»Bleibt alles anders«
Herbert Grönemeyer
Lara stand vor dem Spiegel und starrte auf die Stelle über ihrem Kopf. Wieder versuchte sie, ihre Willensblase zu entdecken. Und diesmal sah sie etwas. Erst nur ein Flirren, dann nahm eine wunderschöne, schimmernde Blase Konturen an. Lara lächelte nervös. Ein Bild wurde deutlich, in dem sie sich selbst sah. In ihrem Blick lag keineswegs Freundlichkeit. Sie war wütend. Und sie schrie sich selbst an. Lara wich zurück, aber nun sah sie die Willensblase direkt vor sich selbst und nicht mehr über sich. Ihr eigenes Bild wurde größer. Sie wuchs über sich selbst hinaus und schrie sich mit einem derart hasserfüllten Gesicht an, dass Lara Angst bekam. Angst vor sich selbst. Sie konnte nicht hören, was sie sich an den Kopf warf. Das war auch gar nicht nötig. Als die Willensblase noch größer wurde, drehte Lara sich um und wollte davonrennen. Doch plötzlich war sie selbst in der Blase. Ihr Spiegelbild stand über ihr wie in den Blasen der Zwillinge. Sie holte zum Schlag gegen sich selbst aus ...
... und erwachte schweißgebadet. Automatisch wanderte ihre Hand an den runden Bauch. Eine Geste, die sie nach ihren Albträumen stets zurück in die Realität brachte.
In den letzten fünf Monaten hatten die Albträume zugenommen. Fast jede Nacht träumte Lara von ihrem Kreis der Sieben, dessen Erschaffung von einer
Person zerstört wurde. Oder sie träumte von einer überdimensionalen Willensblase, in der sie auf sich selbst losging.
Lara zog sich an und ging hinunter in den Eingangsbereich. Dort kam ihr Marc mit einer Brötchentüte entgegen.
»Gab es noch welche?«, fragte Lara hungrig.
»Ich bin extra um fünf aufgestanden, um für mein Scuti was abzukriegen. Sonst knabberst du irgendwann noch mich an.«
Lara grinste schief. Ihr andauernder Hunger war wirklich enorm. Eigentlich könnte sie die ganze Zeit mit Essen verbringen. Marcs Kosenamen Scuti hatte sie nichts mehr entgegenzusetzen. Ihr Körperumfang hatte unfassbare Dimensionen angenommen. Niemals hätte sie gedacht, dass ihr Bauch sich derart weiten könnte. Mittlerweile war es Mai, und laut Dr. Schönenberger würde Johanna nicht mehr lange auf sich warten lassen. Auf dem letzten Ultraschallbild sah es so aus, als würde sie Lara zuwinken.
Lara war froh, dass Dr. Schönenberger nicht von dem Depri-Virus
befallen war, wie ihn die Presse mittlerweile nannte. Die ganze Welt war davon befallen. In den letzten fünf Monaten hatten 70 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ihren Job aufgegeben. Sie waren einfach nicht mehr gekommen. Jegliche Energie schien ihnen abhanden gekommen zu sein.
Zunächst war die Entwicklung noch schleichend vonstatten gegangen. Nach dem Silvesterfest war Lara noch ganz normal zur Schule gegangen. Das erste Mal aufgemerkt hatte sie, als Frau Wagner eine Woche nicht zum Unterricht gekommen war. Zunächst hieß
es noch, sie habe eine Grippe. In der zweiten Woche machte der Flurfunk aus der Grippe bereits eine Depression, und in der dritten Woche hatte man schlicht nichts mehr von der Lehrerin gehört. Ein anderer Lehrer hatte die Vertretung übernommen, bis auch der nicht mehr bei der Arbeit erschienen war.
Auch in anderen Berufszweigen machte sich eine Veränderung bemerkbar. Als Lara die ersten Babyklamotten einkaufen gegangen war, waren ihr einige leere Regale in den Läden aufgefallen. Lieferschwierigkeiten, wurde ihr mitgeteilt. Die bestimmt bald wieder behoben sein würden. Aber das wurden sie nicht. Die Regale wurden leerer. In Klamottengeschäften, in Supermärkten, sogar die Bäckereien hatten Lieferschwierigkeiten.
An einem Tag wollte Marc tanken, aber die Tankstelle hatte zu. An einem anderen wollten sie in den Drogeriemarkt, in dem nur noch ein Angestellter war. Auf diese Weise veränderte sich die ganze Welt.
