»We’ve come full circle
«
Haelos
Der Kreis der Sieben hatte sich geschlossen. In dem Moment, als Timo und Philipp dazu getreten waren, hatte Lara das Band gespürt, das sie verband. Sie hatte keine Zeit, sich für oder gegen Philipp zu entscheiden. Keine Zeit, nach den Leuten zu sehen, die nun Zeuge dieser Szene wurden. Keine Zeit, Johanna noch einmal zu drücken. Während Leo weiterspielte, sah sie deutlich, wie ihre Willensblasen zueinanderfanden. Eine nach der anderen.
Ayses Blase war sofort bereit, sich den anderen zuzuwenden. Cems Blase leuchtete hell und folgte. Timo und Philipp schlossen sich an. Auch Tonkas Blase vereinte sich mit den anderen. Marc, etwas zögerlich, folgte Tonkas Blase, und die Sechs schimmerten so wunderschön, dass Lara den Blick nicht davon abwenden konnte.
Schließlich schloss sie die Augen und ließ auch ihre Blase zu den anderen gleiten. In diesem Moment, als sich alle sieben Willensblasen zu einer zusammenfanden, schien Lara nur noch aus Energie zu bestehen. Als wäre sie wieder von ihrem Körper getrennt, hob sie ab. Diesmal jedoch spürte sie die Verbindung zu sich selbst, durch den Klang der Steine. Als er noch lauter wurde, ging ein Ruck durch Lara, und mit einem Mal fand sie sich in einem dunklen, luftleeren Raum wieder.
Wie in ihrem Traum.
Laras Sieben vereint in der Dunkelheit. Nervös musterten sie sich, unfähig, ein Wort zu sprechen. Sie würden eine neue Welt
erschaffen.
Aber waren sie sich einig, wie diese Welt aussehen sollte?
Der Wille
, hörte Lara in ihrem Inneren. Wir holen den Willen zurück.
Alle schienen instinktiv zu wissen, was ihre Aufgabe war. Sogar Cem und Marc lächelten! Was war mit Marc los? Hatte er seine Ressentiments gegen Philipp schon wieder vergessen? Er war doch sonst nicht so schnell bereit, zu verzeihen.
Schon bildete sich in ihrer Mitte eine Kugel. Eine wunderschöne, goldene Kugel, so leuchtend und strahlend, verheißungsvoll. Lara versuchte, sich auf den Willen zu konzentrieren. Sich dem Wunsch anzuschließen, dass der Wille in ihre Welt zurückkehrte. Sie spürte die Kraft, die sie miteinander aufbrachten. Diese unglaubliche Energie, die die kleine goldene Kugel in ihrer Mitte zum Rotieren brachte. Lara konzentrierte sich auf den Willen, auf die neue Welt, als plötzlich, wie in ihrem Traum, eine weitere Person den Kreis der Sieben durchbrach und die goldene Kugel an sich nahm!
Die Person trug einen Hoodie und hatte die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie versuchte, zu fliehen und die goldene Kugel mitzunehmen. Aber die anderen stellten sich gleich einer Mauer vor sie.
»Was tust du da?«
»Gib sie zurück.«
»Es ist unsere Erschaffung!«
Die Person hielt die Kugel fest umklammert. Wollte sie nicht hergeben. Wollte die Erschaffung bremsen. Sie verhindern.
»Lara!
«
Sie sah sich um.
»Lara, gib sie her!«
Nun sah Lara an sich herunter. Mit einem lautlosen Schrei erkannte sie es: Sie selbst hielt die Kugel in den Händen. Die Person mit dem Hoodie war sie selbst.
Sie war die Person aus ihrem Traum. Sie wollte die Erschaffung verhindern.
Ayse flog langsam auf sie zu. »Warum tust du das?«
Auch Marc kam näher. »Sie hat Angst vor dem Willen der Menschen.«
Ja. Das hatte sie. Bis gerade eben war sie getrennt gewesen von dem Teil ihrer Selbst, der das hier verhindern wollte. Aber nun war sie eins mit ihm. »Er zerstört alles!«, rief sie verzweifelt. »Unser Wille zerstört alles! Ihr habt gesehen, was Philipp angerichtet hat. Ob er es nun wollte oder nicht, es passieren so viele schreckliche Dinge durch unseren Willen. Ist doch besser, wenn wir willenlos sind. Dann kann der Hass unsere Welt nicht kaputtmachen!« Die Worte purzelten aus ihr heraus.
