»Some people need healing, some people need love«
Haelos
Der eintreffende Arzt kümmerte sich um alles Weitere. Auch um den bewusstlosen Marc, der schon bald wieder auf den Beinen war. Sein Kreislaufzusammenbruch war ihm sichtlich peinlich. Im Krankenhaus wurde Lara untersucht und Johanna gewaschen. Karin und Theresa trafen gleichzeitig ein und begrüßten Johanna. Die beiden lachten und weinten vor Glück.
Tonka wurde als die Heldin der Geburt gefeiert.
Drei Tage später waren sie wieder zu Hause im Hotel. Karin hatte für Johanna eine Krippe gebracht, in der schon Mila gelegen hatte. Auf dem abgeblätterten Weiß konnte Lara noch eine Sonne und Sterne erkennen. In die Sonne war ein großes Auge gemalt.
Lara sah Karin erstaunt an. »Ich habe von einer Sonne mit einem Auge geträumt, als ich mit Mila schwanger war. Und es deshalb auf ihre Wiege gemalt.«
Lara lächelte. In keiner Wiege wäre Mila besser aufgehoben gewesen. Und nun würde Johanna darin schlafen.
Jetzt war es Nacht. Lara stand neben der Krippe und beobachtete Johanna, die tief und fest schlief. Über ihr hing eine kleine Willensblase, in der Lara ihr eigenes Gesicht erkannte.
»Siehst du, Timo? Sie ist perfekt.« Sie flüsterte, um Johanna nicht zu wecken. Ihre Hand glitt über die weiche Wange. Johanna schmatzte leise im Schlaf. Lara hatte das Gefühl, vor Glück zu zerspringen. Gleichzeitig war die Sehnsucht nach Timo unfassbar groß. Wie konnte man diese beiden Gefühle gleichzeitig haben?
War er hier? Konnte er seine Tochter sehen? Konnte er sehen, wie perfekt sie war? Und sie war perfekt! Ihre Hände mit den winzigen Fingern, die kleinen Zehen an den Füßen, ihr winziger Kopf und die blonden Haare, die in alle Richtungen abstanden.
Sogar, wenn sie schrie, war sie perfekt. Perfekt in ihrem Hunger, ihrer Schlafverweigerung, ihrer Empörung über die Welt und perfekt in ihrem Lächeln.
Wochen vergingen, in denen Lara kaum eine Bewegung oder einen Laut von Johanna verpasste. Sie bekam regelmäßigen Besuch einer Hebamme. Nun tauchte auch eine Mitarbeiterin des Jugendamts auf. Da Karin als Laras Erziehungsberechtigte glaubhaft versichern konnte, dass Johanna bestens versorgt wurde, war die Prüfung nach einem Besuch erledigt.
Ein paar Mal konnte sie mit Ayse telefonieren, als das Netz mal wieder funktionierte. Ihre Freundin war wegen Johanna aus dem Häuschen und wegen Cem in großer Sorge, den der Depri-Virus nun auch erfasst hatte. Gemeinsam mit Johanna fuhren Marc und sie jeden Tag vorbei, um nach der Familie zu sehen. Es war schrecklich, Cem in diesem Zustand zu sehen.
Johanna war das Einzige, das Lara im Moment ein Lächeln entlocken konnte. Sie trank und wuchs und machte eine Windel nach der anderen voll. Ihr Gesichtchen war ganz verknautscht, was ihr von Marc den Spitznamen Knautscher eingebracht hatte. Der beschwerte sich täglich über die Gerä uschkulisse, darüber, dass es angeblich dauernd stank, darüber, dass Lara und Tonka nur noch in Babylauten kommunizierten und darüber, dass Susi lieber neben Johanna schlief als bei ihm. Er signalisierte kaum Interesse an Johanna und vergrub sich in seinem Zimmer, wo er eine neue Software herstellte.
Als Lara an einem Tag jedoch mit einigen Kräutern aus dem Garten kam und nach Johanna sehen wollte, war die Tür zum Zimmer nur angelehnt. Eine Stimme war zu hören.
»... sie reden hier alle nur in der Babysprache mit dir. Aber einer muss jetzt mal Klartext reden.«
Lara horchte auf und sah durch den Türspalt. Marc stand an Johannas Bettchen und betrachtete sie.