Die Menschen verloren ihren Lebenswillen. Sie sahen keinen Sinn mehr in ihrem Tun, hatten sämtliche Energie verloren. Selbst von den Verschwörungstheorien, die den Hass und die Angst der Menschen angestachelt hatten, war nichts mehr übrig. Die Zugänge der Welt wurden weiter bewacht, aber man wusste längst nicht mehr, wovor. Irgendetwas hatte die Menschen gelähmt.
Lara schnupperte in die Tüte der Bäckerei.
»Es war die Hölle los«, berichtete Marc. Jeden Morgen stand er um fünf auf, um vor den Läden zu warten, wenn die Lebensmittel eintrafen.
Die Zulieferer der Supermärkte waren auf ein Minimum geschrumpft, es gab Tage, an denen überhaupt nichts mehr gebracht wurde. Etliche Restaurants hatten bereits geschlossen. Sasbachwalden und die umliegenden Dörfer und Ortschaften glichen zunehmend Geisterstädten. Marcs Angst, dass die Leute mit dem Plündern anfangen würden, bestätigte sich jedoch nicht. Sie hatten nicht die Kraft dazu.
Wer noch Kraft hatte, verschwendete seine Energie damit, einen Schuldigen zu suchen.
So oft war Lara mit Evas Freundinnen zum Mummelsee gegangen. Sie hatten versucht, mit den Wächtern zu reden. Wollten sie davon überzeugen, die Zugänge wieder freizulegen. Währenddessen hatten sie die Masse an Steinen analysiert und waren doch immer nur zu dem Ergebnis gekommen, dass es unmöglich war, den See mit ihren Möglichkeiten von den Steinen zu befreien. Die Wächter waren von Mal zu Mal aggressiver geworden. Beim letzten Versuch, mit ihnen ins Gespräch zu kommen, war einer von ihnen auf Lara losgegangen. Genau wie damals im Hotel. In seinen Augen die pure Angst. Und Hass. Lara war seit diesem Vorfall nicht mehr dort gewesen.
Sie wusste keinen Rat. Styx war seit Silvester verschwunden, und sie hatte zu hoffen aufgehört, dass sie jemals zurückkam. Mit ihr war auch die Hoffnung gegangen. Eine Welt ohne Styx konnte nur grauer und grauer werden.
Im Hotel kam es Lara wie eine kleine Oase vor. Hier drang all das Negative nicht ein. Der Fernseher war längst ausgeschaltet, nachdem einige Sender
eingestellt worden waren. Nur sporadisch gab es noch Nachrichten. Aber hier, mit Marc und Tonka, fand Lara zur Ruhe. Hier fühlte sie sich sicher. Außerdem fuhr sie mit Marc mindestens zwei Mal die Woche zum Steinlädele
. Sie ließ sich die Wirkungen der verschiedenen Steine erklären und hatte mittlerweile selbst eine große Sammlung. Das Ehepaar, das den Laden gemeinsam führte, war ein fester Bestandteil von Laras Leben. Die beiden spiegelten sich in ihrer jeweiligen Willensblase und schienen auch deshalb von der Depression verschont. Lara hatte jedoch den Eindruck, dass es auch das Lädele
selbst war, das sie davor schützte. Bei so viel Energie konnte der Wille gar nicht untergehen.
Sie frühstückte mit Marc, während Tonka bereits draußen im Garten war. Sie hatte sich zu einem Multitalent in Sachen Landwirtschaft entwickelt und Marcs Garten zu einem Gemüsebeet umfunktioniert. Wenn es so weiterginge, wäre dies ihre Überlebenschance.
Als Marc sie an der Schule absetzte, betrachtete Lara mit mulmigem Gefühl den leergefegten Pausenhof. Mittlerweile waren etliche Klassen zusammengelegt, weil längst nicht mehr genug Schüler und Lehrer da waren, um die alten Klassen zu füllen. Jeden Tag wurden es weniger.
Cem und Lara trafen sich jeden Morgen vor dem Haupteingang, um noch ein bisschen zu reden. Obwohl er die Schule kaum noch schaffte. Seine Eltern verließen das Bett nicht mehr, und Cem hatte alle Hände voll zu tun, um sich um sie zu kümmern. In Ayses Familie sah es ähnlich aus. Ihre Freundin, Malik und Begüm waren energiegeladen wie eh und je. Aber
die anderen Brüder samt Ayses Vater verließen die Wohnung nicht mehr.
