetzung hatte ihn überrascht. Immer wieder sah er sie vor sich. Und konnte ihren Anblick nur dann ausblenden, wenn er sich voll auf Lara konzentrierte.
»Sie brauchen dich.«
»Lara braucht mich auch.«
»Aber er ist allein.«
»Lara ist auch allein.«
Styx schwieg einen Moment. Ihr Schwanz zuckte. Timo stand auf, nahm sein Skateboard und legte es auf die Halfpipe.
»Ich fahre wieder runter. Und du kannst mich nicht aufhalten.
«
Grinste die Katze? Egal. Timo stieß sich ab und ließ sich auf dem Skateboard nach unten sausen. Er stellte sich den Mummelsee vor und rechnete schon damit, wie immer an genau der Stelle rauszukommen, die er vor Augen hatte, als seine Fahrt abrupt endete. Er sauste gegen eine unsichtbare Wand und wurde von der Bahn geschleudert, flog zwischen die Felsen des Katzenbuckels. Das Skateboard landete weit von ihm entfernt.
Er richtete sich auf und starrte auf die Halfpipe. Da war kein Hindernis, keine Mauer, nichts, was seine Fahrt hätte bremsen können.
»Der Weg ist dir versperrt.«
Timo drehte sich um.
Styx saß hinter ihm. »Es gibt nur noch einen Weg für dich.« Die Katze starrte zur Halfpipe.
Erstaunt stellte er fest, dass eine zweite Halfpipe entstanden war. Sie führte in eine andere Richtung. Er sprang auf. »Du kannst es mir nicht verbieten.«
»Natürlich kann ich das.«
»Du darfst nicht eingreifen.«
»Wenn ihr etwas gegen euren eigenen Willen tut, dann kann ich eingreifen. Und du handelst gegen deinen eigenen Willen.«
»Das stimmt nicht!«
»Unsere Diskussion war beendet, als du versucht hast, mich in den Mummelsee zu werfen. Jetzt hast du die Wahl. Dein Totenreich oder Berlin.«
Schon wollte Timo wieder nach der Katze greifen, als diese davonsprang und in die Halfpipe hüpfte. Sie ließ sich auf ihrem dicken Hintern einfach die Schiene hinuntergleiten und sauste davon.