»Still«
Jupiter Jones
Sofort suchte ihr Blick das Ufer ab. War Timo hier? Wartete er auf sie? Sie hörte, wie Tonka und Marc neben ihr auftauchten und nach Luft schnappten.
Konnte Tonka überhaupt schwimmen?
Nein! Sie wedelte wild mit den Armen. Ihre Haut war ein einziges Farbkonzert. Rot, blau, schwarz, gelb, alles leuchtete wild durcheinander. Lara schwamm zu ihr, aber Marc kam ihr zuvor. Schon hatte er Tonka gepackt und zum Ufer gezogen. Dort hievte er sie aus dem Wasser. Lara schwamm zu ihnen. Das Wasser war eiskalt. Zum Glück war es mitten in der Nacht, sodass niemand Tonkas Auftritt mitbekommen hatte.
Lara kletterte ans Ufer und ließ den Rucksack auf den Boden fallen. Tonka lag neben ihr, hustete und klammerte sich immer noch an Marc.
»Hey, alles gut«, erklärte dieser und löste sanft, aber bestimmt die Umklammerung. »Du bist an Land.«
Geschockt starrte sie auf das Wasser und schnalzte dabei unaufhörlich.
»Gehen wir zusammen zum Hotel?«, fragte Lara und sah Marc dabei bittend an.
Er verstand, was sie eigentlich wissen wollte: Nimmst du Tonka bei dir auf?
Er zögerte noch einen Moment. Betrachtete das farbenfrohe Wesen, das immer noch außer Atem war und fast schon angewidert das Wasser von ihrer Haut wischte. Dann nickte er.  
Er half Tonka aufzustehen. »Wir gehen den Waldweg an der Schwarzwaldhochstraße entlang. Da ist jetzt niemand.«
Lara stand ebenfalls auf und suchte noch einmal das Ufer ab. Wo Timo wohl blieb? Oder Mila und Styx? Bekam denn keiner mit, dass sie zurück waren?
Obwohl sich niemand zeigte, hatte Lara die ganze Zeit das Gefühl, dass sie nicht allein waren. Immer wieder sah sie sich um, konnte aber im dunklen Wald niemanden erkennen. Vielleicht war es Timo, der nur darauf wartete, dass Marc endlich von Laras Seite verschwand? Ihr Herz pochte laut bei dieser Hoffnung.
Sie brauchten eine Stunde bis zum Hotel, da Tonka aus ihrer Schockstarre recht schnell wieder erwacht war und nun begeistert die Tannen, Steine und Ameisenhügel beäugte. Offensichtlich konnte sie auch im Dunkeln ziemlich gut sehen und war in ihrer Begeisterung für diese Welt nicht zu bremsen. Lara hätte das auch mehr als reizend gefunden, hätte sie es nicht so verdammt eilig gehabt, Timo wiederzusehen.
Im Hotel gab Marc ihnen Handtücher, um die Haare abzutrocknen. Auch das Gebäude versetzte Tonka in Begeisterungsstürme. »So ein großes Zelt! Aus Steinen! Und dann ist auch noch unser Universum auf den Boden gemalt.«
»Sie ist hier eine Weile beschäftigt«, stellte Marc fest. »Ich bringe dich nach Hause und hole Susi ab.«
Lara ging zu Tonka und nahm ihre Hand. »Ich muss jetzt los. Ich komme gleich morgen wieder und sehe nach dir. Bis dahin musst du hier im Hotel bleiben, okay? Nicht rausgehen!«
Tonkas Augen wurden sehr groß, während sie grün aufleuchtete. Dann aber nickte sie verständig.
Lara stieg in den blauen Mercedes, und Marc fuhr sie über die Schwarzwaldhochstraße zurück nach Sasbachwalden.
»Wenn ich Mila die Karte der magischen Orte gebe, frage ich sie, was wir mit Tonka machen. Und ich frage sie nach Isabel.«
»Sie wird ihr nicht helfen.«
Lara musterte Marc erstaunt.
