Happy Birthday
Lara und Marc kamen zum Hotel zurück. Während der ganzen Fahrt hatten sie kein Wort gesprochen.
Als Philipp nicht mehr aufgetaucht war, hatte eine besorgte Frau irgendwann den Krankenwagen gerufen. Das war für Lara und Marc der Moment des Aufbruchs gewesen. Auch Styx war daraufhin im Wald verschwunden. Lara war versucht gewesen, hinterherzuspringen. Marc hatte sie zurückgehalten. Er hatte sie an die Weltenhüter erinnert und die eindeutige Ansage des Riesen, bei weiteren Durchreisenden keine Geduld mehr zu zeigen. Als Lara trotzdem hatte springen wollen, hatte Marc sie an Körnchen erinnert. Und Lara dann zum Auto gezerrt.
Es gab nichts mehr zu tun. Das Geheimnis war gelüftet, und Lara sah sich außerstande, jetzt noch etwas dagegen zu unternehmen. Was würde geschehen? Was war mit Philipp geschehen? Hatte der Weltenhüter bei den Kriegern ihn längst mit seiner selbst geformten Harpune ins Jenseits befördert?
Nachdenklich betraten sie das Hotel und erstarrten. Susi sprang ihnen wie gewohnt entgegen. Aber sie war nicht allein. Tonka stand mitten in der Eingangshalle. Mit einer Schüssel voller Erdnüsse in der Hand. Ihre Farben flackerten aufgeregt durcheinander. Ihr gegenüber stand Karin. Sie starrte Tonka an.
»Shit!«, platzte es aus Marc heraus.
Karin zuckte zusammen und drehte sich zu ihnen um. In ihren Augen das pure Erstaunen.
Tonka entschuldigte sich sofort. »Sie ist einfach reingekommen. Gerade eben!
«
Marc ging auf Tonka zu, packte sie am Arm und zog sie mit sich. Lara sah er auffordernd an.
Na toll. Was sollte sie tun? Karin erzählen, dass Marc eine neue Freundin mit einer Vorliebe für Ganzkörperkostüme hatte? Die ihre Farbe ändern konnten?
Karin sah Marc und Tonka nach, ehe sie sich wieder an Lara wandte. »Die Nachrichten. Über die Welten. Ist es wahr?«
Lara schwieg.
»Kommt dieses Wesen von den anderen Welten?« Karin deutete vage in die Richtung, in der Tonka verschwunden war.
Lara lächelte unsicher. Fieberhaft suchte sie nach einer Lösung.
Karin blieb ganz ruhig. »Es stimmt, nicht wahr? Das ist der Ort, an den du ständig verschwindest. Und Mila. Ist sie jetzt dort?«
Lara sah sie erstaunt an. Ein Blick in ihr Gesicht reichte aus, um zu erkennen, dass sie es völlig ernst meinte. Aber sie zeigte keine Angst.
»Ja. Es gibt die anderen Welten. Ja, Tonka ist von einer dieser Welten, und ja, Mila ist jetzt dort. Obwohl wir sie sehr dringend hier bräuchten.«
Karin kam näher. »Meine Mila ...«
Lara nickte. »Sie ist unsere Weltenhüterin.«
Karins Gesicht ließ keine Schlüsse zu. Es arbeitete sichtlich in ihr. »Ich verstehe das alles nicht.«
»Ich weiß.«
»Ich will sie sehen«, rief Karin unvermittelt. »Du hast Kontakt mit ihr! Hilf mir! Ich muss sie sehen. Wenn es
so ist, wie du sagst, dann will ich mich wenigstens verabschieden.« In ihren Augen standen Tränen.
»Ich kann sie nicht mehr sehen«, erwiderte Lara leise. »Es geht mir genau wie dir. Ich habe sie auch verloren.«
Karin taumelte einen Moment. Lara hielt sie am Arm, um sie zu stützen.
»Aber ich weiß, dass sie glücklich ist. «
Ihre Tante starrte sie an. »Werde ich jemals begreifen?«
»Ja«, erwiderte Lara voller Überzeugung. »Ich wollte es verhindern, Karin. Wirklich. Jetzt verstehe ich, dass ich es gar nicht verhindern sollte.«
Karin nickte, noch immer verwirrt. Sie holte aus ihrer Tasche den schwarzen Stein, den Lara ihr vor ein paar Wochen im Steinlädele
gekauft hatte. »Er war wohl doch für mich«, flüsterte sie, während ihr die Tränen über das Gesicht liefen.« Lara wollte sie in den Arm nehmen. Karin wich überfordert zurück. »Es tut mir leid, was Jo dir vorgeworfen hat. Aber es ist besser, wenn du ein paar Tage wegbleibst.«
»Ich wohne hier. Marc hat mich eingeladen.«
»Das ist gut. Bis er sich beruhigt hat.« Sie seufzte überfordert. »Ich weiß nicht, was ich von alldem halten soll.« Etwas unbeholfen nahm sie eine Tasche auf, die am Boden lag und ihr wohl aus der Hand gefallen war. Sie holte ein verpacktes Geschenk daraus hervor und reichte es Lara. »Alles Gute zum Geburtstag«, flüsterte sie.