Sie stieg aus dem blauen Mercedes und ging auf den Haupteingang zu. Obwohl sie an diesem Morgen zu spät war, stand Cem nicht an ihrem Treffpunkt. Während Marc weiterfuhr, wartete Lara und sah angespannt auf, als die Zwillinge auf sie zukamen. Tamara und Jonas waren von dem Virus noch nicht befallen, was Lara wunderte. Ihr war aufgefallen, dass gerade die Menschen, die zwei Willensblasen hatten, als Erstes ihren Willen verloren. Menschen mit einer Willensblase blieben von der ganzen Entwicklung bisher unberührt.
Die beiden gingen direkt auf Lara zu.
»Na? Wo ist dein Türke?«, wollte Jonas wissen.
Lara antwortete nicht.
»Wir wissen Bescheid. Über dich«, fing Tamara an. »Du bist nicht aus Berlin. Du kommst von den anderen Welten. Du verhext hier alle mit deinem Gelaber über den Willen. Und hast nicht nur Timo umgebracht, sondern auch die kleine Mila!«
Lara konnte nicht glauben, was sie da hörte.
»Das ist so ein Schwachsinn«, murmelte sie und trat einen Schritt zurück.
Die Zwillinge folgten ihr. »Du bringst die Menschen dazu, alles aufzugeben. Damit du und deine Leute hierherkommen könnt. In dir wächst schon das nächste Alien heran!«
»Spinnt ihr?«
Tamara stieß Lara ein Stück nach hinten. »Aber das erlauben
wir nicht!«
Sie starrte Tamara in die Augen, während Jonas sie am Arm packte. »Unser Vater findet, dass wir die Geburt deines Kindes verhindern müssen!«
Lara wurde heiß. Sie wand sich aus Jonas’ Griff, aber Tamara boxte gegen ihren Bauch. Lara ging in die Knie, beugte sich nach vorn, um ihr Kind zu schützen. Sie spürte einen Fußtritt. Und noch einen. Sie schrie vor Schmerz und Angst, als sie eine Stimme hörte.
»Aufhören! Sofort!«
Noch einmal erwischte sie ein Tritt, dann wurden die Zwillinge von jemandem weggezerrt.
»Ich rufe die Polizei!«
»Sie kriegt ein Alien!«
»Ich untersuche sie schon seit Monaten. Und ich weiß mit Sicherheit, dass sie einen Menschen kriegt!«
Lara sah auf.
Dr. Schönenberger stand vor ihr und hatte die Zwillinge fest im Griff. »Verschwindet. Oder ich vergesse mich.«
Die Zwillinge musterten Lara böse, gingen dann aber.
Dr. Schönenberger half ihr auf. »Komm mit.«
Lara setzte sich auf den Untersuchungsstuhl, während ihr die Tränen übers Gesicht liefen. Sie zitterte am ganzen Körper. Dr. Schönenberger hielt ihre Hand, während sie mit dem Ultraschall Laras Bauch entlangfuhr.
»Ist Johanna okay? Geht es ihr gut?«
Noch einige Sekunden vergingen, die Lara wie die längsten Sekunden der Weltgeschichte vorkamen. Dann endlich legte sich das vertraute Lächeln auf
das Gesicht der Ärztin. »Es geht ihr gut. Alles in Ordnung. Keine Blutungen.«
Doch auch das konnte Laras Tränen nicht stoppen. »Die hätten Johanna umgebracht. Und mich auch!«
»Du solltest Anzeige erstatten.«
»Ihr Vater ist mit dem Polizeichef befreundet.«
»Lara, wir sind hier nicht in irgendeinem Mafiafilm. Die beiden sind auf dich los, und ich habe es gesehen. Wir können jetzt gleich zur Polizei.«
Lara stand wackelig auf. »Ich will einfach nur nach Hause.«
Dr. Schönenberger brachte sie nach Sasbachwalden und berichtete Karin über das Vorgefallene. Auch die war der Meinung, dass Lara die Zwillinge anzeigen sollte, und rief trotz Laras Protest die Polizei. Die Beamten nahmen eine Anzeige auf und versprachen, der Sache nachzugehen. Lara fühlte sich keineswegs besser. Sie wusste nur, dass dies der letzte Schultag für sie gewesen war.
Nachdem sie sich bei Dr. Schönenberger bedankt hatte, fuhr die Ärztin zurück, versprach aber, jeden Tag bei Lara vorbeizuschauen. Lara trank noch einen beruhigenden Tee, als Tonka mit einer Ladung frischer Kräuter eintraf. Ihre Verwandlung war mittlerweile fast abgeschlossen. Sie hatte sich zu einer schönen Frau entwickelt, die nur noch durch ihre ungewöhnliche Hautfarbe auffiel. Als Tonka Lara sah, ließ sie erschrocken ihre Kräuter stehen und kam zu ihr.