»Du kennst doch unsere kleine Weltenhüterin. Sie wird uns eine Lektion darüber halten, dass wir gefälligst auf unseren Planeten bleiben sollen. Ich kann froh sein, wenn sie mich nicht in irgendwas verwandelt.«
Lara hatte einen ähnlichen Gedanken gehabt. Aber sie wusste, dass Mila auch eine weiche Seite hatte. »Mila liebt uns, auch wenn man das nicht immer merkt«, beharrte sie. »Sie wird Isabel helfen. Und Tonka auch.«
Er ließ das so stehen, als ihn etwas anderes beschäftigte.  »Was ist mit der Kamera?«
Überrascht musterte Lara ihn. »Was soll damit sein? Ich lösche die Fotos.«
»Vielleicht hat Isa den Sternenhimmel fotografiert.«
Lara konnte es nicht fassen. »Nein, Marc.«
Er bog in den Waldweg ein, der zum Hexenhäuschen führte, parkte den Wagen und sah Lara ernst an. »Ich sehe die Fotos durch. Vielleicht kann ich etwas davon benutzen. Den Rest lösche ich.«
»Diese Fotos haben uns nur Ärger eingebracht. «
»Dann sollte sich der Ärger auch gelohnt haben! Bitte, Lara. Ich habe die Reise nur deshalb gemacht. Vielleicht ist gar nichts dabei, was ich gebrauchen kann. Aber vielleicht doch.«
Sie zögerte.
»Komm schon«, bat Marc. »Du hast deinen Geist. Ich habe meine Jagd nach den Sternen. Wir brauchen etwas, woran wir glauben.«
»Ach, jetzt ist Timo also plötzlich etwas Gutes?«
Er sah sie lange an. »Wenn wir nicht haben können, was wir wollen, halten wir uns an etwas anderem fest.«
Lara holte die Kamera aus dem Rucksack. »Du löschst die Fotos?«
»Versprochen.«
Lara reichte sie Marc.
»Danke.«
Sie wollte schon aussteigen, als sie sich noch einmal zu ihm umdrehte. »Ich bin froh, dass du mitgekommen bist. Ich weiß, du hast das nicht für mich getan. Aber trotzdem ... danke.«
Er nickte nur. Sie sah ihm nach, als er rückwärts den Waldweg rausfuhr. Sie wandte sich zum Haus, wo bereits die Tür aufging und ein Lichtstrahl nach draußen fiel. Karin stand in der Tür. Ein Lächeln auf dem Gesicht. Lara ging näher, zögerlich. Doch Karin kam ihr entgegen und nahm sie fest in den Arm.
»Jetzt bleibst du?«, fragte sie nur.
»Jetzt bleibe ich«, antwortete Lara lächelnd.
Nach einem ausgedehnten Essen setzte sich Lara aufs Bett. Weder Karin noch Jo hatten ihr Fragen gestellt. Aber Jo hatte jede ihrer Bewegungen genau beobachtet. Lara ahnte, dass er mit dem Thema noch lange nicht durch war.
Sie gähnte. Eine unfassbare Müdigkeit überkam sie. Sie zwang sich dazu, wach zu bleiben. Bis sie Timo endlich wiedergesehen hatte. Und natürlich Mila, die nun, da Karin sich wieder hingelegt hatte, in ihr Zimmer trat.
»Hat alles geklappt?«, fragte sie nervös.
»Mir geht es gut, danke der Nachfrage«, konterte Lara trocken.
Mila schloss die Tür und kam im Schlafanzug gekleidet zu ihr.
»Wo warst du? Warum hast du uns nicht erwartet?«, hakte Lara nach.
»Ich konnte nicht weg. Ich wollte Karin nicht beunruhigen.«
Das war ja mal ganz was Neues.
»Hast du die Karte?«, drängte Mila.
»Hör zu. Es gibt ein Problem. Isabel hat sich in ein Tier verwandelt, und wir haben einen blinden Passagier.«
»Ich weiß«, erklärte Mila. »Luxus hat mir Bescheid gegeben.«
»Und was machen wir?«
»Nichts.«
»Nichts?«
»Isabel ist im Dschungel verschollen. Ich weiß nicht, ob ihre Verwandlung rückgängig zu machen ist. Außerdem hat sie es sich selbst zuzuschreiben.«
Lara starrte Mila an. »Du willst sie einfach dalassen? «
»Mit meinem Willen hat das nichts zu tun. Sondern mit ihrem«, erklärte Mila. »Gibst du mir die Karte?«
Lara erkannte verwirrt, wie schnell Mila das Thema für beendet erklärte. Sollte sich ihre Ahnung wirklich bestätigen? Sollte Marc recht behalten?
»Und was ist mit Tonka? Kannst du mit diesem Ritter reden, dass er sie durchlässt, wenn sie nach Hause reist?«
»Das kann ich machen«, bestätigte Mila. »Aber ob und wann Tonka weiterreist, hängt von ihrer Entscheidung ab.«
»Und Isabel ...«
»Lara. Isabel hat sich für diese Reise entschieden. Und für ihre Verwandlung. Ich kann sie nicht einfach zurückzaubern. So funktioniert das nicht«
»Du wirkst aber auch nicht sonderlich geschockt«, stellte Lara fest.
