Wissen ist Macht
Der Mercedes raste um die scharfe Kurve. Lara klammerte sich am Griff fest. Sie hätte Marc dazu aufgefordert, langsamer zu fahren, aber auch sie musste es mit eigenen Augen sehen.
Isabels Fotos. Sie waren überall. Im Fernsehen. Im Internet. Auf sämtlichen Videokanälen und Social-Media-Plattformen. Ein Journalist hatte sie veröffentlicht und behauptet, noch mehr von diesen echten Aufnahmen anderer Welten zu haben.
Lara hatte ihn sofort erkannt. Philipp Hauser. Der Journalist, der sie wegen eines Interviews bedrängt hatte. Sie hatte seine Willensblase nicht sehen können, weil er eine Sonnenbrille getragen hatte. Sonst hätte sie bestimmt erkannt, was er vorhatte.
Er hatte Marc die Kamera gestohlen. Und nicht nur das. Er wusste genau Bescheid. Über die Aus- und Eingänge dieser Welt. Auf seinem Blog mit dem theatralischen Namen Wissen ist Macht erklärte er bis ins Detail, dass die Reisenden, die die Fotos gemacht hatten, im Silbergründle ihre Reise begannen und im Mummelsee wieder auftauchten. Heute wollte er am Silbergründle seine ganz persönliche Weltenreise antreten. Wer auch immer mitkommen wolle, sei herzlich eingeladen. Schließlich, so betonte er, teile er sein Wissen. Im Gegensatz zu anderen ...
Er war Lara gefolgt. Sie war sich ganz sicher. Die Person in der Höhle, als sie Mila gesucht hatte. Die Momente, als sie sich verfolgt gefühlt hatte, nachdem sie aus dem Mummelsee aufgetaucht waren. Hatte er Tonka gesehen? Wusste er, dass sie hier war?
Das Netz hatte eine klare Ansage an Philipp: »Spinner.« »Idiot.« »Wichtigtuer.« »Welche Firma steckt hinter dem Werbegag?«
Niemand glaubte, dass die Fotos echt waren oder dass es wirklich einen Zugang in andere Welten gab. An diese Hoffnung klammerte sich Lara, und auch weiterhin an den Türknauf bei dieser turbulenten Fahrt. Sie hatten nur ein kleines Zeitfenster. Philipp gab an, eine Stunde von 15 bis 16 Uhr auf Mitreisende zu warten und dann in den See zu springen. Es war jetzt halb vier. Wenn sie Glück hatten, konnten sie ihn von dieser Reise abhalten und ihm eine Geschichte auftischen, die seine These infrage stellte.
Sie bogen Richtung Silbergründle ab, als Marc den Wagen mit einer Vollbremsung zum Stehen brachte. Die Straße war dicht. Wagen an Wagen reihte sich hintereinander. Es gab kein Durchkommen. Zahlreiche Leute pilgerten zwischen den Autos die Straße hoch. Marc zog die Handbremse. Er sah zu den Leuten und dann zu Lara.
»Die glauben ihm doch nicht?«, fragte Lara leise.
Nein. Das taten sie nicht, wie Lara schnell heraushörte, während sie mit ihnen Richtung Höhle gingen. Aber man wollte unbedingt sehen, welcher Spinner so einen Quatsch behauptete. Die Vorstellung, dass »unser Silbergründle« ein Portal in eine andere Welt sein sollte, sorgte für große Belustigung und auch ein bisschen für Stolz. War dieser Ort mit seiner kleinen Höhle und dem hübschen unterirdischen See bisher nur den Einheimischen und ein paar Touristen vertraut gewesen, so sprach heute die ganze Welt über ihn. Oder zumindest die, die über Fernsehen und Internet verfügten. Diesen vermutlich vorübergehenden Ruhm wollte man doch wenigstens genießen.
Während Marc und sie sich ihren Weg durch die Menschenmasse bahnten, dachte Lara mit schlechtem Gewissen an ihre Streitereien mit Mila und Styx. Sie hatte behauptet, es sei nicht schlimm, wenn die Menschen von den anderen Welten erfuhren. Aber die Vorstellung, dass wirklich jemand sprang und sich in der Welt der Riesen wiederfand, war unerträglich. Die Weltenhüter hatten nur allzu deutlich gemacht, was sie mit den nächsten Durchreisenden anstellen würden.