Lara nahm das Geschenk unsicher entgegen. »Danke.«
»Ich melde mich«, fügte Karin noch hinzu und wollte gehen, doch Lara hielt
sie fest.
»Egal, was du von alldem glauben kannst, Karin. Bitte, erzähl niemandem von Tonka. Sie ist harmlos und wunderbar, und es darf ihr nichts passieren.«
Karin erwiderte Laras Blick und verließ dann das Hotel.
Lara wusste nicht, was mit ihrem Verhalten anzufangen war. Glaubte sie Lara? Oder suchte sie Halt in jeder Erklärung, wo ihre Tochter steckte, und wenn sie noch so abwegig war? Oder würde sie, als Laras Erziehungsberechtigte, einen Psychiater auf sie ansetzen?
Nachdenklich starrte Lara auf ihr Geschenk. Das war mit Sicherheit der seltsamste Geburtstag, den sie je erlebt hatte.
Am Abend saßen sie zusammen vor dem Fernseher. Sie tranken alkoholfreien Sekt und hatten Pizza bestellt. Ein paar Kerzen brannten. Lara hatte Karins Geschenk ausgepackt. Ein Buch über Kräuterkunde.
Es konnte sie nur kurz von den Geschehnissen dieses Tages ablenken. Tonkas Anwesenheit war vor Karin aufgeflogen und niemand konnte wissen, was sie mit dieser Information anstellen würde. Außerdem fragte sich Tonka, was die Entdeckung der anderen Welten für sie bedeutete.
»Vielleicht ist es besser, wenn du zurückgehst«, murmelte Marc, während Tonka das Buch über Kräuterkunde durchblätterte.
Wie Lara mittlerweile wusste, war dies Tonkas Art zu lesen. Sie warf nur einen Blick auf eine Buchseite und hatte dessen Inhalt für immer gespeichert. Wie ein fotografisches Gedä
chtnis.
Tonka sah vom Lesen auf.
»Er hat recht«, betonte Lara. »Es ist sicherer. Für dich.« Auch wenn Lara sich ein Leben ohne Tonka schon gar nicht mehr vorstellen konnte.
»Wir bringen dich heute Nacht zum Ausgang«, erklärte Marc.
Tonka ließ nicht durchblicken, was sie von dieser Idee hielt. Sie hob ihr Glas. »Auf Laras Geburtstag!« Sie stießen an.
Als Lara vor dem Schlafengehen noch in den Garten ging, wünschte sie sich nichts mehr, als hinter der Tanne wie vor ein paar Wochen das ihr vertraute Flimmern zu entdecken. Aber Timo zeigte sich nicht. Auch von Ayse kam keine Nachricht. Obwohl Lara nicht allein war, sehnte sie sich nach den beiden mehr denn je. Ayse hatte auf ihre SMS nicht einmal geantwortet. Bestimmt wollte sie sie zappeln lassen. Ausgerechnet heute?
Mitten in der Nacht wurde sie durch ein lautes Klopfen an der Tür und Susis Bellen geweckt. Sie war vor dem Fernseher eingeschlafen. Jemand hatte sie zugedeckt. Sie hörte, wie Marc fluchend durch die Eingangshalle zur Tür ging. Hatte er wieder an diesem Musikprogramm gearbeitet? Lara hörte, wie die Tür geöffnet wurde und ein dumpfes Gespräch erklang. War das Karin? Mit der Polizei? Wollten sie Tonka holen?
Sie stand auf und eilte in die Eingangshalle, um Zeuge zu werden, wie Marc gerade Cem die Tür vor der Nase zuschlagen wollte.
»Komm
morgen wieder.«
»Cem!«, rief Lara nervös.
Marc verdrehte die Augen, während Lara zu ihm lief.
»Wolltest du zu mir?«
»Ja. Bevor dein Wachhund auf mich los ist.« Cem stand etwas unbeholfen da und reichte Lara ein Geschenk, dessen Papier bereits völlig zerdrückt und an manchen Stellen eingerissen war. »Alles Gute zum Geburtstag und so. Ich habe dich heute in der Schule verpasst.«
Lara nahm das Geschenk entgegen.
