Die dunkle Seite
Am 18. August machten sie sich auf den Weg zur Hornisgrinde. Marc und Tonka hatten das Teleskop eingepackt. Ayse hatte Cem mit Hilfe seiner Eltern ins Hotel gebracht und zog ihn einfach an der Hand hinter sich her. Gefangen in seiner Depression war Ayse das Einzige, das ihn noch dazu animieren konnte, weiterzugehen. Er folgte ihr willenlos.
Karin und Jo hatten etliche Brote belegt. Jo war aus seiner Lethargie erwacht. Dass er Lara am Leben erhalten hatte, gab ihm neue Energie. Seine beiden Willensblasen waren zu einer zusammengeschrumpft. Mathilda hatte zwei Pferde im Schlepptau, die einiges von ihrem Gepäck tragen konnten. Timos Mutter ging neben ihr her.
Lara hatte Theresa von der Begegnung mit Timo erzählt. Seiner Mutter war anzusehen gewesen, dass sie Schwierigkeiten hatte, sich ihren Sohn in dieser Form vorzustellen. Aber die Tatsache, dass er immer noch da war, schien sie glücklich zu machen.
Eva und Dany hatten Kuchen und Baguettes mitgebracht und ihre Freundinnen einiges an Decken und Kissen. Auch das Ehepaar aus dem Steinlädele
war dabei.
Und dann waren da noch die anderen.
Bereits zwei Tage nach Laras Ausflug in Energieform waren die Ersten eingetroffen. Sie hatten ihre Nachricht empfangen und wollten nicht bis zum 18. August warten, sondern vorher herausfinden, was es mit diesem Event auf sich hatte. Innerhalb weniger Tage
waren bereits an die fünfzig Leute gekommen. Mit den letzten Tropfen Benzin im Tank hatten sie den Weg hierher gefunden. Tonka und Susi waren begeistert. Tonka hatte endlich die Gelegenheit, andere Menschen kennenzulernen, und sie machte aus ihrer Herkunft kein Geheimnis mehr, obwohl man es ihr nicht mehr ansah. Aber alle Menschen, die jetzt noch ihren Willen hatten, kannten keine Angst vor den anderen Welten und deren Bewohnern. Im Gegenteil. Sie waren neugierig, wollten alles über Lara und Marcs Reise wissen. Sogar Jonas war dabei und hörte ruhig zu, ohne weitere Verschwörungstheorien von sich zu geben. An langen Abenden am Feuer im Garten erzählten Lara und Marc davon. Beschrieben die Welten, so gut sie konnten. Verheimlichten nicht die Gefahren und die vermeintliche Tatsache, dass die fünfzehn verschollenen Menschen und Philipp wirklich tot waren.
Untergebracht hatten sie die Besucher im Hotel. Marc war wenig erfreut, konnte sich aber gegen Tonkas Begeisterung nicht durchsetzen. Vielleicht wollte er es auch nicht. Denn nachts baute er das Teleskop seines Großvaters auf und ließ die Gäste hindurchsehen. Er versuchte zu erklären, wo seiner Meinung nach die anderen Welten waren, auch wenn er mit seiner Nachforschung noch nicht weitergekommen war. Lara beobachtete ihn, wenn er den Leuten das Teleskop erklärte, und sah das Leuchten in seinen Augen.
Sie alle fieberten dem 18. August entgegen. Eine Vollmondnacht, die Ayse perfekt für ihr Anliegen vorgekommen war. Ihr Plan würde jedoch nur mit Leo funktionieren. Der Professor hatte versprochen,
dass sie kamen. Lara konnte nur hoffen, dass er sein Versprechen hielt.
Am Abend vor dem 18. August war die Menge der Besucher auf 200 angestiegen. Mittlerweile waren sie auch im Holzwurm
und weiteren Hotels untergebracht. Viele machten Platz im Gästezimmer. Die Menschen kamen mittlerweile auch aus anderen Ländern, sprachen die unterschiedlichsten Sprachen und schafften es doch, sich zu verständigen. Sie hatten sich auf dem Weg hierher getroffen und teilweise zu Gruppen zusammengetan. Einige hatten Autos und kamen noch an Benzin. Sie teilten das eine Schicksal: den verloren gegangenen Willen.
