Asyl
Lara betrat das Hotel. Susi kam ihr schwanzwedelnd entgegen. Sie reagierte nicht auf sie. Stand einfach nur da. Mit ihrer Tasche in der Hand. Sie war den ganzen Weg hierhergelaufen, hatte ihre Optionen abgewogen. Unter anderen Umständen wäre sie sofort zu Ayse nach Berlin gefahren. Aber sie konnte Ayse unmöglich um Hilfe bitten, ohne sich mit ihr versöhnt zu haben. Und versöhnen konnte sie sich nicht, weil sie Ayse dann die Wahrheit hätte sagen müssen. Und die Wahrheit sagen, das würde Lara die nächste Zeit vermeiden.
Dieser Blick.
Susi winselte und leckte Laras Hand. Schritte näherten sich.
»Lara?« Tonka kam auf sie zu. Die Farben ihres Körpers flossen ruhig ineinander.
Lara kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich wohl fühlte. Sie trug einen braunen Hut.
»Schau mal. Ich trage jetzt Kleidung. Wie ihr.« Tonka drehte sich einmal im Kreis und demonstrierte ihren Hut. »Und ich sehe fern. Weil Marc mir verbietet, rauszugehen. Fernsehen ist toll. Das ist wie auf der Welt der Träumer. So praktisch, ich kann mir die ganze Welt ansehen und muss nicht mal hin. Obwohl ich es schon lieber selbst sehen würde. Habt ihr jetzt eigentlich wieder eine Weltenhüterin? Ich würde gerne mit ihr über meine Optionen sprechen. Marc sagt, er hält es nicht mehr lange mit mir aus. Aber vielleicht kann ich ja zu dir?«
So viel Hass.
»Lara?
«
Sie spürte, wie ihre Knie nachgaben. Jemand fasste sie an den Schultern. Sie machte sich frei und schrie.
»Hey! Was ist denn passiert?« Das war Marcs Stimme.
»Sie ist auf die Knie gefallen. Und schreit.«
»Ich höre selbst, dass sie schreit.«
»Was hat sie denn?«
»Keine Ahnung!«
Lara spürte nur die Tränen, die ihr die Wangen herunterliefen. Vorsichtig nahm jemand ihre Hand.
»Ist was mit dem Körnchen?«, fragte Marc leise.
Sie schüttelte den Kopf.
»Timo?«
Wieder ein Kopfschütteln.
»Liebt sie denn noch mehr Menschen?«
Jetzt hob Lara den Blick und sah Tonka an, deren Körper im Wechsel rot und schwarz aufleuchtete. »Ja, Tonka. Ich liebe noch mehr Menschen. Aber die hassen mich jetzt.«
Sie saßen auf großen Kissen zusammen. Tonka hatte bereits ihren weiblichen Einfluss geltend gemacht und im ehemaligen Speisezimmer des Hotels einen Kreis voller Kissen gelegt. Vor dem Fernseher, verstand sich. Er lief ohne Ton.
Marc hatte Kaffee verteilt. Lara wärmte sich die Hände an der Tasse, während Susi ganz nah bei ihr lag.
»Du hast Milas Eltern erzählt, dass ihre Tochter durch ein Ritual zur Weltenhüterin wurde und nie wieder zurückkommt. Und hast allen Ernstes geglaubt, dass das eine gute
Idee ist?«
Sie atmete tief durch. »Du hättest Karin sehen sollen.«
»Du kannst nicht immer die Welt retten, Goldi.«
»Muss die Welt denn gerettet werden? Ich dachte, es geht um ihre Tante?«
Diese Frage hatte etwas so Skurriles, dass Lara fast gelacht hätte.
»Sie versteht keinerlei Ironie«, erklärte Marc hilfsbereit. »Sie glaubt alles, was im Fernsehen läuft. Und wenn sie Kaffee trinkt, das ist wirklich lustig. Los, Tonka. Trink einen Schluck Kaffee.«
»Ich finde das nicht witzig.«
»Komm schon, wir müssen Lara aufheitern.«
Lara beobachtete erstaunt, wie gut gelaunt Marc mit Tonka umging. Hatte sie nicht gerade erwähnt, dass er sie loswerden wollte? In diesem Moment wirkte er regelrecht ... glücklich.
Tonka trank einen Schluck. Nichts passierte.
»Gib ihr eine Minute«, sagte Marc grinsend.
Tonka trank noch einen Schluck. Und dann sah Lara es. An der Stelle, an der bei den Menschen der Magen war, leuchtete es rot auf Tonkas Haut. Und gleich einer Explosion sauste das Rot von diesem Punkt aus nun über ihren ganzen Körper. Kleine rote Pünktchen, die Tonka offensichtlich zu kitzeln schienen. Sie wand sich kichernd.
Lara musste tatsächlich lachen.
»Wenn du mal Scheiße drauf bist, gib einer Außerirdischen einen Schluck Kaffee.« Marc grinste noch einmal und musterte Lara dann entschlossen. »Du bleibst hier.
