»One«
U2
Lara wischte aufgeregt den Boden in der Eingangshalle. Währenddessen sah sie auf die Uhr. »Wie lange brauchen wir nach Baden-Baden?«
»Zwanzig Minuten«, rief Marc genervt aus seinem Zimmer. »Das habe ich dir aber auch zwanzig Mal erzählt.«
»Dann fahren wir dreißig Minuten früher.«
»Lass dich doch einfach den Berg runterrollen, Scuti. Dann bist du am schnellsten da.«
Wütend sah sie in seine Richtung.
Er kam grinsend aus dem Büro. »Noch ein Karamellpudding?«, säuselte er.
Sie nahm das nasse Putztuch und schleuderte es in seine Richtung. Er duckte sich. »Nicht mal du kannst mir heute die Laune verderben.«
»Schade.«
Lara grinste, während Marc ihr den nassen Lappen zurückbrachte. Sie fühlte sich wie verliebt. Heute kam Ayse zu ihr zurück. Vorgestern Nacht war die Nachricht gekommen, dass sie Weihnachten hier verbringen wollte. Ihre Familie feierte ohnehin nicht, und Ayse wollte Cem besuchen. Offensichtlich hatte sie entschieden, dass Weihnachten die Zeit der Aussprache sein würde. Sie hatte angekündigt, mit Lara reden zu müssen.
»Scuti, wir haben ein Problem«, unterbrach Marc ihre Gedanken.
Sie sah ihn fragend an
.
»Ich bin pleite.«
»Pleite? Aber du hast doch diese Software programmiert? Für den Musiker?«
»Habe ich. Nur leider habe ich seit Wochen nichts mehr von ihm gehört. Nach meiner Zahlungsaufforderung ist er untergetaucht.«
»Vielleicht hat er auch mit dem Arbeiten aufgehört?«
»Möglich.«
Diese Nachricht hörte Lara immer öfter. Von einem Tag auf den anderen ließen die Menschen von ihrem Tun ab. Blieben zu Hause. Im Bett. Starrten an die Decke. Nichts und niemand konnte sie dazu bewegen, aufzustehen. Lara bemühte sich, den Willen der Menschen aufrecht zu erhalten. Aber die Zahl derer, die sich gegen die ausbreitende Depression wehren konnte, nahm stetig ab.
»Wir nehmen das Geld. Von meinem Vater.«
»Bis ich was Neues gefunden habe.«
»Wenn ich bezahle, ist die Farbe Gelb.«
Marc verdrehte die Augen. Sie hatten schon vor Wochen den ganzen Papierkram beim Jugendamt abgegeben. Da Jo und Karin Laras Umzug in das Hotel bewilligt hatten, hielt sich das Interesse des Jugendamts in Grenzen. Das würde sich ändern, sobald Körnchen auf der Welt war.
Bis dahin wollten sie das Hotel auf Vordermann bringen. Sie mussten dem Jugendamt beweisen, dass sie Körnchen hier großziehen konnten. Mit allem, was das Baby brauchte und beschützte. Lara nutzte ihre Abende mit Tonka, um die Zimmer zu renovieren und zu verschönern. Außerdem hatte sie ein
Zimmer für Ayse vorbereitet. Marc hatte sich stillschweigend gefügt, und Lara hatte den Verdacht, dass er die Veränderung genoss, auch wenn er jedes Mal ein großes Theater machte. Nur die Farbe für den Eingangsbereich, darauf hatten sie sich bisher nicht einigen können.
»Mist! Wir müssen los.«
Gehetzt sah Lara auf die Uhr.
Ihr Blick raste von Abteil zu Abteil, als der Zug in den Bahnhof einfuhr. Er war zu schnell. Und zu voll. Sie konnte Ayse nicht entdecken. Aufgeregt wartete sie, bis die Türen sich öffneten. Zahlreiche Menschen strömten heraus. Lara sah nach vorn, nach hinten. Aber es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, ehe sie endlich das ihr bekannte Kopftuch in der Menge herausstechen sah. Ayse kam auf sie zu und zog einen Rollkoffer hinter sich her. Als sie Lara erblickte, blieb sie stehen. Die beiden sahen sich an, sahen einander in die Augen. Deutlich und hellstrahlend zeichnete sich eine Willensblase über Ayse ab.
Was Lara sah, erstaunte sie. Es blieb keine Zeit, darüber nachzudenken. Wie ferngesteuert ging sie auf ihre Freundin zu und blieb direkt vor ihr stehen. Sie spürte, dass Ayse wütend sein und Lara die kalte Schulter zeigen wollte. Aber dazu war ein Mensch wie Ayse nicht in der Lage. Denn schon in der nächsten Sekunde flog sie ihr um den Hals.
»Ich hasse dich!«, rief sie dabei. Dann schob sie Lara von sich weg und sah an ihr rauf und runter. »Mann, hast du zugelegt.«
Lara lachte
.
