»Und ich sitz schon wieder barfuß am Klavier«
Henning May
Malik stand vor dem Haus. Er starrte auf Leos Namen auf dem Klingelschild. Er war nervös. Seit Ayse ihn beauftragt hatte, zu Leo zu gehen und herauszufinden, was zur Hölle der trieb.
Warum ausgerechnet er?
Dann sollte er auch noch mit ihm zusammen nach Sasbachwalden kommen. Von allen Ideen, die seine verrückte Schwester bisher gehabt hatte, war das die schlimmste. Allein die Fahrt dauerte acht Stunden. Acht Stunden neben Leo.
Seine Schwester hatte ihn zu diesem Projekt dazugeholt, weil sie wollte, dass Malik wieder Melodien hörte. Dumm nur, dass Malik dafür viel zu abgelenkt gewesen war.
Er klingelte. Es dauerte eine Weile, bis Leos Stimme durch die Gegensprechanlage knirschte.
»Ja?«
»Malik hier.«
Und noch mal dauerte es einen Moment, bis der Türöffner erklang.
Malik ging die Stufen bis zu Leos Wohnung hoch. Die Tür war nur angelehnt.
»Komm rein! Ich spiele gerade eine neue Melodie.«
Malik trat ein und schloss die Tür hinter sich.
Leo fuhr sich durch das ungekämmte Haar. Er hatte einen Dreitagebart und hockte barfuß vor seinem Klavier. »Ich weiß, ich habe mich nicht gemeldet.
Wahrscheinlich hat deine Schwester dich als Suchtrupp losgeschickt, was?«
Malik ging langsam näher. »So ähnlich. Weißt du schon, dass sie jetzt einen Alien kennengelernt hat?«
Erstaunt sah Leo auf. »Die sind wirklich hier?«
»Ein blinder Passagier, wenn ich alles richtig verstanden habe. Darfst du niemandem erzählen.«
»Abgefahren.« Leos Blick glitt ins Leere, ehe er nachdenklich weitersprach. »Und genauso abgefahren, dass dieser Marc der Marc ist, der meine Software erstellt hat. Ich wollte ihn bezahlen. Echt. Ich bin nur total pleite.«
»Lara lässt dir ausrichten, dass du nichts bezahlen musst.«
Leo sah überrascht auf. »Oh. Echt? Aber er hat das Programm schon geliefert.«
»Kann es den Klang machen, den du gesucht hast?«
»Nein. Aber ich habe da was aufgetan. Und dafür ist meine ganze Kohle draufgegangen. Wenn ich dir das erzähle ... Willst du was trinken?«
Malik lächelte und sah dabei zu, wie Leo an seinem mit dreckigen Geschirr voll stehenden Spülbecken zwei Gläser putzte und sie mit Leitungswasser füllte. Er beobachtete jede seiner Bewegungen. Starrte auf seinen nackten Rücken, auf dem er jeden Muskel erkennen konnte.
Mit zwei vollen Gläsern kam Leo zu ihm zurück. Malik trank eilig.
»Ich hatte meinen Lehrer kontaktiert. Also, meinen alten Lehrer. Aus der Schule. Und der ...« Leo brach ab und musterte Malik. »Alles okay?
«
Er hat es gemerkt
, schoss es Malik durch den Kopf. Weil ich ihn so anstarre.
Malik hustete, weil er sich am Wasser verschluckt hatte.
Leo trat nah an ihn heran und klopfte ihm auf den Rücken. »Besser?«
Malik machte sich hektisch los. »Fass mich nicht an!«, rief er und ging ein Stück zur Seite, während Leo ihn verwundert ansah.
»Habe ich dir was getan?«
»Warum springst du hier halbnackt rum?«, konterte Malik wütend.
Leo stutzte. Dann kam er langsam näher. »Warum stört dich das?«
»Ist egal. Ich gehe jetzt.«
»Aber du sollst mich doch mitnehmen? In den Schwarzwald. Deshalb bist du hier, oder?«
Malik drehte sich um. »Du weißt es?«
»Ich kann Ayses SMS lesen. Ja.«
»Warum antwortest du dann nicht?«
»Ich hatte keine Kohle, um Laras Kumpel zu bezahlen. Das war mir peinlich.«
»Dann weißt du ja jetzt Bescheid und kannst zu ihr fahren. Pass nur auf wegen Cem. Der ist mega eifersüchtig.« Malik floh regelrecht zur Tür. Leo stellte sich ihm in den Weg.
»Gibt keinen Grund, eifersüchtig zu sein. Ich stehe nicht auf Ayse.« Dabei sah er Malik tief in die Augen. »Ich steh auf jemand anderen. Aber er ist viel zu jung für mich. Außerdem hasst er mich die meiste Zeit. Und er ist bestimmt weder schwul noch bi, weil er ein totaler Macho ist.
«
Maliks Atem ging schwer.
»Und weil er Türke ist. Ich kenne seine Familie nicht. Vielleicht denkt er, dass das ein Problem ist. Vielleicht denkt er, dass schwul sein ein Problem ist.«
»Was laberst du da?«, schrie Malik wütend, als Leo ihn packte, an sich zog und küsste.
Malik war so überrumpelt, dass er sich nicht wehrte. Er spürte Leos nackten Oberkörper, seine Hände glitten wie von selbst über seinen Rücken. Er küsste ihn unbeholfen und stürmisch.
Bis sich sein Kopf wieder einschaltete.
Er stieß Leo von sich. »Ich habe doch gesagt, du sollst mich nicht anfassen«, flüsterte er und rannte an Leo vorbei zur Tür.
Und diesmal ließ dieser ihn gehen.
Als Malik unten auf der Straße angekommen war, atmete er tief durch. Dieser Kuss war alles, was er seit Wochen gewollt hatte. Wogegen er sich gewehrt hatte. In der Überzeugung, dass Leo auf Ayse stand. Mit dieser Attacke hatte er null gerechnet. Er war sich total sicher gewesen, dass Leo auf Mädchen stand. Er wünschte so sehr, dass er selbst auf Mädchen stand. Aber die hatten ihn nie interessiert. Was er gekonnt verheimlicht hatte. Niemand wusste von seinen Träumen. Von seinen Neigungen. Nicht mal seine Schwester.
Da war noch etwas anderes, vor dem Malik weggerannt war. In dem Moment, als er Leo geküsst hatte, hatte er sie gehört! Seine Melodie! So klar und deutlich, wie er sie seit seiner Kindheit nicht mehr gehört hatte. Und nicht nur seine. Auch Leos Melodie war klar und deutlich gewesen. Ihre Töne hatten sich perfekt
ineinander verwoben. Waren eins geworden. Das Schönste, das Malik jemals gehört hatte.
Aber Malik war nicht so mutig wie Ayse. Er konnte sich nicht blind in etwas hineinstürzen. Er brauchte Zeit. Deshalb war er fortgerannt. Und deshalb konnte er jetzt kaum atmen, weil ihm ein unbekannter Schmerz die Brust zusammenzog. Verliebtsein war doch Mist. Er verstand nicht, was Ayse so toll daran fand.