Angst
An diesem Vormittag sah Lara ihren Mitschülern in die Augen. Alle redeten von den jüngsten Ereignissen und diskutierten über Philipps Verschwinden. Sogar im Unterricht war es Thema. Die Verzerrung, die Lara bereits in Jos Willensblase wahrgenommen hatte, war auch bei den Schülern zu erkennen, wenn auch nicht bei allen. Lara erkannte es besonders bei den Schülern und Schülerinnen, die sich gegenseitig in ihrer Sorge und Angst bestärkten. Allen voran Tamara und Jonas, die sich bereits bizarre Szenarien ausdachten, was mit den verschwundenen Menschen geschehen war. Ihre Blasen hatten sich am meisten verändert. Waren nur noch ein grauer Bildschirm in einer völlig verzerrten Form. Es war, als habe die Entdeckung des Durchgangs zu einer Veränderung des Willens geführt. Sie musste unbedingt Styx finden und sie danach befragen.
In der Pause waren Laras Gedanken jedoch abgelenkt. Sie war vertieft in Ayses Geschenk. Das Freundschaftsbuch, das Ayse und sie in der dritten Klasse begonnen hatten. Jede von ihnen hatte es an je einem Tag mit nach Hause genommen und etwas hineingeschrieben, um es dann am nächsten Tag der anderen zu geben. So hatten sich über die Jahre einige Bücher angesammelt. Dieses hier, mit den Blümchen und den Pferden drauf, war ihr erstes. In ordentlicher Schreibschrift waren Grüße und spannende Erlebnisse aus ihrem Leben zusammengetragen, obwohl die beiden sich sowieso jeden Tag gesehen hatten. So viele
Rechtschreibfehler. So viel Liebe. Und ein entscheidender Wortwechsel:
Ayse: Du bist meine beste Freundin. Wir bleiben für immer zusammen.
Lara: Egal wie doof du mich mal findest?
Ayse: Ganz egal, welchen Mist du baust. Ich werde dir immer verzeihen.
Lara fotografierte die Stelle ab und sendete sie an Ayse. Darunter die Nachricht: Danke für dein Geschenk. Ich liebe dich. Verzeihst du mir?
Keine fünf Sekunden später kam die Antwort.
Liebe dich auch. Kannst du jetzt über dein Geheimnis reden?
Lara hatte erlebt, welche Konsequenzen es haben konnte, wenn sie die Menschen mit der Wahrheit überfiel. Sie wollte warten, bis Ayse sich von selbst erinnerte. Sie musste endlich Cem küssen! Aber dieser Leo, wer auch immer es war, schien zu einem ernsten Hindernis zu werden. Lara nahm entschlossen ihr Handy und schrieb eine Nachricht.
Küss Cem. Nicht Leo!
Sie klickte auf Senden und atmete glücklich durch. Sie würde ihre beste Freundin zurückholen. Mit oder ohne Erinnerung.
In diesem Moment fiel ihr auf, dass Tamara und Jonas in einigem Abstand auf dem Hof standen und sie beobachteten. Lara bekam eine Gänsehaut, stand auf und ging eilig wieder in das Gebäude
hinein.
Als Lara nach der Schule zurück ins Hotel kam, war Tonka in heller Aufregung, was ein buntes Farbspektakel ihrer Haut verriet.
»Die Polizei war da«, erklärte Marc.
»Und sie haben Tonka gesehen?«
»Nein. Sie haben mich ausgequetscht. Was ich über die Höhle weiß. Wo wir waren, als wir verschwunden waren.«
»Was hast du ihnen gesagt?«
»Ich habe geleugnet, irgendwas zu wissen. Sie meinten, dass sie noch mal wiederkommen. Um dich zu befragen. Schließlich hast du laut genug rumposaunt, was es mit dem See auf sich hat.«
Lara nickte nervös und sah zur aufgeregten Tonka. »Und warum versetzt dich das in Panik?«
»Die Menschen, die gesprungen sind, kommen nicht zurück. Es waren insgesamt fünfzehn. Erwachsene, Jugendliche …«, erklärte Marc. »Die Polizei, die gestern Nacht kam, ist geblieben. Sogar das Militär ist vor Ort. Sie haben das Gebiet weiträumig abgesperrt.«
»Ich wollte nicht gehen. Und jetzt kann ich nicht gehen«, erklärte Tonka.
