Jetzt du!
»So etwas wie Hannisch gibt es nicht«, gab Marc genervt von sich.
»Natürlich. Du hörst es doch jeden Tag!«, sagte Lara empört, während sie Hannen ein Butterbrot schmierte.
»Ich bin schon tanz tos«, rief Hannen, während sie an Laras Rock zog.
Lara lachte und nahm sie hoch, während Marc zu ihnen trat.
»Du bist nicht tanz tos . Du bist ganz groß. Und musst zum Logopäden«, erklärte er.
Hannen streckte ihm die Zunge raus.  
»Gut so!«, fand Lara.
Marc grinste, nahm sich das Butterbrot und lief aus der Küche.
»Meins!«, rief Hannen empört.  
Lara sah sie an. Mit ihren drei Jahren war ihre Tochter das schönste Geschöpf der Welt. Sie war etwas kleiner als die anderen Gleichaltrigen und konnte das G und K nicht aussprechen, sodass sich diese Buchstaben immer wie T anhörten. Aber ihre Tochter hatte entschieden, dass sie eine eigene Sprache erschaffen hatte. Und diese Sprache hieß Hannisch . Sie hatte sich auch einen eigenen Namen gegeben und bestand darauf, Hannen genannt zu werden.
Lara drückte Hannen einen Kuss auf die Wange und schmierte ein neues Butterbrot. Noch einen Monat hatte Lara Hannen für sich. Dann kam sie in die Kita. Lara würde der Schritt vermutlich viel schwerer fallen als ihr. Ab diesem Tag konnte sie ganztags in der Apotheke arbeiten. Sie hatte ihre Ausbildung abgeschlossen und war nun pharmazeutisch-technische Assistentin. Jo und Karin waren froh um ihre Unterstützung, denn Karin war im siebten Monat schwanger und würde nicht mehr lange in der Apotheke arbeiten können.
Lara hatte sich unendlich über die Nachricht von Karins Schwangerschaft gefreut. Diesmal, so hoffte sie, würde es ein ganz normales Kind. Und keine Weltenhüterin.
Lara hatte Mila nicht mehr gesehen. Aber sie wusste, dass sie immer um sie herum war. Bereit einzugreifen, wenn jemand in die falsche Richtung lief. Auch den Gedankenträger hatte sie nicht mehr gesehen. Sie hoffte, dass in seiner Höhle nun wieder viele, rote Kristalle glänzten. Sie jedenfalls war erfüllt von guten Gedanken.
Ayse war nach ihrem Abitur hergezogen. Sie war nun selbst in die Welten gereist. Die Zugänge waren geöffnet und die Weltenhüter auf Besucher vorbereitet.
Cem studierte Informatik in Karlsruhe und arbeitete mit Marc zusammen, während Ayse eine Weltenschule gegründet hatte. Mitten im Schwarzwald. Schüler von weiter weg kamen in den Hotelzimmern unter. Marc und Tonka waren als erste Lehrer eingestellt worden. Nach drei Jahren weiterer Reisen in die anderen Welten wusste Marc endlich, wo die genaue Lage der Planeten war und hatte seine Software fertig. Zugänglich für die ganze Welt. 
Über Tonka konnte man sich für gewünschte Reisen anmelden, und sie kümmerte sich darum, dass die anderen Weltenhüter Bescheid wussten.
Viele wagten die Reise noch nicht. Keiner hatte Philipp und die fünfzehn Menschen vergessen, die ihren Sprung nicht überlebt hatten. Dennoch hatte niemand mehr Angst, dass durch den Mummelsee irgendwelche Wesen kommen könnten, die alles vernichten wollten. Eine Tatsache, die sie allein Philipps Handeln zu verdanken hatten. Wenn Lara sich an ihr Misstrauen erinnerte, schämte sie sich dafür. Obwohl es ihr damals richtig erschienen war.
Die Kinder, die Marc bereits unterrichtete, konnten es gar nicht erwarten, endlich auf die Reise zu gehen. Aber bevor sie in den See im Silbergründle springen durften, mussten sie volljährig sein.
Marc folgte seiner Bestimmung, an Tonkas Seite. Die beiden waren wahrlich eines der schönsten Paare, die Lara je gesehen hatte. Auch wenn sie sich jeden Tag bestimmt drei Mal leidenschaftlich stritten.
Timos Mutter hatte eine eigene Goldschmiede, Mathilda bot Schwarzwaldritte auf Pferden an, Eva und Dany machten immer noch ihre Flammkuchen, und alle waren erfüllt von ihrem Willen, der nur Gutes zu bewirken schien.
Zu Laras Erstaunen breitete sich dieser Wille immer weiter aus. Nachdem sie eine neue Welt über der alten erschaffen hatten, war vieles verändert. Die Menschen waren aus ihrer Depression erwacht. Sie hatten erkannt, wohin die Angst sie getrieben hatte und versuchten nun, der Liebe mehr Raum zu geben. Nicht jeder war bereit dazu. Es gab immer noch Grenzen zwischen den Ländern, immer noch Ängste vor Unterschieden, immer noch Hass zwischen einzelnen Menschen. Aber er reichte nicht mehr aus, um einen Krieg zu führen. Für diesen Moment, diese Zeitspanne, gab es auf dieser Welt keinen Krieg. Ein ungewohntes Gefühl. Die Nachrichten waren erfüllt von positiven Ereignissen, da es kaum noch negative zu berichten gab. Die Länder, die vom Krieg zerstört gewesen waren, befanden sich im Aufbau. Mögliche politische Spannungen wurden auf anderem Weg gelöst, zumindest war man darum bemüht.