Alle Ortsansässigen öffneten ihre Türen, und gemeinsam gelang es ihnen, alle zu versorgen, auch wenn Trinkwasser und Lebensmittel immer knapper wurden. Man teilte und hielt zusammen. Es war eine Form der Gemeinschaft, die keiner von ihnen bisher erlebt hatte. Genau wie bei Laras Reise spielten Grenzen keine Rolle mehr. Es war niemand mehr übrig, der sie kontrollierte. Und niemand mehr da, der einen Vorteil davon gehabt hätte.
Sie alle hatten sich zusammengefunden aus dem einen Grund: weil sie Menschen waren. Bewohner dieser Erde. Es war die einzige Gleichung, die zählte. Die einzige, auf die es ankam.
An den gemeinsamen Abenden sah Lara nur in glückliche Gesichter. Die Gemeinschaft gab allen Kraft. Natürlich war da auch die Hoffnung. Die Hoffnung, dass der Zustand aufhören würde. Dass Lara und ihre Freunde wirklich den Weg gefunden hatten,
den Willen in die Welt zurückzubringen. Und die zahlreichen Angehörigen und Freunde zu ihrer Lebensfreude zurückfanden.
Doch während alle in der Gemeinschaft aufgingen, blieb Lara außen vor. Sie beobachtete die Leute mit Johanna auf dem Arm. Das Lachen, das Eins-Sein.
Sie hoffte, dass Timo das ganze Ereignis mitbekam. Hatte er eine Möglichkeit, sie zu beobachten? Obwohl Styx die Barriere nicht aufheben konnte? Timo hatten sie zu verdanken, dass die Mission geglückt war. Lara hatte nach ihrer gemeinsamen Reise kaum den Willen aufgebracht, ihn zurückzulassen. Er hatte sie mehrfach an Johanna erinnern müssen und daran, dass ihre Tochter sie brauchte. Dann hatte er ihr einfach einen Tritt verpasst und sie so in ihren Körper zurückbefördert.
Ihn wiedergesehen zu haben, empfand Lara als großes Geschenk. Was nichts gegen die Sehnsucht half, die nun fast noch stärker in ihr tobte.
Das war aber nicht das Einzige, das Lara von den Anwesenden trennte. Alle, die hier vereint waren, hatten ein Ziel: den Willen zurück in die Welt zu bringen.
Was würde geschehen, wenn es ihnen gelang? Würden sie so weitermachen wie bisher? Würden sie die Grenzen wieder schließen? Die Unterschiede wieder wichtig werden lassen? Würde mit dem Willen auch der Hass zurückkommen, der Lara so verängstigt hatte? War es nicht besser, eine kleine Gruppe voller Liebe zu sein als sieben Milliarden im ständigen Krieg miteinander? Lara konnte den Hass in den Gesichtern der Menschen nicht vergessen, die sie angegriffen hatten.
Sie konnte auch Jonas und Tamaras Angriff auf Johanna und sie nicht vergessen, auch wenn Jonas nicht mehr mit diesem Jungen zu vergleichen war.
Lara vertraute sich mit ihren Gedanken niemandem an, da ihr bewusst war, was er bedeutete. Ein Teil von ihr hatte nichts dagegen, dass so viele Menschen von der Depression niedergeschmettert in ihren Betten lagen. Als Mensch war sie Teil einer unberechenbaren Meute. Wollte sie dieser Meute wirklich ihren mitunter zerstörerischen Willen zurückgeben? Dabei war sie doch nur dafür aufgebrochen. Hatte ihr Leben riskiert. Lara verstand sich selbst nicht.
Sieben müssen sich finden.
Sieben haben die Kraft, alles zu verändern.
Eine neue Welt entstehen zu lassen, in der alten Welt.
Eine neue Welt ...
Lara erinnerte sich an ihren Traum. Sah ihre Sieben vor sich. In der Dunkelheit. Ohne Gesichter. Und diese eine Person, die alles zerstören wollte. Wer auch immer ihre Sieben waren, es war vermutlich besser, dass sie noch nicht vollständig waren.