»Ich hole Marcs Gewehr und halte das den beiden vor die Nase!«, rief sie wütend, als Lara ihr alles erzählt hatte. Von der friedfertigen, farbenwechselnden
Außerirdischen war im Moment wenig übrig. Sie erinnerte Lara mehr an die Krieger.
Tonka hatte ihr erklärt, dass sie so etwas wie Familien auf ihrer Welt nicht kannten. Sie waren alle von derselben Mutter geboren. Marc, Lara, Karin, Ayse und Cem ... sie alle hatten sich zu einer skurrilen Patchwork-Familie entwickelt, und Tonka hatte sich irgendwann als Familien-Fan geoutet. Jetzt erkannte Lara, was aus Tonka wurde, wenn jemand diese Familie bedrohte.
»Genug davon«, fand Karin mit einem besorgten Blick in Laras Gesicht. »Ich schlage vor, wir widmen uns Tonkas Lieferung und machen neues Öl. Auch wenn du eigentlich nicht mehr arbeiten solltest.« Sie musterte Laras riesigen Bauch.
Lara stand auf und atmete tief durch. »Aber dann bist du alleine hier.«
Jos Zustand hatte sich, wenn das überhaupt noch möglich war, verschlimmert. Er verließ das Bett nur, um das Nötigste zu verrichten. Ansonsten lag er lethargisch herum und hatte nicht einmal mehr die Kraft, aufzustehen und sich etwas zu essen zu machen.
Was nicht der einzige Grund war, warum Lara so lange wie möglich in der Apotheke mithelfen wollte. Ihre Gabe, den echten Willen der Menschen zu lesen, hatte sich herumgesprochen. Und wenn es ihr gelang, die Menschen auf ihren wahren Willen aufmerksam zu machen, dann verformten sich die zwei Willensblasen zu einer und der Mensch war vor der Depression sicher. Lara hatte es bei Marc mit eigenen Augen gesehen. Allerdings war diese Veränderung ohne ihr bewusstes Zutun geschehen. Irgendwann war er mit
nur noch einer Willensblase aufgestanden. Das Bild, das sie selbst mit ihm zusammen zeigte, war weg. Aus irgendeinem Grund hatte Marc aufgehört, sie zu wollen. Was Lara einen verdächtigen Stich versetzt hatte. Natürlich überwog die Freude, dass er mit nur einer Willensblase vor dem Virus sicher war. Denn wenn der einmal zugeschlagen hatte, konnte auch Lara nichts mehr tun.
Ab diesem Zeitpunkt kam Karins Gabe zum Einsatz. Johanniskraut, Baldrian, Melisse, Lavendel ... all diese Kräuter zögerten die Krankheit hinaus. Karin hatte einiges davon im eigenen Garten, mittlerweile aber wanderte sie von Ort zu Ort, um dort ebenfalls zu ernten. Sie kamen der Nachfrage kaum hinterher.
Die Kräuter wurden getrocknet oder direkt zu Öl verarbeitet. Lara stellte fest, dass ihr diese Arbeit gefiel, sie regelrecht darin aufging. Sie hatte die Menschen immer beneidet, die genau der Tätigkeit nachgingen, die sie glücklich machte. War es ihre Bestimmung, eine Kräuterhexe zu werden? War ihre Blase ein Spiegelbild ihres Lebens? An die Ausbildung war im Moment nicht zu denken. Die Schule, an der sie ihre Ausbildung absolvieren wollte, stand kurz vor der Schließung. Das war eine ihrer kleinsten Sorgen. Schließlich hatten sie alle zusammen in der Apotheke genug zu tun. Die Frage war, wie lange sie noch mit allem Lebensnotwendigen versorgt werden konnten.
Auch in den Krankenhäusern kam es zu langen Wartezeiten. Lara konnte nur hoffen, dass eine Hebamme für sie bereit war, wenn Johanna geboren wurde.