Es ging nicht mehr weiter. Auf dem kleinen Waldweg zur Höhle hin staute sich die Masse. So viele waren gekommen. Marc nahm Lara an der Hand und lief mit ihr einen kleinen Umweg. Er war nicht der Einzige, der auf diese Idee gekommen war. Dennoch erreichten sie um kurz vor vier von oben kommend die Höhle. Sie sahen all die Menschen, die erwartungsvoll Richtung Eingang blickten.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Lara.
»Abwarten. Vielleicht kommt der Typ gar nicht.«
»Herzlich willkommen!«
Marc verdrehte die Augen, als sie von oben beobachten konnten, wie Philipp aus der Höhle trat. Er strahlte die Wartenden an. »Ich freue mich, dass so viele gekommen sind.«
Einige belustigte Beleidigungen flogen über die Köpfe der Menschen hinweg.
»Ich weiß, dass ihr mir nicht glaubt.«
Zustimmendes Gelächter.
»Und ich weiß, dass ihr nicht glaubt, dass es sich bei den Bildern um echte Aufnahmen handelt. Schließlich kann man heutzutage jegliche Welt auf ein Stück Papier zaubern.« Philipp sah nun ernst in die Runde. »Deshalb werde ich euch beweisen, dass ich nicht lüge. Ich habe umfassende Recherchen angestellt. Und ich kenne die Menschen, die diese Reise bereits angetreten haben. Sie wollten ihr Wissen für sich behalten. Ich hingegen lade euch ein, mich zu begleiten.«
Lara und Marc sahen sich an. Was sollten sie tun?
»Und zwar bevor Polizei und Militär vor Ort sind«, fuhr Philipp fort. »Denn auch sie werden vertuschen, was hier wirklich geschieht. Schließlich sollen wir dumm und unwissend bleiben. Aber damit ist jetzt Schluss!« Er hielt eine kleine Kamera hoch. »Ich werde meinen Sprung ins Wasser filmisch festhalten. Die Kamera ist wasserfest, und ich werde all meine Erfahrungen filmen. Für die, die sich heute noch nicht für einen Sprung entscheiden können. Ich schätze, dass die Verbindung in die anderen Welten nicht funktionieren wird. Aber nach meiner Rückkehr werde ich euch daran teilhaben lassen. Bleibt einfach meinem Blog treu. Und nun«, er machte eine theatralische Pause, »werde ich meine Reise antreten.« Philipp ging in die Höhle zurück, und tatsächlich machten die ersten bereits Anstalten, ihm zu folgen.
Ohne nachzudenken sprang Lara auf. »Stopp!«
»Halt bloß die Klappe!«, flü sterte Marc.
Aber Lara musste die Menschen aufhalten. »Der Mann ist ein Lügner! Die Höhle ist einsturzgefährdet. Geht da bloß nicht rein!«
»Die ist nicht einsturzgefährdet«, tönte eine männliche Stimme. »Ich arbeite hier. Ist alles auf dem neusten Stand.«
Philipp trat wieder aus der Höhle raus und sah zu Lara und Marc. Er lächelte. »Lara Feingeist und Marc Janson. Welche Ehre.«
Diese Ironie hätte sogar Tonka verstanden.
»Die beiden waren bereits in den anderen Welten und wollten euch deren Existenz verheimlichen.«
Alle Blicke wanderten zu Lara und Marc.
»Gut gemacht, Goldi«, kam es trocken von Marc.
»Aber bitte, seid meine Ehrengäste«, sagte Philipp grinsend. »Und seid dabei, wenn ich springe.«
»Niemand springt!«, entfuhr es Lara. »Es ist zu gefährlich.«
»Also gibst du es zu?«, schrie Philipp.
Lara ging zu ihm hinunter.
Marc folgte ihr murrend und stellte sich dann vor sie. »Keine Ahnung, was für einen Mist Sie beobachtet haben wollen. Natürlich waren wir nicht in anderen Welten. Diese Fotos hat meine Ex gemacht. Alles Montage. Sie wollte sich damit für eine Ausstellung bewerben.«
Die Menge murmelte zustimmend. Tatsächlich wandten sich bereits die Ersten ab und traten den Rückweg an.
