Zu
Ayse ging aufgeregt durch die Straßen. Alle redeten davon. Der Zugang im Schwarzwald. Die anderen Welten. Cem, der ihr von seinem Besuch bei Lara erzählt hatte. Sie hatte nicht geleugnet, etwas über diesen Journalisten zu wissen, der von den Welten erzählt hatte. Sie war sogar in Panik aufgebrochen, als Cem ihr von Jo erzählt hatte.
War das ihr Geheimnis? Die anderen Welten? Wusste Lara davon? War das der Ort, an den sie noch mal gereist war? War das der Ort, an dem sie selbst gewesen war?
Und dann diese SMS.
Küss Cem. Nicht Leo.
Woher wusste sie von Leo? Und wie kam sie auf die Idee, dass sie ihn küssen würde?
Ayse hatte Lara anrufen wollen. Aber dann hatte Leos Nachricht sie abgelenkt. Sie kam an seinem Haus an und wollte klingeln, als sie ihn sah. Mit einem Kaffee in der Hand trat er aus dem Kiosk. Ohne Kopfhörer.
Ayse ging auf ihn zu. »Hey!«
»Das ging schnell«, stellte er fest.
»Ist es wahr?«
Er sah sich noch einmal um. Zwei Leute gingen an ihm vorbei. Sie redeten über die Höhle und über die anderen Welten. Darüber, dass Menschen verschwunden waren. Vermutlich tot.
»Ich brauche die Kopfhörer nicht mehr«, bestätigte Leo.
»Du hörst gar nichts mehr?«
»Doch. Vereinzelt. Manche Menschen haben noch ihre Melodie. Manche haben nur noch ein paar schräge Töne. Die meisten sind verstummt.«
»Wie ist das möglich?«
Leo lachte.
»Ist das lustig?«
»Na ja. Du hast mich nie gefragt, wie es möglich ist, dass ich die Melodien höre. Und jetzt fragst du dich, wie es möglich ist, dass sie verstummen.«
»Seit wann hörst du sie nicht mehr?«
»Seit die Nachrichten über diese Welten kamen.«
»Ich verstehe das alles nicht!«, rief Ayse frustriert.
»Wie könntest du?«, entgegnete Leo verwundert. »Keiner versteht es. Ist es überhaupt wahr?«
»Irgendwas ist dran. Lara hat sich gemeldet.«
»Was hat sie gesagt.«
»Dass ich dich nicht küssen soll.«
Die beiden starrten sich an.
»Hattest du das denn vor?«
»Nein.«
»Na dann.«
Schweigen.
»Hättest du es gewollt?«
»Nein.«
»Gut.«
Die beiden betrachteten einen Moment die vorbeigehenden Menschen.
»Ich habe vielleicht das richtige Instrument gefunden.«
Ayses Blick wanderte zu Leo zurück. »Die Software? «
»Nein. Die ist noch nicht fertig. Aber vielleicht hattest du recht. Mit der Idee, dass eine Melodie dieser Art nicht von einem Computer gespielt werden sollte.«
»Welches Instrument ist es?«
»Ist noch zu früh, um was darüber zu sagen. Ich habe meinen alten Musiklehrer kontaktiert, und der hat eine Idee. Wenn ich mehr weiß, gebe ich dir Bescheid.« Er atmete entspannt durch. Schien die Konzertpause zu genießen. »Dieser Mummelsee, von dem alle reden. Warst du da nicht?«
»Ja, da war ich«, entgegnete Ayse nachdenklich.
»Sie behaupten, dass die Aliens dort rauskommen.«
Sie sah ihn mit großen Augen an. »Das ist doch Schwachsinn.«
»Habe ich auch gedacht. Aber sechzehn verschollene Menschen haben eine Panik ausgelöst.«
»Was heißt das?«
»Sie schütten ihn zu.«
Lara und Marc starrten auf das Spektakel. Sie waren den asphaltierten Weg zur Hornisgrinde ein Stück hochgelaufen. Die schmale Straße führte direkt zum höchst gelegenen Punkt dieser Gegend und gab auf halbem Weg einen guten Blick auf den See frei.
Die sonst so friedliche Atmosphäre war empfindlich gestört.
Bagger und Kräne waren an die zugänglichen Stellen des Mummelsees gefahren worden. Nach und nach schütteten sie Steine und Sand in den See. Das verdrängte Wasser floss in Strömen ins Tal hinunter. Die ganze Umgebung war abgesperrt. Lara und Marc waren durch den Wald hergelaufen.
»Sie sind völlig verrückt«, stellte Marc fest. »Ich dachte, sie glauben nicht einmal daran.«
»Man hat etwas gefunden.«
Lara und Marc drehten sich um. Ein Mann trat neben sie. Er trug Wanderstiefel, hatte einen Rucksack auf dem Rücken und eine dicke Nase über einem dichten, schwarzen Bart. Die zuckte nun, als würde er gleich seinem Begleiter, dem schwarzen Riesenschnauzer, die angespannte Stimmung wittern.
»Auf dem Grund des Sees. Einen Stein, den es nicht in unserer Welt gibt.«
Marc und Lara sahen den Mann erstaunt an.
»Verrückt, oder?«
»Total«, erwiderte Lara schnell.
»Ich bin hier so oft vorbeigekommen. Habe mich immer gefragt, warum ausgerechnet dieser kleine See so eine Aufmerksamkeit bekommt. Er ist ganz nett. Aber mal ehrlich, so eine schwarze Brühe, in der nur Molche überleben ... Jetzt weiß ich, warum wir so gerne hierherkommen.«
Lara und Marc sahen sich kurz an und blickten wieder zum See.
»Wir haben es gespürt. Die Verbindung. Zu den anderen Welten«, sinnierte der Mann weiter. »Was glaubt ihr, passiert, wenn man diese Verbindung kappt?«
Lara sah dem Mann nun in die Augen. Seine Willensblase leuchtete hell über ihm. Kein verzerrtes Bild. Tiere rannten durch einen Wald.
»Sind Sie Jäger?«, fragte Lara.
»Nein. Ich plane eine Tierstation. Hier oben am Breitenbrunnen.«
Lara nickte nachdenklich, als ein lauter Knall sie zusammenzucken ließ. Sie sah zum See. Von einem Lastwagen war ein riesiger Steinbrocken gerollt worden. Das Wasser spritzte hoch. Lara sah in die Gesichter der Arbeiter. In keiner Miene konnte sie Zweifel über deren Tun erkennen. Sie waren davon überzeugt, das Richtige zu tun. Dabei fühlte Lara beim Anblick des zugeschütteten Sees nichts als Traurigkeit.
»Falls Mila noch nicht zurück ist von der Weltenreise, könnte sie so eine Gesteinsschicht aufhalten?«, fragte Marc leise.
»Ich glaube nicht«, entgegnete Lara schnell. »Sie kann bestimmt durch sämtliche Gesteinsschichten dieser Welt fliegen.«
»Die Verschollenen aber nicht. Die kommen nicht zurück.«