Karin hatte ihr längst angeboten, wieder in das kleine Hexenhaus zu ziehen. Aber Lara hatte ihr Zuhause
gefunden, und auch Karin kam gern bei ihnen vorbei, wenn sie mit Jos Zustand nicht klarkam und eine Pause brauchte. Der ganzen Situation zum Trotz hatten sie sich parallel in die Renovierung des Hotels gestürzt. Die Hälfte der Zimmer hatten sie bereits renoviert. Lara hatte einen Teil ihres Erbes investiert. In ein paar Monaten würden sie die Zimmer vermieten können. Allerdings hatte Marc zu Recht die Befürchtung, dass dann niemand mehr an einer Reise interessiert wäre. Die Lage der Ein- und Ausgänge hatte eine Weile dazu geführt, dass viele Schaulustige gekommen waren. Als die Angst überwogen hatte, war niemand mehr gekommen. Aber falls nach der Geburt von Johanna ein Besuch des Jugendamts stattfinden würde, wollte Lara ein schönes Zuhause vorweisen könnten.
Ihr Plan, die Menschen mit Leos Musik zu erreichen, war gescheitert, da Leo immer noch verschollen war. Er hatte Ayse irgendwann noch eine SMS geschickt, dass er jemanden Bestimmten suchte und sich wieder bei ihr melden würde. Seitdem hatte Ayse nichts mehr von ihm gehört und konnte ihn telefonisch nicht erreichen. Mittlerweile gab es immer häufiger Netzausfälle, sodass man nicht sagen konnte, ob Leo nicht erreicht werden konnte oder nicht erreicht werden wollte.
Tonka stellte ihre neueste Ernte auf dem Tisch im kleinen Labor ab. Etliche gelbe Blüten von Johanniskraut.
»Wunderbar!«, rief Karin. »Und wieder
eine so gute Qualität.«
Nachdem sie zu dritt etliche Flaschen mit Öl vorbereitet hatten, die nun einige Tage stehen mussten, ehe sie filtriert werden konnten, holte Marc sie ab.
Während Tonka Marc aufgebracht von den Ereignissen an der Schule berichtete, schleppte Lara sich auf die Rückbank, wo schon seit Wochen die gepackte Krankenhaustasche lag. Wenn es um das Thema Geburt ging, bekam Marc regelmäßig Schweißausbrüche. Er machte sich solche Sorgen, nicht rechtzeitig im Krankenhaus zu sein. Ein Ersatzbenzinkanister stand bereit, falls er nicht genug getankt haben sollte oder die nächstgelegene Tankstelle auch dichtmachte. Tonka machte sich ausgiebig darüber lustig. Die Tatsache, dass er sich solche Sorgen um die Geburt machte, konnte Tonka nicht nachvollziehen. Für sie ging das Leben seinen Weg. Die Vorstellung, dies kontrollieren zu können, war für sie einfach zu abwegig.
Lara machte sich nicht über Marc lustig. Auch sie war nervös. Im Geburtsvorbereitungskurs hatte sie alles Mögliche gelernt. Wie würde die Praxis aussehen? Wie schlimm würden die Schmerzen sein? War sie wirklich in der Lage, Johanna aus sich herauszupressen? Es konnte so viel schiefgehen, was Tonkas andauernde Recherche zu diesem Thema immer wieder bestätigte. Mehr als die Geburt ängstigte Lara noch die Vorstellung der Zeit danach.
Alles anders.
So beschrieben Eltern ihr Leben nach der Geburt ihres Kindes. Es war diese Komponente, die Lara Sorgen bereitete. Was würde anders werden? Sie? Ihr Leben? Johanna war dann
auf der Welt. Würde schreien, Hunger haben, alles lernen müssen, und Lara hoffte, dass sie ihr alles beibringen konnte, was ihre Tochter brauchte.
Aber würde sie sich auch verändern? Würde sie auch anders sein? Was würden die veränderten Umstände aus ihr machen?
Alles anders
war eine Variable, die Lara nicht einordnen konnte und die sie in stillen Nächten am meisten beschäftigte. Die Angst war zuvor nicht so groß gewesen. Aber nun, da die ganze Welt sich veränderte und sie in Zukunft vielleicht sogar als Selbstversorger enden würden, wenn sie keine Hilfe fanden, fühlte sich Lara beim Gedanken an die kommende Verantwortung manchmal überfordert. Gemeinsam mit Timo hätte sie darüber reden können. Sie hätte ihre Ängste mit ihm geteilt, und sie war sich sicher, dass Timo sie beruhigt hätte. Mit Karin wollte sie nicht darüber reden, da sie befürchtete, Erinnerungen an Mila hervorzurufen. Tonka konnte sich mit all ihrem angelesenen Wissen nicht in Laras Situation hineinfühlen, und Marc würde sie mit ihren eigenen Ängsten nur noch mehr Sorgen bereiten. So gab sie nach außen hin die selbstbewusste werdende Mama, die sich keine Sorgen machte und alles auf sich zukommen ließ.