»Du bist hier nur von Verrückten umgeben. Eine Außerirdische, die sich in eine Frau verwandelt hat und total bossy ist. Ich bin ein Sozialnerd ... das bedeutet, dass ich am liebsten alleine bin. Warum ich euch dann hier wohnen lasse, wirst du dich fragen. Das liegt an deiner Mutter.«
Lara schluckte leise, während Johanna glucksende Geräusche von sich gab. Sie spähte durch den Spalt und erkannte, dass Marc Johanna auf dem Arm hatte. Unbeholfen hielt er ihr Köpfchen, als wäre sie ein kostbarer Schatz, dem nichts geschehen durfte.
»Sie braucht jemanden, verstehst du? Sie denkt immer noch jeden Tag an deinen Papa. Was mir tierisch auf die Nerven geht.«
Johanna fing an zu quengeln.
»Hey ... sorry, Knautscher. Ich sage nun mal lieber die Wahrheit. Ich konnte deinen Vater eigentlich immer leiden. Aber er war ein verdammter Moralapostel und hat geglaubt, dass er ein besserer Mensch ist als ich.« Marc machte eine kurze Pause. »Wahrscheinlich war er das auch. Jedenfalls könnt ihr hierbleiben. Deine Mama und du. Auch wenn sie völlig wahnsinnig ist. Das solltest du wissen. Sie denkt ständig nur an andere und will immer die Welt retten. Das unterscheidet uns. Aber es ist gut, wenn du auch ein anderes Vorbild hast.« Er streichelte sanft Johannas Gesicht. Laras Tochter beruhigte sich wieder und sah Marc wachsam an. »Du siehst aus wie sie. Das ist was Gutes. Wenn man sie ansieht, ist der Sternenhimmel stinklangweilig.«
Johanna gluckste, und Lara musste lächeln.
»Seit sie hier ist, bin ich nicht mehr gerne alleine. Sag ihr das bloß nicht.« Marc legte Johanna vorsichtig zurück in die Krippe, und Lara schlich auf Zehenspitzen davon.
Als sie die Eingangshalle erreicht hatte, kam Marc ebenfalls aus Richtung der Zimmer. Schnell tat sie so, als sei sie eben erst reingekommen.
»Hey.«
»Kannst du Johanna mal das Schreien abgewöhnen? Ich mag meinen Schlaf«, erwiderte er kühl.
Sie ging auf ihn zu, drückte ihn mitsamt den Kräutern in der Hand an sich und gab ihm einen Kuss auf die Wange. »Danke. Für alles.« Dann ging sie lächelnd Richtung Zimmer.
Lara spazierte täglich mit Johanna durch den Wald und bewunderte nachts mit ihr den Sternenhimmel, auch wenn Johanna noch nicht so weit sehen konnte. Tagsüber half sie Tonka im Garten und las in den wenigen Momenten, in denen Johanna schlief und sie nicht aufräumen musste, in den Büchern für die Ausbildung, die Karin ihr gebracht hatte. Ein derartiges Leben hatte sie noch nie geführt, und es fühlte sich so echt an.
Karin und Theresa kamen regelmäßig vorbei, um Lara mit Rat zur Seite zu stehen und Johanna mit Geschenken zu überhäufen. Beide Frauen nutzten diese Besuche auch als kleine Auszeiten von ihrer häuslichen Situation, denn die Depression hatte nicht nur Jo, sondern auch Timos Vater erfasst.
Als Lara an einem frühen Morgen das Hotel mit Johanna im Tragetuch verließ, um ihre tägliche Runde an Besuchen zu machen, blieb sie wie erstarrt auf der Treppe stehen. Vor dem Hotel stand Jonas. Instinktiv legte Lara die Arme um Johanna, als sie auch schon hinter sich Marc hörte, der vor sie trat.
»Verschwinde. Und zwar ganz schnell!« Er hatte Gustavs Gewehr in der Hand.
Nach der Anzeige hatten die Zwillinge eine Sozialarbeit aufgebrummt bekommen. Das war alles gewesen. Im Stillen hatte Lara oft Angst gehabt, dass sie hierherkommen würden, um dem Alien Johanna etwas anzutun.
Nun wirkte Jonas aber keineswegs, als wollte er Lara oder ihr Kind angreifen. Er sah sie unsicher an. »Ich will mich entschuldigen.«
»Zur Kenntnis genommen. Jetzt verzieh dich!«, donnerte Marc.