Als sie draußen Autos hörten, schob Marc Tonka schnell in sein Büro. Gerade rechtzeitig, denn schon drängten sich zwei Männer ins Hotel und sahen Lara und Marc feindselig an.
Es waren keine Polizisten. Sie waren um die fünfzig, hatten grau meliertes Haar, der eine trug einen dichten Bart.
»Wo sind sie hin?«
»Mein Sohn ist gesprungen. Jetzt ist er verschwunden.
«
Lara wich vor den beiden zurück.
»Ihr wisst darüber Bescheid!«
»Was geht hier vor?«
»Wo ist mein Junge?«
Lara starrte ihnen in die Augen. Auch bei ihnen waren die Willensblasen verzerrt.
»Was sind die anderen Welten?«
»Was wollen sie von uns?«
»Haut ab!«, rief Lara überfordert.
Einer der beiden packte sie und schleuderte sie zu Boden. Lara hatte keine Kontrolle über ihren Fall, sie schlug hart am Boden auf. Als sie aufsah, standen beide Männer über ihr.
»Du sagst mir jetzt, wo mein Sohn ist. Oder ich mache dich kalt!«
In diesem Moment klarte sich das Bild in der Willensblase des Mannes auf. Lara sah deutlich eine Szene, in der sie selbst eine Rolle spielte. Der Mann holte mit seiner Faust aus und schlug ihr ins Gesicht. Er schlug noch mal zu. Bis sie ohnmächtig war. Lara keuchte vor Angst.
»Die Welten wollen nichts von uns. Wir sind für sie völlig uninteressant«, rief sie.
»Was machen sie mit unseren Leuten?«
»Ich habe keine Ahnung«, gestand Lara.
»Sind sie tot? Haben sie alle umgebracht?«
Als Lara überfordert keine Antwort einfiel, holte der Mann mit der Faust aus. Sein Wille würde Wirklichkeit werden. Schützend hielt sie die Hände vors Gesicht und rollte sich zusammen, um ihr Kind zu schützen.
Da
fiel ein Schuss.
Lara zuckte zusammen. Wer hatte geschossen? War sie getroffen? Sie spürte keinen Schmerz. Sah nur etwas Putz, der neben ihr von der Decke kommend auf den Boden rieselte.
»Raus aus meinem Haus! Sofort!«
Lara sah zu, wie die beiden Männer aus dem Hotel liefen. Sie setzte sich auf und schaute ungläubig hinter sich.
Da stand Marc.
Er hatte ein Gewehr in der Hand.
Er blickte den beiden nach und eilte dann zu Lara. »Bist du verletzt?«
Sie starrte ihn ungläubig an. »Du hast ... ein Gewehr?«
»Hat Opa gehört. Bist du okay?«
»Ich glaube schon.« Obwohl sie am ganzen Körper zitterte. Sie hatte das Gefühl, auf all ihren Reisen nicht so eine Angst gehabt zu haben wie gerade vor diesen beiden Männern.
Marc schien das zu spüren. »Niemand kommt hier rein und bedroht uns.« Er stand auf, ging zum Tresen, kramte in einer Box und hielt Lara einen Schlüssel hin. »Da ist eine Hütte. Ungefähr zwei Kilometer den Weg hinter dem Haus entlang. Bring Tonka dort hin. Wenn sie sie sehen, bringen sie sie um.« Er legte das Gewehr unter den Tresen. »Ich besorge neue Schlösser und eine Alarmanlage.«
»Glaubst du, sie kommen wieder?«
Marc sah Lara an. »Die Menschen haben einen Zugang zu den Welten entdeckt. Was hier gerade gelaufen ist, ist erst der Anfang. Und jetzt bring Tonka weg.
«
Mit zitternden Händen nahm Lara den Schlüssel entgegen. Sie hatte den Willen der Menschen als etwas Gutes angesehen. Etwas, das erschaffen konnte. Das heilig war.
Bis dieser Wille sich entschieden hatte, auf sie einzuschlagen.
Lara und Tonka liefen eilig in Susis Begleitung zur Hütte. Es dauerte etwas, bis sie sie fanden. Sie lag versteckt hinter einigen Tannen. Außerdem war Tonka nervös und verschwand bei jedem Geräusch hinter irgendeinem Baum. Was nicht zu ihrer Tarnung beitrug, da ihre Haut aufgeregt in allen möglichen Farben flackerte. Jeder hätte sie gesehen. Lara holte sie hinter einem Baum hervor und zog sie an der Hand weiter.