Dabei wünschte sie sich, die Schwangerschaft würde andauern. In ihrem Körper war Johanna sicher. Lara musste nichts weiter tun, als sich gesund zu ernähren und ausreichend zu schlafen. Damit tat sie für ihr Kind schon alles Notwendige
.
Nachdem Marc sich ausgiebig über die Zwillinge aufgeregt und verdächtig oft das Gewehr seines Großvaters erwähnt hatte, parkte er den Wagen vor dem Hotel und sie stiegen aus. Es regnete an diesem warmen Maisonntag. Das Wasser lief Lara in die Flipflops.
»Lara, beeil dich. Du wirst ganz nass«, rief Tonka ihr zu, die bereits im Eingangsbereich des Hotels stand.
»Scuti braucht eben ihre Zeit«, witzelte Marc.
In diesem Moment fühlte Lara, wie etwas Warmes ihre Beine hinunterlief. Entsetzt sah sie Marc an. Er erfasste die Situation sofort.
»Wo ist die Tasche?«
Sie hörte seine Stimme dumpf. Nahm kaum die Aufregung darin wahr.
»Die ist schon seit Wochen im Auto«, rief Tonka belustigt.
»Lara! Mach schon!«
Jemand schob sie Richtung Auto. Ihre nasse Kleidung klebte an ihr. Die Tür des Wagens wurde geöffnet, und jemand schob sie auf die Rückbank. Sie hörte ein Bellen und sah aus dem Fenster, während Marc und Tonka vorn einstiegen. Susi stand vor dem Hotel und rannte zum Auto.
»Susi! Bleib!«, rief Marc und startete den Wagen.
Lara sah die Hündin an, die völlig aufgelöst war. Als wüsste sie, dass etwas passieren würde.
Während Marc den Mercedes um die Kurve lenkte und Gas gab, befahl er Tonka, schon mal im Krankenhaus anzurufen.
Erst da begriff Lara, was gerade passierte.
Es ging los
.
Sie würde ein Kind bekommen.
Der Wagen sauste um die Ecke und fuhr Richtung Baden-Baden. Aufgrund der vielen Arbeitsausfälle war es im Moment das nächste Krankenhaus, in dem noch gearbeitet wurde.
»Hast du schon Wehen?« Marc drehte sich zu Lara um.
Sie schüttelte den Kopf.
»Achtung!« Tonkas Stimme klang erstaunt.
Lara sah nach vorn. Der Wagen war aufgrund der nassen Fahrbahn ins Schlingern geraten und drohte, auf die linke Fahrbahn zu schlittern. Marc wollte korrigieren, doch das Auto gehorchte ihm nicht. Laras Hand umfasste den Türgriff, während Marc in die Bremsen stieg und dabei aufschrie. Es rumpelte, und mit einem lauten Knall war die Fahrt zu Ende.
»Nein! Nein! Nein!«
Jemand riss die Tür auf.
»Lara? Bist du okay?«
War sie kurz ohnmächtig gewesen? Sie sah sich um. Das Auto stand. Gequetscht an einen Baum. Tonka und Marc standen vor der offenen Tür. Unversehrt.
»Ich glaube schon«, murmelte Lara. Dann spürte sie einen Schmerz und schrie auf.
»Sie hat Schmerzen«, rief Marc.
Lara machte Anstalten, auszusteigen. Der Schmerz zog durch ihren Unterleib und einmal quer durch ihren unteren Rücken.
»Bleib sitzen! Wenn du was gebrochen hast, darfst du dich nicht bewegen.«
»Ich habe nichts gebrochen! Ich habe Wehen!
«
Sie schwang sich aus dem Auto und sackte in die Knie. Der Schmerz zog jetzt bis in die Beine, und gleichzeitig hatte sie das Gefühl, dass ihr dicker Bauch nach unten sackte. Sie konnte förmlich spüren, wie Johanna sich ihren Weg nach draußen bahnte.
»Scheiße!«, rief Marc. »Ich rufe den Notarzt!« Er nahm sein Handy und wählte, während Tonka sich neben Lara setzte.
»Was kann ich tun?«
Lara versuchte, sich an alles zu erinnern, was sie im Kurs gelernt hatte. Sie hechelte und atmete dann tief in den Bauch hinein.