Für diesen Moment.
Ein Zustand, der jederzeit wieder umschwenken konnte, dessen war Lara sich bewusst. Vielleicht würde es wieder Seelen geben, die für ihren Weg den Kampf wählten. Schließlich waren sie immer noch die Welt der Unterschiede. Jetzt schienen diese Unterschiede aber neugierig zu machen, nicht ängstlich. Lara hatte beschlossen, es zu genießen, solange es anhielt. Hannen erlebte eine Kindheit in Frieden. Das war mehr, als sie hatte hoffen können, und sie war dankbar dafür.
Malik und Leo lebten zusammen in Berlin. Malik war nun auch wieder in der Lage, die Melodien der Seelen zu hören und die beiden waren eine Anlaufstelle für zahlreiche Menschen geworden, die über ihre Entscheidungen und ihr Gefühlsleben unsicher waren. Sie kamen zu Malik und Leo, um ihre Musik zu hören. Manche änderten daraufhin etwas in ihrem Leben, andere waren überrascht und wieder andere hörten ihre Lieder und konnten nichts damit anfangen.
Nicht so Malik, der jetzt zu seiner Liebe für Leo stand. Sein Outing hatte innerhalb der Familie für weniger Unruhe gesorgt, als Lara und Ayse befürchtet hatten. Nach allem, was geschehen war, war die Familie Kaya einfach nur froh und dankbar, dass es wieder allen gut ging. Leo wurde zögernd als neues Familienmitglied akzeptiert.
Wieder hatte die Liebe Grenzen überwunden. Genau wie die Liebe zwischen Timo und Lara. Styx hatte die Barriere zwischen ihnen aufgehoben.
Timo konnte sie wieder besuchen. Immer wieder tauchte er spontan auf und hatte recht behalten: Er konnte sie loslassen und gleichzeitig bei ihr sein. Genau wie sie. Auch wenn Lara immer noch einen Geist liebte, so fühlte sie sich doch lebendiger als jemals zuvor.
Lara setzte Hannen auf den Boden und reichte ihr das Butterbrot. Die Kleine biss hinein und rannte dann damit hinaus in den Garten. Marc hinterher. Ihr schräger Onkel, der ihr nachts die Sterne zeigte und erklärte, wo ihre Mama und ihr Papa überall rumgesprungen waren. Ihre kleine Willensblase baumelte dabei wie ein Luftballon an einer Schnur über ihrem Kopf. Ein Spiegelbild ihrer selbst.
Während sie Hannens kleinen, speckigen Beinen nachsah, die für ihren Geschmack schon viel zu schnell rennen konnten, hätte sie vor Glück platzen können.
Styx strich ihr um die Beine. Wie immer war die Katze aus dem Nichts aufgetaucht. Lara sah hinunter.
»Grüße vom Gedankenträger«, murmelte sie.
»Danke. Zurück.« Lara beugte sich hinunter und sah der Katze in die Augen. »Ich hatte lange Angst vor meinem eigenen Willen. Aber diese Zeit ist vorbei. Verrätst du mir, was in meiner Willensblase ist?«
Styx musterte sie, und Lara hatte das Gefühl, als würde sie grinsen. »Noch so viele Welten«, schnurrte sie.
Am Abend legte Lara eine dünne Decke über Hannen. Sie kuschelte sich an ihre bunte Puppe. Tonka hatte sie herstellen lassen. Sie sah aus wie die Frauen aus ihrer Welt und konnte auf Knopfdruck die Farben ihrer Haut verändern. Ein Renner in allen Kinderzimmern!
»Spielen wir noch das Weltenspiel?«, flüsterte Hannen, während sie ihre Puppe anknipste und das Farbspiel betrachtete.
Lara sah am Fußende des Betts, dass ein heller Schimmer erschien. Timo gesellte sich zu ihnen und lächelte sie glücklich an.
»Natürlich.« Lara legte sich neben ihre Tochter. »Du fängst an.«
»Ich erschaffe eine Welt«, sagte Hannen. »Eine Welt voll mit Schotolade. Und ich bin die Einzite, die da lebt.«
»Und was ist mit mir?«, empörte sich Lara.
»Du darfst auch tommen.«
»Habe ich ein Glück.« Lara grinste.
»Jetzt du!«, forderte Hannen.
»Ich erschaffe eine Welt«, sinnierte Lara. »Eine Welt, die aus Blumen besteht, in der alle Wesen fliegen können und so hübsch wie Schmetterlinge sind. Es gibt dort Quellen mit silbernem Wasser, und wer einmal davon trinkt, hat nie wieder Durst. Jetzt du.«
»Ich erschaffe eine Welt«, murmelte Hannen schon etwas verschlafen. »Eine Welt zum Ausmalen. Alles ist weiß, und ich darf alles malen.« Sie öffnete noch einmal ihre großen Augen und sah Lara auffordernd an. »Jetzt du!«
Ende des dritten Buches