»Das ist also Angst«, stellte Tonka fest.
»Ja. Das ist Angst«, erwiderte Lara. »Willst du das immer noch erfahren?«
Tonka schwieg, bis sie die Hütte erreichten.
»Es ist Liebe. Nur anders herum«, sagte sie dann.
Lara dachte an die blauen und roten Kristalle in der Höhle. Warum konnten sie keine Welt voller roter Steine sein?
Sie schloss die Tür auf und betrat ein dunkles Zimmer. Es roch nach feuchtem Holz. Die Fensterläden waren geschlossen. »Wir sollten alles zu lassen. Damit keiner merkt, dass du hier bist.«
Tonka sah sich unglücklich um.
»Ich bringe dir Bücher und Essen. Okay?«
»Wie lange muss
ich hierbleiben?«
»Ich weiß es nicht«, gestand Lara ehrlich. »Wir behalten den Zugang im Auge. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit, dich nachts einzuschmuggeln. Außerdem will ich versuchen, Kontakt zu Mila aufzunehmen. Sie kann uns bestimmt helfen. Wir bringen dich hier weg.«
Tonkas Farben schimmerten in Grau- und Schwarztönen.
Lara wollte die Hütte verlassen. »Komm, Susi.«
Aber die Hündin legte sich neben Tonka auf den Boden. Lara lächelte. Susi wusste immer, wo sie am meisten gebraucht wurde.
Anschließend versuchte Lara, Kontakt zu Mila aufzunehmen. Sie saß im Schneidersitz im Wald und stellte sich ihre Cousine vor, so wie sie es getan hatte, ehe sie als pure Energie in diese Höhle gelangt war. Sie wagte nicht, ihren Körper wirklich zu verlassen. Aus Angst, dass der silberne Faden wieder reißen würde.
Was vermutlich auch der Grund war, warum sie Mila nicht erreichen konnte. Aber sie musste doch wissen, was hier los war. Wieso kam sie nicht? Wieso half sie ihnen nicht? Und warum hatte Styx geschwiegen und nicht irgendwelche Tricks angewandt oder irgendwelche Menschen gebissen oder verschluckt, um sie wieder auf den richtigen Weg zu bringen?
Lara hielt die Warterei im Hotel nicht aus. Sie nahm den Bus, der eine halbe Stunde zu spät kam. Die Leute waren durch die Ereignisse sichtlich durch den Wind. Es war das Gesprächsthema Nummer eins.
Lara stieg an der Haltestelle am Hotel Holzwurm
aus. Sie hatte einen Schrieb dabei, mit dem Jo und Karin ihren Einzug bei Marc bewilligen sollten. Was natü
rlich nur ein Vorwand war, um die beiden zu treffen. Sie sah Eva, die einen Tisch abräumte.
Als diese Lara entdeckte, ging sie eilig zu ihr. »Hey, alle reden über dich.«
»Habe ich befürchtet.«
»Ist es wahr? Du warst in anderen Welten?«
»Glaubst du denn, dass es die Welten gibt?«
»Das habe ich schon immer geglaubt«, antwortete Eva lächelnd. Ihre Willensblase klebte deutlich über ihr. Das Bild in ihr war unverändert und nicht verzerrt. »Willst du mir von ihnen erzählen?«
Lara musterte Eva erstaunt, für die das Gespräch über die anderen Welten etwas völlig Normales zu sein schien. Trotzdem schüttelte sie den Kopf. »Bisher war es nicht von Vorteil, davon zu reden.«
»Wann immer du so weit bist.« Eva lächelte noch einmal. »Übrigens, ich habe es gemacht«, erklärte sie. »Den Stammtisch. Wir überlegen, einen Verein zu gründen. Selbstständige Frauen aus der Region, die sich gegenseitig unterstützen. Ich hätte es vermutlich sowieso gemacht. Aber dank dir ging es schneller. «
»Das freut mich.«
»Sie wollen dich kennenlernen. Überlege es dir. Du bist immer willkommen.«
Lara lächelte überfordert, ehe sie ging. Als sie die Waldapotheke erreichte, war die Tür verschlossen. Auch im hinteren Raum konnte Lara niemanden sehen. Sie ging zum Haus und blieb erstaunt stehen. Styx lag vor der Tür.