Marc kam zurück. »Ich erreiche niemanden. Das Netz ist mal wieder tot.«
Lara spürte, wie die Panik in ihr aufstieg. »Versuch es weiter!«, schrie sie. War das wirklich ihre Stimme?
»Okay.«
Er versuchte es, während Lara von einer neuen Woge des Schmerzes erfasst wurde.
Zu schnell. Die Wehen kommen viel zu schnell
, dachte sie.
Auch diesmal nahm niemand Marcs Anruf entgegen.
Sie waren allein.
Lara atmete hektisch.
»Was macht sie?«, fragte Marc. »Ist es dieses Hecheln?«
»Sie hat Angst«, stellte Tonka fest.
»Sie kommt. Johanna kommt. Ich weiß nicht, was ich machen soll!«, rief Lara voller Angst. Ihr Herz raste. Kopflos stand sie auf und taumelte Richtung Auto.
»Wo willst du hin?
«
»Krankenhaus!«
»Das Auto ist Schrott!«
»Dann laufe ich halt.« Als eine erneute Wehe sie erfasste, blieb sie jedoch wieder stehen. Sie sank in die Knie und schrie auf.
»Was machen wir? Was machen wir?«, rief Marc im Hintergrund, was Laras eigene Ängste noch verstärkte.
Da spürte sie, wie jemand ihre Hand leckte. Warm und weich und voller Sabber.
»Susi?«, sagte Lara verwirrt. Die Hündin stand schwanzwedelnd vor ihr und winselte aufgeregt.
»Sie ist uns gefolgt«, stellte Tonka fest.
Lara schrie noch einmal auf. »Ich will einen Arzt!« Sie sah zu Tonka. »Du hast alle Bücher gelesen. Du weißt, was ich machen muss.«
Tonka beobachtete einen Moment die Hündin, ehe sie sich vor Lara hockte und ihr Gesicht in beide Händen nahm. »Du brauchst die Bücher nicht.«
Lara atmete hektisch. »Doch! Ich brauche sie. Und ich brauche einen Arzt!«
»Für alles habt ihr eure Bücher und Anleitungen und Spezialisten. Und das ist toll. Auf diese Weise kann man viel lernen. Aber eines habt ihr überhaupt nicht drauf. Bauchgefühl.«
»Ich scheiß aufs Bauchgefühl. Ihr Bauch ist viel zu dick!«, rief Marc hinter ihnen und wählte erneut.
Tonka winkte ab. »Hör nicht auf ihn. Bei Männern ist das noch viel schlimmer.«
»Aha«, wisperte Lara. Eine Wehe floss durch
ihren Körper.
»Wie würde Susi ihre Kinder auf die Welt bringen?«
Lara starrte verdutzt zu der Hündin. »Was?!«
»Wie würde sie es machen? Würdet ihr auch einen Arzt rufen und sie an tausend Geräte anschließen? Oder würde Susi es einfach ... machen?«
Lara fiel darauf keine Antwort ein.
»Verstehst du nicht, Lara? Du bist wie sie. Du weißt, was du zu tun hast. Es ist in dir angelegt.«
»In mir ist gar nichts angelegt! Aua!«
»Mach die Augen zu.«
Aber Lara atmete nur panisch.
»Augen zu!«
Sie schloss die Augen.
Tonka nahm ihre Hände. »Und jetzt atme tief und ruhig ein und aus.«
Sie atmete tief ein und aus.
»Weiter. Genau so.«
Sie atmete weiter. Ein und aus. Ein und aus. Ihr Herz beruhigte sich. Genau wie ihre Gefühle. Als eine neue Wehe kam, presste sie. Nicht aus ihrem Willen heraus, ihr Körper übernahm das Regiment und handelte automatisch.
»Was willst du tun?«, hörte sie Tonkas Stimme.
»Hocken. Ich will hocken.«
Tonka half ihr, sich in eine Position zu bringen, die sich gut anfühlte.
Marc kam zu ihnen gerannt. »Ich habe jemanden erreicht. In zwanzig Minuten sind sie da.«
Lara öffnete die Augen und sah Marc ins Gesicht. Blanke Panik. »Zu spät. Johanna kommt schon«, wisperte sie. Und
lachte.
Marc sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. »Dann halt sie noch drinnen!«
Bei dieser Vorstellung musste Lara noch mehr lachen. Sie presste und atmete weiter tief ein und aus. Überließ sich ganz ihrem Körper, ihrer Intuition. Das ganze Durcheinanderreden in ihrem Kopf wurde leiser, bis Lara nur noch ein Rauschen hörte. Für diesen Moment war sie eins mit ihrer Tochter. War eins mit der kleinen Johanna.
