Weihnachten
»Kein Baum!«, erklärte Marc zum dritten Mal.
»Aber Tonka will unbedingt einen.«
»Der ganze Wald ist voll mit Bäumen. Soll sie doch da einen schmücken.«
Tonka sah Marc mit großen Augen an.
Der musterte sie. »Ein Baum stirbt, wenn du ihn abhackst«, sagte er.
Tonka erschrak. »Ihr bringt eure Bäume um? Für Weihnachten?« Jetzt wanderte ihr vorwurfsvoller Blick zu Lara.
»Ich nicht!«, sagte diese verteidigend. »Mein Vater hat nie einen Baum gekauft, und Ayse hat nie gefeiert.«
»Wir schmücken einen draußen«, entschied Tonka, packte den bereitgestellten Karton mit Deko und verschwand nach draußen.
Lara sah ihr nach und musterte Marc dann. »Hast du wirklich Mitleid mit Bäumen?«
»Ich habe keinen Bock auf Tannennadeln.«
»Du manipulierst sie«, stellte Lara amüsiert fest.
»Du hattest noch nie einen Weihnachtsbaum?«, konterte er.
»Nein. Aber glaub mir, wenn meine Tochter alt genug ist, kriegt sie einen.«
Einen Moment lang schwieg er nachdenklich.
»Was ist?«
»Ich habe es immer gehasst, wenn hier viele Leute waren. Mit einer Schwangeren, einer Außerirdischen und einer Katze, die keine Katze ist, lässt es sich aushalten.«
Lara grinste. »Irgendeine Nachricht von Leo?«, fragte sie dann.
Sie hatte genau wie Ayse versucht, Leo zu kontaktieren, damit er und Malik zu Weihnachten auch hierherkämen. Aber Leo meldete sich nicht.
»Wahrscheinlich pleite. Und jetzt traut er sich nicht, hier aufzukreuzen.«
»Ayse hat Malik zu ihm geschickt. Vielleicht schaffen sie es, an Silvester herzukommen. Wir müssen jetzt noch das Wichtigste planen.«
»Fängst du wieder mit deiner Mummelsee-Befreiungsaktion an?«
Die war bisher an der Entschlossenheit der Polizei gescheitert. Die fünf Damen und Lara hatten es nicht mal mehr in die Nähe des Sees geschafft.
»Darum kümmer ich mich nach Weihnachten. Jetzt geht es um die Frage, was wir an Weihnachten essen.«
Es gab einen Mix aus Gemüse und Tofubällchen. Und einen Mix aus Glück und Traurigkeit. Während Lara von ihren engsten Freunden umgeben war, dachte sie an Timo. Es wäre ihr erstes gemeinsames Weihnachten gewesen. Auch wenn Lara nie sonderlich gläubig gewesen war, so war Weihnachten für sie dennoch ein Fest der Gemeinsamkeit. Trotz ihrer Freunde blieb da diese leere Stelle in ihr. Es ging ihr besser, wenn sie sich ablenken konnte. Mit Schule, Lernen, Arbeiten in der Apotheke ... und der Musik.
Ayse hatte ihr das gemeinsame Lied geschenkt. Obwohl Ayse betonte, dass es noch nicht das richtige Instrument sei, war die Wirkung der Melodie unfassbar. Schon bei den ersten Tönen hatte Lara alles vor Augen, das sie mit Ayse je erlebt hatte. Während sie mit ihr der Melodie lauschte, sah sie deutlich, wie Ayses Willensblase noch stärker leuchtete als ohnehin schon.
In dieser Blase sah Lara ihre Freundin hier. In diesem Hotel. Einige Kinder standen vor ihr und hörten zu, während Ayse ihnen für Lara unverständliche Dinge erzählte. 
Als sie ihr Essen beendet hatten und Ayse und Tonka nach draußen gingen, um den geschmückten Baum zu bewundern, kam ein überraschender Gast zu ihnen. Karin stand mit einem großen Geschenk in der Eingangshalle.
»Fröhliche Weihnachten«, rief sie und umarmte Lara, während sie in Tränen ausbrach.
Lara hielt sie ganz fest. Karins Körper bebte, während sie sich an ihre Nichte klammerte. Das erste Weihnachten ohne Mila. Lara konnte sich nicht vorstellen, wie es im Hexenhäuschen sein musste. Schließlich räusperte sich Karin und machte sich los.
»Warum bist du nicht bei Jo?«, fragte Lara.
Karin lächelte, aber ihre Augen waren traurig. Sie trug den schwarzen Galat an einem Lederband um ihren Hals. Lara sah, wie die Energie des Steins auf sie überging. Sie zu beschützen schien. Vor dem ganz tiefen Fall. »Der kriegt gar nicht mehr mit, ob ich da bin. Die Jungs sind vorbeigekommen. Wollten eine Jamsession machen. Um uns beide von Mila abzulenken. Jo hat nicht mal reagiert. Ich habe sie wieder weggeschickt, aber sie wollten bleiben. Sie sitzen jetzt bei uns und machen Musik. Ich habe es einfach nicht ausgehalten. Und bin weg.«
Lara dachte an Jo und wünschte sich mehr denn je, mit diesem Leo zu sprechen. Was würde geschehen, wenn man ihre Gaben miteinander verband? Würden sie den Menschen helfen können? Wenn jemand durch Musik geheilt werden konnte, dann Jo.
Sie sah zu Styx, die scheinbar unbeteiligt neben ihr lag. Hatte sie geahnt, was auf sie zukam? Und Lara auch deshalb ihre Gabe anvertraut?
Als Ayse mit Marc und Tonka zurückkam, sah Lara ihre Freundin an. »Ruf Malik noch einmal an. Er muss diesen Leo hierherschaffen. Sag ihm, dass Marc auf sein Geld verzichtet.«
»Tue ich nicht.«
»Doch, tut er«, erwiderte Lara unbeirrt. »Leo hat etwas Wichtigeres als Geld.«