»Styx! Hier bist du. Wir müssen reden. Ist Mila ...« Lara brach mitten im Satz
ab.
Die Katze lag am Boden, hob kaum den Kopf. Das Fell wirkte noch zottiger als sonst. Die Augen waren trüb, und sie wirkte kraftlos. Als könnte sie nicht einmal aufstehen.
»Was ist mit dir?« Vorsichtig ging Lara näher. »Kannst du sprechen?«
Keine Antwort.
Unruhe machte sich in Lara breit.
»Nimm ...«
Lara horchte auf, als die Stimme der Katze sich in ihrem Inneren bemerkbar machte. »Was?«
»Mitnehmen«, wisperte Styx.
»Was soll ich mitnehmen? Dich?«
Styxʼ
Schwanz zuckte. Diese Bitte bereitete Lara mehr Sorge als der Zustand der Katze. Ein Wesen, das sich problemlos durch die Gegend beamen konnte, wollte getragen werden? Im Wissen, dass Styx nicht berührt werden wollte, zog Lara ihre Jacke aus und bettete die dicke Katze darin. In ihren Armen schloss Styx sofort die Augen.
Besorgt rief Lara Marc an und bat ihn, sie abzuholen.
Lara legte Styx auf eines der Kissen im alten Speisezimmer, während Marc damit begann, den Türen und Fenstern neue Schlösser zu verpassen und eine Alarmanlage zu installieren, was an dem heruntergekommenen Hotel ein bizarrer Anblick war.
Als er fertig war, setzte er sich neben Lara, die nachdenklich die Katze beobachtet hatte. »Hat sie abgenommen?«, fragte er
.
Lara stutzte. Marc hatte recht. Der sonst so aufgedunsene Bauch schien schlanker.
»Sollten wir ihr Katzenfutter holen oder so?«, fragte Marc.
»Ich glaube nicht, dass sie so was frisst.« Lara sah ihn vorsichtig an. »In ihrem Inneren ist das Universum.«
Ausdruckslos erwiderte er ihren Blick.
»Ich war ohne meinen Körper unterwegs. Ist eine lange Geschichte. Jedenfalls ist die Verbindung gerissen, und Styx musste mich fressen, um mich zu meinem Körper zu transportieren. Ich war in ihr drin. Da ist das ganze Universum.«
Marc vergrub sein Gesicht in den Händen.
»Es würde dir gefallen«, stellte Lara fest.
Er brauchte noch einen Moment, ehe er die Katze musterte. »Weißt du, was das Schlimmste ist?«, fragte er erschöpft. »Ich glaube dir.«
»Mit was sollen wir sie also füttern? Sternenstaub?« In ihrer Stimme klang ein Hauch Verzweiflung mit.
Sie versuchten, Styx etwas zu essen vorzusetzen. Wie erwartet war sie weder für Fleisch noch für Gemüse zu begeistern. Nichts und niemand konnte der Katze eine Reaktion entlocken.
»Als wäre sie auf Stand-by«, überlegte Marc.
»Was ist, wenn sie stirbt?«
»Kann sie denn sterben?«
Schweigen. Auch wenn Lara nicht begreifen konnte, welche Rolle genau Styx spielte ... die Vorstellung, sie könnte diese Erde verlassen, war unerträglich
.
Sie hatten Tonka mit Lebensmitteln und Büchern versorgt. Susi schien entschlossen, bei ihrem heiß geliebten Alien zu bleiben.
An diesem Tag wagte sich niemand mehr zum Hotel. Kein Auto fuhr die Schwarzwaldhochstraße entlang. Es war so ruhig, dass Lara umso mehr ihre innere Unruhe wahrnahm. Sie wich nicht von Styxʼ
Seite. Blieb bei ihr sitzen und sah mit Marc fern. In den Nachrichten wurden die Geschehnisse um das Silbergründle herum dokumentiert.
Noch immer bezweifelte die breite Öffentlichkeit, dass der See wirklich ein Zugang zu anderen Welten war. Allerdings wurden mittlerweile Untersuchungen in der Höhle und am Mummelsee vorgenommen. Fünfzehn Menschen waren mit Philipp verschwunden. Die Welt brauchte eine Erklärung. Wollte verstehen.
Irgendwann machte Marc den Fernseher aus. Sie blieben im Raum sitzen. Schweigend. In diesem Moment wurde Lara klar, dass sie den ganzen Tag nicht an Timo gedacht hatte.