Der Schmerz war kaum auszuhalten, aber Lara nahm ihn gar nicht wahr. Ihre Hände glitten zwischen ihre Beine. Sie riss sich den Slip weg, hörte nur noch wie nebenbei Marcs protestierende Worte. Jemand legte ihr eine Decke hin, auf die sie sich setzte. Dann spürte sie, wie etwas Rundes und Nasses in ihre Hände glitt.
»Das Köpfchen! Ich kann es sehen!«, rief Tonka.
»Scheiße!«, sagte Marc.
»Da ist sie!«
Susi bellte aufgeregt.
Noch einmal pressen, und ein kleiner, warmer Körper glitt in Laras Hände. Sie kippte zurück auf den Boden, hielt den kleinen Körper fest.
»Was ist jetzt?« Marc klang völlig verwirrt, während Tonka lachte.
»Sie ist da! Johanna ist da! Mann, das war vermutlich die schnellste Geburt, die die Welt je gesehen hat!«
Lara öffnete die Augen und sah an sich hinunter. Sie blickte in ein kleines, verschmiertes Gesicht. Große Augen starrten sie an. Verwundert. Als sei sie sich noch nicht sicher, was hier gerade passiert war. Susi sprang um Lara herum und schnüffelte
aufgeregt.
Lara hatte nur Augen für das kleine Geschöpf auf ihrer Brust. Eine kleine Stupsnase, helles, nasses Haar klebte auf ihrem Köpfchen, die Ohren winzig, genau wie ihre Finger.
»Hallo«, sagte Lara lächelnd und wurde von einer Woge des Glücks erfüllt. Während sie in die leuchtenden Augen ihrer Tochter blickte, murmelte sie leise: »Willkommen auf dieser Welt, kleine Johanna.«
Der winzige Mund öffnete sich. Schloss sich dann noch einmal. Und während Johanna zur Seite sah und Susi ins Gesicht blickte, ging eine Anspannung durch den kleinen Körper, ehe sie ihren ersten, empörten Schrei von sich gab.
Tonka zog ihre Jacke aus und wickelte Johanna darin ein. Die Nabelschnur hing heraus. Verband Lara immer noch mit ihrer Tochter.
»Was machen wir damit?«, fragte Lara.
»Wenn sie nicht mehr pulsiert, können wir sie durchschneiden. Und dann auf die Nachgeburt warten.«
»Ähm, durchschneiden?«, echote Marc.
»Wir müssen sie abbinden. Ein Stück weg von Johannas Bauchnabel. Und dann noch mal ein Stück weiter davon.«
»Mit was denn?«
Tonka sah an Marc rauf und runter. »Deine Schnürsenkel.«
»Spinnst du?«
»Los. Schuhe aus.«
»Ich denke gar nicht
dran!«
»Marc!«
»Schon mal was von steril gehört? Hier ist überall Dreck. Wir können hier nichts abbinden und durchschneiden. Schon gar nicht mit Schnürsenkeln.«
»Ich habe das in einem Buch gelesen!« Tonka ließ nicht mit sich diskutieren, und schließlich zog Marc seine Schuhe aus. Sie schnappte sich die Schnürsenkel und band die Nabelschnur ab, als hätte sie noch nie etwas anderes getan. Lara hielt Johanna fest im Arm, die mit ruhigem Blick alles verfolgte.
»Und wo zauberst du jetzt eine Schere her?«, fragte Marc.
»Krankenhaustasche. Nagelschere.«
Grummelnd und barfuß ging er zum Auto und holte die Krankenhaustasche. Eine Minute später schnitt Tonka die Nabelschnur durch.
Dann wurde es still. Tonka und Marc saßen um Lara herum, die die kleine Johanna im Arm hielt. Sogar Susi verhielt sich ganz still und starrte auf Laras Tochter. Dem neuen Mitglied ihres Rudels. Tonka strahlte über das ganze Gesicht und strich vorsichtig über Johannas Gesicht.
Lara erwiderte ihr Strahlen. »Danke«, flüsterte sie.
Tonka lächelte verlegen. »Ich habe dich ganz schön angeschrien.«
»Wir haben beide geschrien.«
»Armer Marc«, frotzelte Tonka.
Als er nicht einmal konterte, drehten sie sich zu ihm um. Er lag am Boden. Das Gesicht kreideweiß. Ohnmächtig.
Im selben Moment kam der Krankenwagen.