Philipp wurde sichtlich nervös. »Aber es stimmt! Ich habe selbst gesehen, wie sie verschwunden sind.«
Die meisten winkten ab und betrachteten den Scherz als beendet. Nur wenige blieben stehen und verfolgten interessiert das Streitgespräch zwischen Marc und Philipp.
»Am besten gehen Sie nach Hause und löschen den ganzen Mist. Bevor irgendwer noch auf dumme Gedanken kommt.«
»Genau«, betonte Lara. »Das Wasser in dem kleinen See ist extrem kalt. Sie riskieren nur einen Herzinfarkt.«
»Netter Versuch«, fand Philipp und ging in die Höhle hinein.
Lara und Marc sahen sich kurz an, ehe sie ihm folgten.
Er hatte den Weg erleuchtet und eilte zu der Leiter, die ihn nach unten zum See führte. Lara und Marc kletterten hinterher. Auch wenn der Typ ein Idiot war. Er durfte nicht springen.
Hinter den beiden kamen einige Leute zögerlich hinterhergelaufen. Am See angekommen, stellte Philipp sich ans Ufer.
»Tun Sie das nicht«, bat Lara.
»Warum sollten die Welten mir vorenthalten bleiben?« Er war kurz davor zu springen.
Lara wusste sich nicht anders zu helfen. »Weil es gefährlich ist.«
Stille kehrte ein. Lara schaute in die Gesichter. Ihr Blick blieb kurz an einem großen Mann hängen, der sie aufmerksam musterte.
»Ja. Es gibt diese anderen Welten«, sagte Lara verzweifelt. »Und ja, dieser See ist ein Zugang. Aber in dieser Welt erwartet euch Krieg. Ich habe die Reise nur überlebt, weil ich unter einem besonderen Schutz stand. Sie haben diesen Schutz nicht.« Lara sah Philipp an. »Sie werden diese Reise nicht überleben.«
Einen Moment schien es, als hätte Lara ihn mit ihren Worten erreicht. Dann holte er tief Luft und sprang ins Wasser. Lara entfuhr ein Laut des Entsetzens. Sie konnte nur hoffen, dass er den Zugang nicht fand. So wie die Menschen, die diese Höhle untersucht hatten, ihn nicht gesehen hatten. Tatsächlich tauchte Philipp kurz danach wieder auf. Erneut handelte er sich Gelächter ein. Ein paar kehrten um und kletterten die Leiter wieder hoch. Philipp holte noch einmal tief Luft und tauchte nach unten ab.
Kurze Zeit später schoss ein Lichtstrahl in die Höhle hinauf.
Alle starrten auf die Wasseroberfläche, die sich beruhigte. Keine Luftblasen, keine Wellen. Philipp war weg.
Unruhe brach aus. Die Leute glaubten an einen Trick. Eine unterirdische Höhle. Lara wusste, jetzt war es nur noch eine Frage der Zeit. Sie wich von dem See zurück. Marc folgte ihr. Sie verließen die Höhle. Die Tatsache, dass Philipp nicht wieder aufgetaucht war, machte die Runde. Die Leute drängten sich in die Höhle hinein.
Lara und Marc setzten sich etwas abseits. Nicht einmal die Wahrheit hatte ihn abhalten können. Was würden die Folgen sein?
Konnte Mila sehen, was geschah? Würde sie die Menschen schützen können? Sogar in anderen Welten? Das war Laras einzige Hoffnung.
»Ich Idiot!«, beschimpfte sich Marc schließlich selbst. »Du hattest recht. Die Fotos. Ich hätte sie gleich löschen sollen.«
»Er hat uns nachspioniert. Er hätte es rausgefunden. So oder so«, glaubte Lara, als sie zu ihren Füßen ein vertrautes Gefühl wahrnahm. »Styx!«, rief sie. »Du bist hier. Du musst etwas tun! Halt sie auf!«
Die Katze starrte auf die Menschen, die in die Höhle drängten.
»Und? Was sagt sie?«, fragte Marc.
Lara wartete einen Moment ab. »Nichts. Sie sagt nichts«, erklärte sie schließlich.
Styx starrte stumm auf die neugierigen Menschen. Ihr Schwanz zuckte leicht.