«
Sie sah ihn überrascht an. »Du hasst Gäste.«
»Ich ertrage Tonka. Da ertrage ich auch einen Gast mehr.«
Lara war gerührt, schüttelte aber den Kopf. »Ich werde Mutter. Ich muss mich darauf vorbereiten. Ich brauche ein Kinderzimmer. Vor allem brauche ich eine langfristige Lösung.«
»Ich habe 45 leere Zimmer«, entgegnete Marc. »Ist das langfristig genug?«
»Marc, im Juni kommt Körnchen auf die Welt. Es wird schreien und in die Windeln machen, und ich werde nicht mehr schlafen und muss eine Ausbildung machen, damit ich Geld verdiene ...« Ihr Herz klopfte schneller. »Ich brauche Hilfe. Ich schaffe das nicht allein.«
»Ich bin hier«, betonte er.
Sie sah ihn an, als wäre er der Alien und nicht Tonka. »Aber du hasst Körnchen.«
»Jetzt vergiss doch mal, was ich gesagt oder nicht gesagt habe. Und wen oder was ich angeblich alles hasse. Du bist obdachlos. Ich habe Platz. Wenn dein Körnchen erst mal da ist und du deine Ausbildung machst, sehen wir weiter. Wir sind zwei Mal durch die Welten gereist. Da kriegen wir das auch noch hin.«
Ihr Blick wanderte von Marc zu Tonka. »Was hast du mit ihm gemacht?«, fragte sie fassungslos.
»Ich habe Kaffee getrunken.«
Marc zeigte Lara das Zimmer. Es war groß genug, um zusammen mit einem Baby darin zu leben. Ein Doppelbett, das eine neue Matratze brauchte. Die
Tapete löste sich von der Wand. Aber das Bad war funktionsfähig, und um alles andere würde sich Lara kümmern können.
Es war eine Lösung. Keine, auf die Lara gekommen wäre. Aber eine Lösung. Dass ausgerechnet Marc für diese Lösung stand, konnte sie immer noch nicht fassen. Auch wenn sie es tief in ihrem Inneren vielleicht gehofft hatte.
»Ist nicht schlecht, wenn man nicht alleine ist, mhm?«, fragte sie mit einem Grinsen.
»Keine Ahnung, was du meinst«, behauptete Marc, der den Kleiderschrank auf seine Stabilität hin prüfte.
»Du fühlst dich wohl mit Tonka. Du hast sogar gelächelt. Ich habe es genau gesehen.«
»Weil ihre Haut bei Kaffee Disco macht. Deshalb habe ich gelächelt.« Er musterte sie. »Also, wie ist der Plan?«
Erschöpft setzte sich Lara aufs Bett. »Ich hatte einen Plan. Für Körnchen. Der ist jetzt schon gescheitert. Ich bin die schlechteste Mama, die Körnchen sich aussuchen konnte.«
»Nein. Du bist die beste.« Er setzte sich neben sie. »Du ziehst dein Ding durch. Du glaubst an die Wahrheit. Denkst wirklich, dass sie befreit und den ganzen Quatsch. Das ist nichts, woran ich glaube. Aber das ist eine gute Sache. Es ist etwas, das man einem Körnchen beibringen sollte.«
»Hat Tonka dich irgendwie verwandelt?«
»Hey, ich kann auch nett sein.«
»Das hast du bisher erfolgreich verheimlicht.«
Einen Moment lang lächelten die beiden sich an. Dann wurde Marc wieder ernst. »Vielleicht beruhigt sich Jo ja auch wieder.
«
»Mila wird nicht zurückkommen. Er hat keinen Grund, sich zu beruhigen.«
»Also glaubst du, es ist endgültig?«
»Keine Ahnung«, gestand Lara. Sie konnte sich nicht vorstellen, die beiden zu verlieren, wo sie sie gerade gefunden hatte. »Milas Verlust wird sie verändern.«
Einen Moment lang war es ruhig, ehe sich Lara konzentrierte. »Aber ich will hierbleiben. In ihrer Nähe. Ich kann auch Miete bezahlen. Ich habe Geld geerbt.«
»Für die Bruchbude? Ich mache mich strafbar, wenn ich was verlange. Außerdem habe ich einen neuen Auftrag für eine Software. Irgend so ein Spinner aus Berlin. Sucht den perfekten Ton. Und ist bereit, dafür eine Menge zu zahlen.«
»Ich werde trotzdem für meine Kosten aufkommen.«
Marc nickte. »Ist Jo dein Erziehungsberechtigter?«
»Ja.«
»Wir brauchen seine Unterschrift. Dass du hier leben darfst. Weil du noch nicht volljährig bist.«
»Ich kümmer mich darum.«
»Was mit dem Körnchen ist, weiß ich nicht. Bestimmt hat das Jugendamt mitzureden.«
»Ich erkundige mich.« Unwohl sah Lara sich in dem verfallenen Zimmer um. »Die überprüfen bestimmt unsere Lebensumstände.«
»Wann wirst du denn achtzehn?«, fragte Marc.
»In einem Jahr.«
»Welcher Tag genau?«
»Heute.
«
Marc schwieg überrumpelt. Offensichtlich unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte, starrte er sie an, als Tonka ins Zimmer geplatzt kam.
»Das glaubt ihr nicht!«, rief sie aufgeregt.
»Schlechter Zeitpunkt, Tonka«, erwiderte Marc.
»Aber im Fernsehen ...«
»Das ist nicht alles echt. Habe ich dir doch schon erklärt.«
»Meine Welt! Sie ist im Fernsehen! Ganz viele Fotos!«