Marc und Timo näherten sich.
Lara wich vor ihnen zurück. Hielt die kleine Kugel fest umklammert. »Wir lassen die Welt, wie sie ist. Sollen die Depressiven bleiben, wo sie sind. Da können sie wenigstens keinen Schaden anrichten.«
»Lara, das bist doch nicht du«, fand Ayse.
»Doch, genau das ist sie.« Marc lächelte. Schien völlig unbeeindruckt von Laras Aktion und ihren Worten. »Es ist ein Teil von ihr. Ihr eigener Hass. Ihre eigene Wut. Ihre eigene Angst.«
»Die du überwinden musst.« Tonkas Worte fachten Laras Wut nur noch weiter
an.
»Ich muss gar nichts! Ich kann alles so lassen, wie es ist! Und was ist überhaupt mit dir los?«, fragte sie in Marcs Richtung. »Gerade hast du Philipp noch gehasst. Und jetzt willst du mit ihm eine neue Welt erschaffen?«
»Ich habe mich erinnert. In dem Moment, als die Kugel entstand. Da habe ich mich erinnert.«
»Erinnert woran?«
»An unser Treffen. Auf der Welt der Träumer«, lachte Marc. »Wir haben uns dort gefunden. Wir Sieben. Und haben entschieden, was wir in diesem Leben machen wollen.«
»Ich habe mich auch erinnert«, rief Ayse.
»Ich auch«, kam es von Cem.
Lara sah in die Gesichter der anderen Sechs. Timo lächelte liebevoll, genau wie der Rest. Alle hatten sich erinnert. Lara nicht.
»Dann entscheide ich mich jetzt dagegen!«, rief sie.
Lara flog davon. Wie in ihrem Traum. Sie dachte, dass die anderen sie hindern, sich ihr in den Weg stellen würden. Als Lara sich umdrehte, erkannte sie, dass sie ihr nachsahen. Keiner machte Anstalten, sie aufzuhalten. So blieb sie in der Luft hängen. Von ihren Sechs getrennt. Sie sah Philipp ins Gesicht, der sie geduldig musterte. Dann sah sie auf die Kugel in ihren Händen.
Leuchtend in der Dunkelheit, das einzige Licht, aber deutlich geschwächt. Es glomm noch, doch schon bald, das wusste Lara, würde ihr Licht erlöschen.
Und damit ihre Erschaffung.
Marc hatte recht behalten. Sie hatte eine dunkle Seite. Eine Seite voller Wut und Hass. Eine Seite voller Angst vor den Menschen und dem, was sie mitunter taten
.
»Lara.«
Eine Stimme, die ihr mehr als bekannt vorkam. »Mila?« Sie drehte sich um.
Leuchtend wie ein kleiner Engel kam Mila auf sie zu. Sie trug ein weißes Gewand und war barfuß. Ihre Haare hingen glatt gekämmt an ihr herunter.
Lara schnappte nach Luft. »Was machst du hier?«
»Meinen Job. Wenn meine mir anvertrauten Seelen vom Weg abkommen, bin ich da.«
»Wo warst du die ganze Zeit? In der wir dich gesucht haben? In der wir dich gebraucht haben?«
»Ich war immer da.«
»Und warum hast du nichts getan?«
»Ich musste nichts tun. Ihr habt es getan.«
Lara sah sie mit großen Augen an.
Mila lächelte. »Du hast es geschafft, Lara. Bist nur noch einen Schritt davon entfernt, den Willen auf die Erde zurückzubringen.«
Lara schwieg. Ihre Hände umfassten die Kugel.
