Heute

Das Gebäude steht auf dem Grat eines Abhangs. Giosos Apostolidis Refuge. Durch seine schiere Größe macht der Abhang aus dem Haus ein Zwergenhüttchen. Ich wandere den kargen Hang hinauf. Ich kann wirklich nicht mehr. Aber der Anblick der Hütte setzt die letzten Reserven frei.

Noch fünfhundert Meter. Noch hundert. Noch zwanzig.

Mich empfangen zwei Hunde, schäferhundgroße Mischlinge. Wie sind die hier raufgelangt? Klar, jemand lebt in der Hütte und betreut die Bergsteiger. Aber wie hat er seine Hunde hierhergebracht? Mit dem Helikopter? Das könnte sein. Die steilen Abhänge, die ich zu bezwingen hatte, können die Maultiere nicht bewältigen, und irgendwie müssen ja Trinkwasser und Nahrungsmittel hier hinaufgebracht werden.

Ich setze mich, um Atem zu holen.

Seltsam, es kommt niemand. Nach einer Weile stehe ich auf und gehe zur Tür. Sie lässt sich öffnen. Aber das Gebäude ist leer, die Wolldecken auf den schlichten Doppelstockbetten sind ordentlich gemacht, die Küche ist kalt. Niemand hier. Vielleicht gab es einen Notfall?

Als ich wieder nach draußen trete, stoße ich beinahe mit einem Mann zusammen. Das Haar ist raspelkurz geschoren, und er ist breitschultrig wie ein Holzfäller. Er gibt mir eine Gettofaust. Offenbar der Hüttenwirt.

Ich zeige ihm dein Foto.

Er weist hinüber zum Gipfel und sagt: „Profitis Ilias.“ Dann ergänzt er: „Beautiful woman.“

Ja, und wie!, denke ich. „She left me and broke my heart.“

Er sagt: „You go up there. Pray in the chapel, take your time. She’ll come back.“ Er legt mir für einen Moment seine Hand auf die Schulter, dann geht er in das Gebäude.

Ich müsste dringend ausruhen. Aber ich kann nicht warten. Während ich den Hügel hinaufsteige, denke ich daran, dass du hier warst. Es treibt mich weiter. Als könnte ich dich dort oben finden.

Das letzte Stück muss ich klettern, die Hügelkuppe ist steiler, als ich zuerst glaubte. Dann sehe ich sie, eine Kapelle, errichtet aus den Steinen, die hier überall herumliegen. Nicht mal Mörtel hat man verwendet. Man hat sie einfach aufeinandergeschichtet. Ein Mäuerchen aus den gleichen Steinen umgibt sie. Hier hast du für das Foto gestanden, vor dieser Mauer.

Dass es dir auf diesem Flecken Erde gefallen hat, verstehe ich vollkommen. Mein Blick schweift über das Land. Halb Griechenland kann man sehen. Wenige Wolkenfetzen hängen über mir, dann ist da nur noch der Himmel. Ich bin dem Himmelsblau näher als dem Land. Ein Zittern läuft über meinen Leib. Mir wird bewusst, wie lange ich mich zusammengenommen habe.

Ich wende mich der kleinen Kapelle zu. Welchen Sinn hat es, hier so etwas zu errichten? Wollen die Bergsteiger beten?

Gebückt trete ich durch die kleine Türöffnung. Ich erkenne kaum etwas im dunklen Kapelleninneren. Allmählich gewöhnen sich meine Augen an das schwache Licht. In Kopfhöhe hängen Heiligenbilder mit glänzendem Goldlack an den Wänden, manche sind bloß auf Zettelchen gedruckt, andere haben einen dünnen Holzrahmen. Am Boden stehen heruntergebrannte Kerzen. Jemand muss die hier hochgetragen haben.

So sehr hoffen die Menschen, dass Gott ihnen ein gutes Leben schenkt. Wenn einem dauernd gesagt wird, dass Gott einen liebt, ist das die logische Schlussfolgerung. Man hat das mächtigste Wesen des Universums zum Freund. Da wird dieses Wesen doch ab und an etwas für einen tun können. Wer an Jesus glaubt, hat keinen Autounfall, bleibt gesund und seine Ehe glückt. Beruflicher Erfolg stellt sich ebenfalls ein. So ungefähr stellen sie es sich vor.