Jonas trat vor, als würde Marc ihn nicht mit einem Gewehr bedrohen. »Wirklich. Es tut mir leid. Ich hoffe, ich habe deinem Kind nichts getan. «
Lara spürte, dass er es ehrlich meinte, und legte Marc beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Was willst du?«
»Mein Vater ... Tamara ... sie stehen nicht mehr auf«, erklärte er. »Kannst du helfen?«
Marc lachte laut auf. »Erst willst du sie umbringen, und jetzt soll sie dir helfen? Geht’s noch?«
Jonas musterte sie fragend, und Lara nickte schließlich. »Ich komme heute vorbei. Aber ich kann nichts versprechen.«
Ein paar Stunden später, während Marc Lara und Johanna von Wohnung zu Wohnung fuhr, wo sie Öl-Antidepressiva verteilten, kam er aus dem Kopfschütteln kaum heraus. »Ich werde dich nie verstehen. Der Typ wollte dich umbringen.«
Lara war sich dessen durchaus bewusst. Dennoch hatte sein Blick sie berührt. Sie ließ sich zu Jonas’ Adresse fahren, ein riesiges Haus, versteckt hinter hohen Mauern. Das ganze Anwesen wirkte wie eine einzige Festung, die ihre Insassen vor der Außenwelt schützen sollte. Lara ließ Johanna bei Marc im Auto.
Jonas war dankbar für ihr Erscheinen. Der Junge wirkte in dem riesigen Gebäude mehr als verloren. Eine Mutter war nicht anwesend, Lara wusste nicht, ob die Eltern getrennt waren oder die Mutter verstorben. Jonas führte sie zu Tamara in deren Zimmer, die bei Laras Anblick keine Regung zeigte. Ihre Willensblase war gänzlich erloschen. Genau wie bei dem Vater der Zwillinge, den Lara als den großen Mann wiedererkannte, den sie am Silbergründle gesehen hatte .
Sie konnte für die beiden nichts mehr tun, was sie Jonas behutsam mitteilte. Er selbst hatte noch eine Willensblase. Die, die er gemeinsam mit Tamara gehabt hatte. Die beiden – gegen den Rest der Welt. Er schien ihren Willen für seine Schwester aufrecht zu erhalten.
Lara ließ ihm etwas von dem Öl da. Er tat ihr leid, so allein in dieser riesigen Villa. Mit zwei Menschen, die nun seine ganze Pflege benötigten. Dennoch konnte Lara sich nicht überwinden, ihn ins Hotel einzuladen. Sie spürte noch immer die Tritte im Bauch, die er ihr verpasst hatte.
Lara kam zur Waldapotheke zurück, die sie geschlossen vorfand. Sie ging mit Johanna auf dem Arm zum Haus, wo die Tür offen stand. Lara ging hoch in Jos Zimmer. Dort war Karin gerade dabei, ihm etwas Johanniskrautöl zu verabreichen.
Kaum hatte sie Jos Zimmer betreten, blieb sie stehen. Der Gestank war enorm.
»Ich komme mit dem Waschen nicht mehr hinterher«, erklärte Karin leise, als sie Lara entdeckte. »Er lässt mich nicht mal mehr an sich ran. Das Öl hier ist unser letztes. Wir haben keine Medikamente mehr.«
Jo lag im Bett, unrasiert, die Haare hingen ihm fettig bis zur Schulter. Er war abgemagert und trug ein weißes, mit Flecken übersätes Hemd. Die Hose hatte Löcher. Er registrierte nicht einmal, dass Lara eingetreten war.
Johanna gluckste in ihrem Arm. Da sah Jo plötzlich auf. Er starrte auf Johanna. »Mila?« Er stand auf und ging auf Lara zu. »Mila, bist du das? «
»Nein, Jo«, entgegnete Lara, während sie einen Schritt zurückwich. »Das ist Johanna. Meine Tochter.«
»Mila!« Jo wollte nach Johanna greifen.
Lara wich noch weiter zurück, sodass Karin dazwischen ging.
»Jo, das ist nicht unsere Mila.«
Jo starrte sie an. »Mila!«, schrie er und stieß Karin von sich weg. Sie landete unsanft auf dem Boden, während Jo nach Johanna griff, die sofort zu weinen begann.
»Lass sie!«, rief Lara und drückte ihre Tochter schützend an sich.
Karin war wieder aufgestanden und drängte sie aus dem Zimmer. »Geh! Bring sie weg!«
Lara eilte aus dem Haus und ließ sich von Marcs Umarmung trösten. Wirklich beruhigen konnte sie sich erst, als Karin unversehrt zu ihr trat. Das Gesicht voll Kummer.
»Er ist gar nicht mehr da«, murmelte sie.
Lara hielt ihre Hand und fasste einen Entschluss. Das alles musste aufhören.