Als sie Ayse ihr Zimmer zeigte, war diese erstaunt, was aus dem Hotel geworden war. Lara erzählte ihr alles, was seit dem Entdecken der Zugänge geschehen war. Und Ayse berichtete ihr von den Entwicklungen in Berlin. Sie bestätigte, dass auch in Berlin die Stimmung sehr angespannt war. Und genau wie hier hatten einige Leute einfach mit dem Arbeiten aufgehört und blieben nur noch im Bett.
Dann erzählte Ayse Lara von Leo. Lara lauschte erstaunt und wischte die Bedenken ihrer Freundin, dass diese sie für verrückt halten könnte, beiseite. Fasziniert hörte sie zu, wie Ayse ihr von den Melodien erzählte und dass Leo versucht hatte, mit einer bestimmten Software die Töne nachzuspielen, die er hörte.
Als Lara das vernahm, griff sie Ayses Hand und zog diese mit sich in Marcs Büro.
»Es muss dein Programm sein!«, rief Lara, nachdem sie Marc aufgeklärt hatten.
»Der Typ, der das Programm bei mir bestellt hat, ist Ayses neuer Freund?«
»Er ist nicht so
mein Freund.«
»Erzähl das Cem.«
»Es muss derselbe Musiker sein. Aus Berlin. Der einen ganz bestimmten Ton hören will.«
»Das wäre aber schon ein arger Zufall«, fand Marc.
»Zufall. Oder eben nicht«, erwiderte Lara.
Ayse musterte sie fragend.
»Ich kann Willensblasen sehen, die langsam erlöschen. Dieser Leo kann Melodien hören, die im Moment immer leiser werden. Versteht ihr nicht? Das gehört zusammen. Der Wille des Menschen
und seine Melodie gehören zusammen.« Sie sah Ayse aufgeregt an. »Ich muss ihn kennenlernen.«
»Was für Willensblasen?«
»Erzähl ich dir später.«
»Nein. Das erlaube ich nicht mehr!«, rief Ayse entschlossen. »Nichts wird mehr auf später verschoben. Ich will jetzt alles wissen. Und vor allem will ich wissen, warum ich Cem küssen soll. Und nicht Leo.«
Lara nickte. »Okay. Dann werde ich dir erst mal jemanden vorstellen.«
Marc war nicht begeistert davon gewesen, dass sie Ayse von Tonka erzählen wollte. Aber sie wollte ihre Freundin zurück. Also musste sie sie in ihre Welt lassen. Abgesehen davon war sie davon überzeugt, dass Ayse das Geheimnis für sich bewahren würde.
Was sie auch tat. Nachdem sie eine halbe Stunde damit verbracht hatte, vor Tonka zu sitzen und sie anzustarren. Tonka starrte Ayse an, und Lara bedauerte, dass Ayse nicht das volle Farbspektakel ihrer Haut zu sehen bekam. Tonkas Verwandlung in einen Menschen war weiter fortgeschritten. Aber anstelle ihrer Haut erzählte Tonka einfach, wie sie hergekommen war – und woher sie kam. Ayse lauschte ihr schweigend.
Als Tonka nach einer gefühlten halben Stunde zum Ende kam, setzte sich Lara besorgt neben ihre Freundin. »Alles okay?«
Ayses Blick aus den großen Augen wanderte zu Lara. »Sie ist so schön«, stammelte sie.
Lara beschrieb Ayse die Welten, so gut sie konnte. Aufgrund der veröffentlichten Bilder hatte Ayse sowieso
schon eine Vorstellung. Sie berichtete auch, dass Ayses Stein Lara das Leben gerettet hatte. »Du hast mir zum zweiten Mal das Leben gerettet«, betonte Lara.
»Zum zweiten Mal? Ich habe dir also schon mal das Leben gerettet?«
Lara lächelte nur.
Ayse blieb nachdenklich. »Diese anderen Welten. Ist das der Ort, an dem ich auch war?«
Lara zögerte.
»Okay. Erzähl es mir nicht.«
Lara musterte ihre Freundin überrascht.
»Ich habe dir vorgeworfen, Geheimnisse zu haben. Dabei hätte ich eines die ganze Zeit über wissen müssen: Wenn du mir etwas verheimlichst, dann nur, um mich zu schützen.«
Lara nickte.
»Aber ich verstehe nicht, warum du dein Wissen um die Welten vor den Menschen verheimlichst.«
»Weil sie wütend werden.«
»Ich bin nicht wütend geworden.«
Ayses Worte brachten Lara zum Nachdenken. Sie fuhren gemeinsam nach Achern. Ayse war bei Cem und würde ihn hoffentlich in Sachen Leo beruhigen können. Und vielleicht endlich küssen! Lara hatte in der Zwischenzeit einen letzten Termin in diesem Jahr bei der Frauenärztin, die mit Blutbild, Ultraschall und Entwicklung höchst zufrieden war.