Dann stoßen ihnen Sachen zu. Sie beten inbrünstig, vertrauen darauf, dass Gott sie nicht enttäuschen wird, und werden trotzdem krank. Sie scheitern im Beruf, werden vom Partner verlassen, ihr Kind gerät in Schwierigkeiten. Was ist Gottes Liebe wert, wenn sie sich überhaupt nicht zeigt?, fragen sie sich.

Und wenn es gar nicht sein Wunsch ist, uns glücklich zu machen?

Weil es keine Bänke gibt, setze ich mich auf einen Stein, der neben dem Eingang liegt. Es kommt mir vor, als wärst du eben erst hier gewesen, vor fünf Minuten. Dein Duft schwebt noch im Raum.

Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll mit der Suche nach der Bedeutung von allem.

Einsamkeit, Verrat, Mord, Missbrauch, Vernachlässigung, Prahlerei, Eifersucht, Gier, Geiz … Überall auf der Welt werden den Menschen Wunden geschlagen. Gleichzeitig werden weder die Guten beschützt, noch geht es den Unmoralischen schlecht. Es gibt Glück ohne Verdienst und Verhängnis ohne Schuld. Gott lässt es einfach so geschehen.

Den Anschlag auf Hitler hat er nicht glücken lassen. Bonhoeffer aber wurde kurz vor Kriegsende noch umgebracht. Das konnte Tante Friedchen nie verstehen.

Er belohnt die Guten nicht. Wahrscheinlich ist das Absicht. Ich habe mal gelesen, dass gutes Verhalten nachlässt, wenn man es bezahlt. Wir Menschen wollen aus freien Stücken moralisch handeln, nicht, weil wir etwas dafür bekommen.

Als man zum Beispiel in Amerika anfing, für Blutspenden Geld zu bezahlen, gingen die freiwilligen Blutspenden zurück. Aus dem Blut war eine Handelsware geworden, es war kein Akt der Güte mehr, sein Blut herzugeben, um andere zu retten. Ärmere gingen Blut spenden und verdienten sich etwas damit. Wer das nicht nötig hatte, fragte sich, ob er mit seiner Blutspende womöglich einem Obdachlosen den Platz wegnahm, und ob es nicht besser war, 50 Dollar zu spenden, damit ein anderer Blut spenden gehen konnte. Oder man ließ es gleich bleiben und überließ die Sache dem Marktgeschehen. Wenn sie zu wenig Blut hatten, mussten sie eben die Entlohnung erhöhen.

Das Geld hatte die Freude am Helfen zerstört. Es gibt Dinge, die ein Belohnungssystem nicht verkraften. Liebe zum Beispiel. Bezahlte Liebe fühlt sich schal an. Freundschaft genauso: Da wird nicht aufgezählt und abgewogen.

Ein direkter Zusammenhang zwischen moralischem Handeln und göttlicher Unterstützung würde alles Gute, das wir tun, auf das Schnäppchen reduzieren, auf den Deal, den wir mit Gott abschließen. Ich helfe meinem gestressten Vater und wasche ihm das Auto. Lässt du mich dafür in der Deutschklausur eine gute Note schreiben? Ich spende Geld für die Kirche und bete so häufig und inbrünstig, dass ich mir damit dein Eingreifen verdiene. Da ist zwar diese Sünde, aber auch so viel Gutes in meinem Leben, das wiegt sich auf, oder nicht?

Vielleicht würde man nicht bewusst so denken, aber unterschwellig wäre es immer dabei. Wir wären wie Kinder, die sich durch Wohlverhalten Süßigkeiten verdienen wollen.

Gekaufte Liebe aber ist nichts wert. Auch ich werde mir deine Liebe nicht kaufen mit meiner Reise und dem, was ich dir zukommen lasse, Lenja, das ist mir klar.

Ich sitze erschöpft in einer winzigen Kapelle auf dem Olymp und weiß: Sollten wir kein Paar mehr werden, weil du mich nicht mehr haben willst, muss ich das respektieren. Trotzdem möchte ich dir wiedergeben, was du durch mich verloren hast.