»Ayse hat es mir dagelassen, bevor sie zurück nach Berlin ist. Ich sollte es dir heute bringen. Hat sie mir heute extra noch mal geschrieben. Ich war schon bei Jo und Karin. Aber die haben mir gesagt, dass du jetzt hier wohnst?«
»Ja ... das ist ... kompliziert.«
Cem stand etwas unschlüssig rum.
»Willst du noch bleiben?«, fragte Lara.
»Kannst du Ayse endlich anrufen? Und sie über diesen Leo aushorchen?«, platzte es aus Cem heraus.
Lara schüttelte den Kopf. »Warum fragst du sie nicht selbst?«
»Habe ich doch. Sie behauptet, da läuft nichts.«
»Dann läuft da auch nichts. Ayse würde niemals lügen. Diese Fähigkeit ist in ihrer DNA nicht angelegt.«
Cem schnaubte. »Ruf sie einfach an, okay? Sie ist nicht dieselbe ohne dich.«
Lara schluckte und nickte dann.
Er wandte sich zum Gehen, als er noch einmal innehielt. »Dieser Spinner am Silbergründle ... Weißt du da was drüber?
«
Lara war auf der Hut. »Warum?«
»Jo hat so was gesagt.«
»Jo? Er hat von mir gesprochen?«
»Er meinte, wenn du recht hast, kann er Mila finden.«
Sie erstarrte. »Mila finden? Wie will er das denn machen?«
»Er will in den See springen.«
Lara ließ das Geschenk fallen, rannte zu Marc, und kurz darauf rasten sie durch die Nacht.
Sie erreichten den Eingang zur Höhle diesmal schneller. Es war immer noch eine Menge los, aber längst nicht so überlaufen wie am Nachmittag. Während sie die Menge nach Jo absuchte, schnappte Lara im Vorbeigehen auf, dass bereits einige Leute hinter Philipp hergesprungen waren. Auch sie waren nicht wieder aufgetaucht.
»Da! Sein Wagen!«, rief Lara, als sie Jos Auto geparkt am Straßenrand sah. Sie stieg schon aus dem Wagen, als Marc noch einen Parkplatz suchte, und rannte den schmalen Weg in den Wald hinauf. Vor der Höhle standen einige Leute, die Lara irritiert musterten. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie noch ihre Schlafsachen trug.
Marc kam hinter ihr hergerannt. »Da vorne! Ich sehe ihn!« Er lief an ihr vorbei, drängte sich durch die protestierende Menge und zog Jo mit Gewalt zur Seite. Der wehrte sich.
Lara lief zu ihnen. »Jo! Du darfst nicht springen!«
Er starrte Lara an. Mit einem Blick, als wäre er ein anderer Mensch. Seine Willensblase gab immer noch ein verzerrtes Bild preis. Es war nichts mehr zu erkennen
.
»Ist meine Mila dort hin?« Er ging auf Lara zu und packte sie am Kragen. »Ist meine Mila in diesen See gesprungen?«
»Nein!«, flüsterte Lara. »Sie braucht das nicht. Für sie gibt es einen anderen Weg. Jo, du wirst sie nicht finden! Es wird dich umbringen. Außerdem ist Mila vielleicht schon längst wieder hier.«
»Wieso hier? Wo?«
Lara sah an Jo vorbei zu den Leuten, die an der Höhle anstanden und sie interessiert belauschten.
»Wenn du mitkommst, erkläre ich dir alles«, sagte Lara ruhig.
Jo zögerte, als plötzlich Polizeisirenen zu hören waren. Alle Anwesenden sahen Richtung Straße. Durch die Bäume hindurch konnte man das Blaulicht sehen.
»Bitte, Jo. Komm mit.«
Er machte sich grob frei und sah Lara wieder mit diesem Blick an. »Du hast es gewusst. Du hast gewusst, dass sie geht. Und nichts gesagt.«
Lara traf sein Blick wie ein Messerstich.
Als die ersten Polizisten Richtung Höhle kamen, lief Jo an ihnen vorbei und war im nächsten Moment verschwunden.
Marc musterte Lara vorsichtig. »Er ist nicht gesprungen. Das ist die Hauptsache. Lass uns abhauen.«
Die beiden gingen an den Polizisten vorbei, die Richtung Höhle kamen und die Leute baten, ihnen Platz zu machen. Heute Nacht würden sie Tonka nicht nach Hause schicken.