»In dieser Gestalt kann sie wenigstens keine Fotos mehr machen«, brach es aus Mila heraus.
Lara schnaubte auf, aber Mila kam ihr zuvor.
»Die Karte. Wo ist sie?«
Wütend schob sie Mila den Rucksack zu. Diese kramte hastig darin. Ihre Augen leuchteten, als sie endlich ihr Heiligtum zu fassen bekam.
»Jetzt hast du ja alles, was du wolltest«, stellte Lara bitter fest.
Mila musterte sie ernst. »Danke«, sagte sie.
»Wo ist Timo?«
Mila schwieg.
Was Lara leicht nervös machte. »Wo ist er?«
»Das muss dir Styx erklären.«
»Was? Wieso?«
»Er erfüllt seine Aufgabe«, tönte eine Stimme in Laras Innerem.
Sie drehte sich um. Styx saß auf dem Bett und musterte sie. »Ich verstehe nicht«, sagte sie heiser.
»Für den Moment kann er nicht zu dir zurück.«
Lara spürte, wie ihr Herz einen kleinen Aussetzer hatte. Als hätte es für den Moment vergessen, weiterzuschlagen. »Ich verstehe nicht«, wiederholte sie, worauf Styx etwas näher kam.
»Er hat eine Aufgabe. Die er jetzt erfüllt. Er ist für die anderen da. Und du hast dein Leben.«
»Ich habe was?«, schrie Lara nun.
»Leise«, flüsterte Mila.
»Leise? Spinnst du?« Lara sah Mila wütend an. »Ihr schickt mich auf diese Reise. Ich riskiere mein Leben! Für diese bescheuerte Karte! Und ja, mein Kind war in Gefahr. Es hätte sonst was passieren können. Aber ich wollte helfen. Und was macht ihr? Ihr lasst Isabel da einfach verrecken! Ihr nutzt die Zeit, um Timo von mir wegzubringen. Ihr macht alles kaputt!«
»Ich habe Timo nur an seinen Willen erinnert und ...«
»Hör doch endlich auf! Ihr macht, was ihr wollt. Was immer euch am besten in den Kram passt!« Lara konnte nicht klar denken. »Wir sind nur eure Marionetten. Ich will Timo! Jetzt! Bring mich zu ihm.«
»Das geht nicht.« Die Katze war ganz ruhig.
Im Gegensatz zu Lara. »Sofort! Bring mich zu ihm!« Sie wollte Styx packen, aber mit einem Satz war die Katze verschwunden. Frustriert schrie Lara auf.
»Lara?« Karins Stimme drang besorgt durch den Flur .
Lara rannte zum Fenster und öffnete es. Styx saß unten vor der Tür. »Bring ihn mir zurück!«
»Du willst dieses Leben, Lara. Ohne Geist. Glaub mir.«
Sie schnaubte wütend und sah zu Mila. »Tu was«, bat sie nun etwas leiser, während Schritte zu hören waren. »Du hast es mir versprochen. Als ich gesprungen bin, hast du mir versprochen, dass Timo hier ist, wenn ich zurückkomme.«
»Ich kann nicht«, erwiderte Mila. Ebenso leise. »Es tut mir leid.«
Lara hatte das Gefühl, als würde sie innerlich versteinern. »Du gehst jetzt besser.«
Mila erwiderte ihren Blick fest.
»Geh. Und bitte mich nie wieder um einen Gefallen.«
Die Zimmertür ging auf. Blitzschnell ließ Mila die Karte unter ihrem Oberteil verschwinden.
»Was ist denn hier los?«, fragte Karin besorgt.
»Lara hat schlecht geträumt«, behauptete Mila und sauste an Karin vorbei.
Lara sah ihr hinterher. In ihrem Magen ein tonnenschwerer Stein, der jegliche Gefühle unter sich vergrub.
Irgendwann war sie eingeschlafen. Als sie erwachte, war es noch mitten in der Nacht. Ein Geräusch hatte sie geweckt. In der naiven Hoffnung, dass vielleicht doch Timo vor der Tür stand, rannte sie nach unten. Vor dem Haus war niemand.
Sie schleppte sich in ihr Zimmer zurück, strich über ihren Unterleib und nahm den MP3-Player .
»Ich hab so viel gehört und doch komm s niemals bei mir an.
Das ist der Grund, warum ich nachts nicht schlafen kann.
Wenn ich auch tausend Lieder vom Vermissen schreib,
Heißt das doch nicht, dass ich versteh,
Warum dieses Gefühl für immer bleibt.«
So still
Jupiter Jones