Leo würde mit seinen Klängen die Menschen einander zuordnen können, wenn sie sich noch nicht gefunden hatten. Von den mittlerweile dreihundert anwesenden Menschen, wie viele vollständige Siebener-Kreise waren dabei?
»Hey!« Tonka war neben sie getreten. »Ist es nicht wunderbar? So viele Menschen! Und ich bin Teil davon. Was glaubst du passiert, wenn sich Sieben finden und eine neue Welt anstelle der jetzigen erschaffen? Glaubst du, es macht einmal bumm und geht dann von
vorne los? Bleiben wir, wer wir sind? Oder fängt alles noch mal von vorne an?«
Zu diesen beunruhigenden Gedanken war sie noch nicht einmal vorgedrungen. »Ich weiß es nicht«, gab sie zu.
Im Licht der langsam untergehenden Sonne erreichten sie die Hornisgrinde. Eine weite Ebene und der höchste Punkt dieser Gegend. Es war ein naturgeschütztes Moorgebiet und bot die perfekte Fläche und genug Platz für ihr Vorhaben.
Auf ihrem Weg waren immer mehr dazu gestoßen, und als sie die Ebene erreichten, waren auch dort schon etliche eingetroffen. Zelte waren aufgebaut, Musik wurde gespielt. Es war ein einziges, freudiges Miteinander. Lara blieb abseits mit Johanna in der Nähe des Turms, der auf der Hornisgrinde stand. Dort gab es die einzige Möglichkeit, mit dem Auto hochzufahren. Wenn Leo und der Professor wirklich mit ihren Steinen kamen, würden sie hier ankommen. Diese schweren Instrumente konnten sie unmöglich selbst tragen.
Sie setzte sich und wartete, während im Hintergrund der Trubel immer lauter wurde. Lara starrte über die Rheinebene. Von hier hatte man einen unglaublichen Blick in das Tal hinunter.
Erste Sterne zeigten sich am Himmel. Und auch der Vollmond bahnte sich seinen Weg über den Horizont. Feuer wurden angezündet und Gemüsespieße gegrillt. Jo machte mit anderen Musik. Die Mitglieder seiner Jamgruppe waren auch gekommen
.
Als der Vollmond gut zu erkennen war, baute Marc das Teleskop auf, und nacheinander bewunderten die Leute den Blick auf den Mond. Marc, der sein Teleskop sonst keine Sekunde aus den Augen ließ, ging zu Lara. »Na, Goldi?«
Sie lächelte bemüht.
»Was ist los? Sonst stehst du immer in der ersten Reihe, wenn es um Gemeinschaft und Miteinander geht.«
Sie zögerte. Aber wenn einer ihre Gedanken nachvollziehen konnte, dann Marc. Niemand mochte die Menschen weniger. »Während all dieser Reisen habe ich immer wieder erzählt bekommen: Unsere Welt hat das Gute und das Schlechte«, erklärte sie deshalb. »Und das soll toll sein. Aber ich wünsche mir eine Welt, in der es keine Angst mehr gibt. Und keinen Hass.«
»Du willst die Menschen mit ihrem Hass lieber in der Depression lassen?« Wie immer durchschaute er sie.
»Sie hätten mich beinahe umgebracht«, rief Lara verzweifelt. »Sogar Jo hat diese dunkle Seite in sich.«
»Wir alle haben sie. Du auch.«
Sie musterte ihn. »Nein. Ich habe sie nicht.«
»Natürlich, Goldi. Du bist vielleicht ein guter Mensch, wenn es so etwas gibt. Du opferst dich für andere, blablabla. Aber auch du hast eine dunkle Seite.«
Lara schwieg betroffen.
»Vielleicht ist sie ein bisschen heller als meine«, er grinste, »aber sie ist da. Und wenn du mich fragst, hast du vor dieser dunklen Seite am meisten Angst.«
In diesem Moment kam ein Pick-up die Straße hochgefahren. Am Steuer saß der Professor. Und neben ihm Leo.