Du bist religiös musikalisch. Du besitzt die nötige Begabung dafür, glauben zu können. Zumindest hast du es jahrelang gekonnt. Es fiel dir leicht, wie anderen das Singen leichtfällt. Ich bin überzeugt, dass es ein angeborenes Talent dafür gibt, das Größere zu suchen, eine Sensibilität für das, was unsere Sinne übersteigt. Du hast diese Fähigkeit, das Signal von Heiligkeit aufzunehmen und von Gottes Geheimnis. Ich dagegen muss darum ringen.

Wenn es mir trotzdem gelingt, die Schönheit des Glaubens zu finden, und ich sie dir vor Augen führe, wirst du dorthin zurückfinden, da bin ich mir sicher.

Ich trete wieder nach draußen. Sehe hinüber zum Meer, dieser endlosen tiefblauen Weite. Die Sonne verschmilzt mit dem Horizont. Es gibt etwas, das größer ist als wir. Ich spüre es hier in den Bergen, spüre es in meiner Sehnsucht nach Liebe.

Ich hole den Zeichenblock heraus und skizziere die Hütte, die kleine Mauer, den Sonnenuntergang.

Das Problem mit dem Beten habe ich nicht gelöst. Wie kann ich mir einen guten Dienstplan im Supermarkt wünschen oder einen Studienplatz an der Kunsthochschule, während andere verhungern, die genauso ernsthaft beten?

Wenn er „unser Vater im Himmel“ ist, dann ist er auch der Vater der Menschen in den Flüchtlingsbooten. Und der Vater der Unberührbaren in Indien. Und der Vater der Slumkinder in Brasilien. Während wir erwarten, dass Gott unser Stoßgebet erhört und uns einen Parkplatz schenkt, ersaufen verzweifelte Familien im Mittelmeer. Flüchtlinge ersticken im Lkw. Kinder verbluten in der Ukraine.

Irgendetwas ist gehörig falsch daran. Wer hier lebt und sich von Gott ein bequemes Leben erbittet und die Traurigkeit der anderen ausblendet, um an einen guten Gott glauben zu können, hat keine Augen im Kopf.

Was tut Gott, um das Gute voranzubringen?

Natürlich könnte er allen Menschen helfen, könnte rund um die Uhr ihre Bedürfnisse stillen und sie versorgen. Stattdessen hat er sich offenbar entschieden, die Menschen selbst in Anspruch zu nehmen. Er lässt sie einander versorgen, trösten, umarmen. Eine furchtbare Idee. Wir kriegen es nicht hin.

Gott sieht es sich an. Jeden Tag. Und erträgt es.

Welche Würde den Menschen damit verliehen wurde! Auch wenn wir es tausendfach vermasseln, auch wenn wir leiden und weinen. Welche Schönheit der Mensch besitzt! Gerade weil er weinen kann. Am ehrlichsten sind die Tränen, wenn wir unsere eigenen Fehler bereuen. Es sind gute Tränen.

Wie viel Zeit wir vergeuden! Dieses Zeitalter ist darin unübertroffen: Zeit totzuschlagen.

Vielleicht tut Gott mehr, als wir meinen, und verschleiert in den meisten Fällen sein Eingreifen. Ein großes, weises Wesen, das mühevoll verbirgt, wie überlegen es uns ist.

Steckt darin nicht auch eine beeindruckende Behutsamkeit? Gott hält den Atem an wie ein Naturforscher, auf dessen Hand ein Schmetterling gelandet ist. Unsere zarten Flügel sind so zerbrechlich.

Ob es ihm wehtut, wenn wir ihn ablehnen? Echte Liebe ist nur möglich, wenn man sich verletzlich macht.

Und selbst wenn wir beten, sind wir meist gar nicht wirklich an Gott interessiert.

Wir wollen nicht wissen, was er denkt. Wir lauschen nicht. Die Gebete sind immer gleich: Lass die Prüfung gelingen, gib mir eine Beförderung, gib mir Geld, beschütze mich, unterstütze mich. Das nennen wir Glauben.

Andererseits, wer führt schon gern lange Gespräche, wenn das Gegenüber nie etwas sagt?

Gott zeigt sich nicht. Er lässt uns im Dunkeln tappen.