»Es ist wahr. Menschen ändern sich. Denk an Marc. Erinnere dich, was für ein arroganter, egoistischer Sturbock er war. Oder Tonka. Sie war ein anderes Wesen und hat vermutlich die größte Veränderung von euch allen hinter sich gebracht. Genauso können sich der Hass, die Grenzen, die Mauern, die ihr baut, verändern. Sie können verschwinden, können gesprengt werden. Und das werden sie. Es ist der Moment, der für euch alle die größte Erfüllung bringt. Willst du diesen Moment verpassen? Willst du nicht Teil davon sein?«
»Wer sagt mir, dass dieser Moment eintreffen wird? Warum sollte ich Johanna in eine Welt entlassen, die
voller Hass ist? Jetzt geht es ihr besser. Jetzt, wo die Angst sich selbst gebremst hat.«
»Du kennst die Antwort, Lara. Du hast den gleichen Kern wie alle. Und der besteht nur aus Licht. Alles, was du tun kannst, ist vertrauen. Darauf, dass dieses Licht nie ausgeht.«
Lara starrte auf die Kugel, die zu verlöschen drohte.
»Vertrau, Lara.«
Sie sah in das Gesicht ihrer Cousine, die längst nicht mehr ihre Cousine war. Weisheit und Güte standen in diesem Gesicht. Mila kam näher und hob die Hand. Lara wich zurück und hielt die kleine Kugel fest umklammert.
»Ich will dir nichts wegnehmen. Ich will dir etwas geben. Eine Erinnerung.«
Lara verharrte regungslos, als Mila ihr die Hand auf den Kopf legte.
Und dann sah sie es. Die Versammlung ihrer Sieben. Auf der Welt der Träumer. Wie sie selbst eine träumende Blase gewesen war und die anderen getroffen hatte. Wie sie sich diese Welt ausgesucht und sich in diesem Leben verabredet hatten. Sie sah, wie jede einzelne der Blase ihr Gesicht gezeigt hatte. Das Gesicht, mit dem sie sich hier auf der Erde kennenlernen würden. Sie sah Ayse und Cem, Tonka und Marc. Timo, den sie damals schon geliebt hatte. Und schließlich sah sie Philipp. Und sie empfand nicht wie gerade noch Wut auf ihn und Angst vor seinen Taten, sondern spürte Mitgefühl und Anerkennung für seinen Mut und für seinen Glauben, das Richtige für die anderen Menschen zu tun. Was in seinem
Fall bedeutet hatte, in einen kleinen, eiskalten See zu springen und sein Leben zu riskieren – und schließlich zu opfern.
Erschrocken drehte sich Lara zu ihren Begleitern um. »Es tut mir leid!«, rief sie.
Das Lächeln auf ihren Gesichtern signalisierte, dass sie ihr nichts übelnahmen.
Lara sah zu Mila. »Entschuldige, dass ich dir nicht vertraut habe.«
»Das bin ich gewohnt«, konterte Mila. »Und jetzt los. Flieg zu ihnen!«
Das tat Lara. Sie flog in ihren Kreis der Sieben zurück und wurde ohne ein Wort des Vorwurfs in ihm aufgenommen.
Sie ließ die Kugel los, die wieder in ihre Mitte trudelte. Lara nahm Timos Hand und die von Marc, und gemeinsam blickten sie auf die Kugel, die nun schnell wieder an Leuchtkraft gewann.
Vertrau dem Willen!
Das war alles, was Lara jetzt noch denken konnte. Dann irgendwann setzten ihre Gedanken aus. Und mit ihnen ihr Wille. Sie ließ ihre Energie in die Kugel fließen und vertraute darauf, dass dieser Kreis, ihr Kreis der Sieben, nur eine Welt schaffen konnte, in der sie gern leben würde.
Die Kugel in ihrer Mitte wurde größer und größer, gewann an Leuchtkraft und drehte sich immer schneller. Lara spürte, wie ihre Konturen sich ganz auflösten. Auch die anderen waren in ihrer körperlichen Form nicht mehr sichtbar.
Ganz leise glaubte Lara, eine Stimme zu hören.
»Erschaffe! Erschaffe!«
Dann hörte sie einen lauten Knall und explodierte.