»Ich kann erkennen, was es wird«, lächelte die Ärztin.
Lara zögerte einen Moment. Dann nickte
sie.
»Ein Mädchen.«
Danach fuhr Lara mit dem Bus zurück nach Sasbachwalden. Auf dem Weg zu Karin sah sie zum Holzwurm
hinüber. Entschlossen ging sie zu dem Hotel und betrat das Restaurant, in dem Eva gerade Kuchen an Gäste verteilte. Schneeschuhe und Langlaufskier standen vor der Tür. Lara ging lächelnd auf Eva zu.
»Wann ist der nächste Stammtisch? Von deinen Freundinnen?«, fragte sie.
Eva zögerte einen Moment, ehe sie erfreut lächelte. »Wenn du willst, noch heute?«
Die sechs Frauen hatten gebannt Laras Worten gelauscht. Drei von ihnen kamen aus Baden-Baden und hatten dort eigene Läden. Öko-Kosmetik, vegane Ernährung und ein Musikgeschäft nannten sie ihr Eigen. Sie waren um die 40 und strahlten Ruhe und Entschiedenheit aus, die sich in ihren Willensblasen bemerkbar machten. Auch die zwei anderen Damen, die aus der näheren Umgebung kamen, arbeiteten selbstständig als Wald-Scout und Weinhändlerin. Sie hatten jeweils eine leuchtende Willensblase über sich.
»Wir haben also wirklich die einzigen Zugänge geschlossen, die unsere Erde hat?«, fragte Tatjana, die Dame mit dem veganen Laden. Sie hatte feuerrote Locken, war sehr schlank und hatte eine offensichtliche Vorliebe für goldenen Schmuck.
»Die einzigen, von denen ich weiß«, bestätigte Lara.
»Und du glaubst, die verschollenen Menschen sind
wirklich tot?«
»Das weiß ich nicht. Aber selbst wenn nicht, solange der Mummelsee verschlossen ist, kommt niemand mehr zurück.«
»Auch nicht unsere Weltenhüterin?«, hakte Franziska nach, die mit großen Steinen bestückt war, die allesamt ihre Farben auf die Haut ausdehnten.
»Ich konnte keinen Kontakt zu ihr aufnehmen.«
Eva musterte Lara nachdenklich. »Wir müssen den Eingang freilegen.«
»Wie willst du das anstellen?«, fragte Becky, die als Waldscout arbeitete. Ihre langen Locken hingen ihr den Rücken hinunter. Ihre Fingernägel waren mit Rot und Glitzersteinen dekoriert.
Lara fragte sich, wie sie mit diesen Nägeln im Wald arbeiten konnte. »Habt ihr nicht gesehen, welche riesigen Dinger sie da reingerollt haben? Abgesehen davon, dass der Mummelsee Tag und Nacht bewacht wird.«
»Dann müssen wir mit ihnen reden!«, rief Eva.
Lara beobachtete erstaunt, was geschah. Während die sechs Frauen ihre Köpfe zusammensteckten und hitzig darüber diskutierten, wie sie vorgehen sollten, rückten auch ihre Willensblasen näher zusammen. Eva und Becky vertraten die Meinung, alle Menschen mit Laras Wissen aufzuklären, was dazu führte, dass ihre Blasen so nah zueinanderkamen, dass ihre Grenzen miteinander verschwommen. Für diesen Moment schien ihr Wille eins zu werden, und eine große, leuchtende Blase formte sich.
Bis Franziska betonte, dass man Lara damit einer Gefahr aussetzte, die nicht abzusehen war. Eva stimmte ihr im Gegenteil zu Becky zu, und schon poppten ihre Blasen wieder auseinander
.
Nun beobachtete Lara, wie Evas Blase sich hin zu Franziskas Blase ausdehnte und für einen Moment eins mit ihr wurde. So ging es eine Weile hin und her. Lara lauschte schon gar nicht mehr den Ideen und Vorschlägen der Frauen. Viel zu fasziniert war sie von dem Anblick. Schließlich fanden sich alle sechs Blasen in einer einzigen zusammen, die stark und golden leuchtete. Lara betrachtete sie lächelnd. Sie war wunderschön.
»Lara?«
Sie sah zu Eva, die sie fragend musterte. »Wir finden eine Lösung.«
»Davon bin ich überzeugt.«
An diesem Abend versuchte Lara, vor dem Schlafengehen ihren eigenen Willen zu sehen. Sie hatte schon oft einen Blick in den Spiegel geworfen, aber nie etwas entdeckt. Nun versuchte sie, sich ganz auf sich zu konzentrieren. Starrte auf die Stelle über ihrem Kopf, bis ihr fast schwindlig wurde. Sie konnte nichts erkennen. Nicht einmal ein leichtes Flirren. Vermutlich spiegelten sich Willensblasen nicht.
Dabei hätte Lara an diesem Abend mehr denn je gern gewusst, was in ihrer Willensblase war.