Wattenmeer, Sussex,
Mittsommerabend, Juni 1648
D ie Kirche erhob sich grau vor einem Himmel in hellerem Grau, der Glockenturm dunkel vor noch dunkleren Wolken. Als die Flut flüsternd über das Watt kam und mit einem kleinen Zischen wieder vom Strand zurückwich, vernahm die junge Frau das leichte Knirschen des Kieses.
Es war der Vorabend des Johannistags, dem Höhepunkt des Jahres, und obwohl die Nacht warm war, fröstelte sie. Denn sie war hier, um einen Geist zu treffen. In dieser Nacht wandelten die Toten herum, in dieser Nacht und an den Tagen ihrer Namenspatrone.
Allerdings bezweifelte sie, dass ihr versoffener, brutaler Ehemann unter dem Schutz eines bestimmten Heiligen gestanden hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass auf seinem unsteten Weg zwischen Meer und Wirtshaus himmlische Augen auf ihn geblickt hatten. Sie wusste nicht, ob er weggelaufen oder tot war, oder ob er gewaltsam von der treulosen Flotte, die sich gegen ihren König gewandt hatte und nun unter der Rebellenflagge fürs Parlament segelte, als Matrose angeworben worden war.
Sollte sie seinen Geist sehen, wüsste sie endlich mit Sicherheit, dass er tot war. Sie könnte sich zur Witwe erklären lassen und frei fühlen. Falls er ertrunken war, würde sein Geist ganz gewiss in dieser Mittsommernacht kommen. Während der fahle Schimmer aus dem Westen davon sprach, dass die Sonne sich weigerte unterzugehen, würde er auf dem nebligen Friedhof herumirren und dabei Wasser vertropfen. Alles fiel aus Raum und Zeit an diesem Mittsommerabend mit seinem Vollmond. Die Sonne war nicht versunken, der Thron war leer, die Welt aus den Fugen: ein König im Gefängnis, Rebellen an der Macht und ein blasser Mond, weiß wie ein Totenkopf inmitten grauer, fliegender Wolkenfetzen.
Falls sie dem Geist ihres Ehemannes begegnen sollte, der wie Seenebel durch die dunklen Eiben trieb, wäre sie so glücklich, wie sie es seit ihrer Kindheit nicht mehr gewesen war. Falls er ertrunken war, war sie frei. Falls er unter den Wiedergängern weilte, würde sie ihn ganz bestimmt treffen, denn wie schon ihre Mutter, ihre Großmutter, wie seit Generationen alle Frauen ihrer Familie, die seit jeher hier in den Wattgebieten der angelsächsischen Küste gelebt hatte, besaß sie das Zweite Gesicht.
In dem überdachten Kirchenportal standen zu beiden Seiten des Eingangs alte Holzbänke aus verzogenen Schiffsplanken. Sie wickelte sich das Tuch fester um die Schultern und setzte sich. Sie wollte darauf warten, dass der Mond seinen mitternächtlichen Höchststand über dem Kirchdach erreichte. Mit dem Rücken lehnte sie sich an die kalten Steine. Sie war siebenundzwanzig Jahre alt und so erschöpft wie eine Sechzigjährige. Ihre Augen fielen zu, und sie begann einzudämmern.
Das Knarren des überdachten Kirchhoftors und schnelle Schritte auf dem Kiesweg des Friedhofs rissen sie jäh aus dem Schlaf und ließen sie aufspringen. Sie hatte nicht geglaubt, dass der Geist ihres Ehemannes so früh käme – im Leben war er stets zu spät gewesen –, doch falls er es sein sollte, musste sie mit ihm reden.
Atemlos trat sie aus dem Kirchenportal hervor und nahm ihren Mut zusammen. Sie war entschlossen, jeglicher Erscheinung, die ihr aus dem Dunkel des Friedhofs entgegenkam, die Stirn zu bieten. Sie konnte das Salzwasser in der Luft riechen, den flüsternden Atem des hereinkommenden Meers hören und sein Herannahen spüren. Vielleicht war er vom Meerwasser durchtränkt, vielleicht zog er eine Seetangspur hinter sich her – doch dann bog ein junger Mann um die Ecke, wich beim Anblick ihres weißen Gesichts zurück und rief aus: »Gott bewahre! Seid Ihr von dieser Welt oder aus dem Jenseits?«
Im ersten Moment war sie zu entsetzt, um etwas zu erwidern. Völlig reglos stand sie da und starrte ihn an, als würde sie durch ihn hindurchblicken, die Augen zusammengekniffen bei dem Versuch, über ihre irdische Sicht hinauszusehen. Vielleicht war er einer der Untoten: Einst ertrunken, einst erhängt, war er in dieser Nacht unterwegs, der Nacht dieser Geister, unter dem Mittsommermond, ihrem Mond. Er war so schön wie ein Prinz aus dem Märchen, mit langem, dunklem, im Nacken zusammengebundenem Haar und dunklen Augen in einem vornehm blassen Gesicht. Hinter dem Rücken verschränkte sie die Daumen zwischen den Fingern im Zeichen des Kreuzes, ihre einzige Waffe, um nicht verführt oder davongetragen zu werden, während dieser junge Lord aus einem Königreich in der anderen Welt ihr das Herz brach.
»Sprecht!« Er war atemlos. »Wer seid Ihr? Was seid Ihr? Eine Erscheinung?«
»Nein, nein!«, widersprach sie ihm. »Ich bin eine Frau, eine sterbliche Frau, die Schwester des Fährmanns, die Witwe von Zachary, dem vermissten Fischer.«
Viel später würde sie sich daran erinnern, dass sie ihm als Erstes gesagt hatte, sie sei eine sterbliche Frau, eine verheiratete Frau, eine Witwe, kraft eines Mannes in dieser Welt verankert.
»Wer? Was?«, wollte er wissen. Er war ein Fremder: Die Namen sagten ihm nichts, wohingegen jeder vom Watt sie auf Anhieb gekannt hätte.
»Wer seid Ihr?« An seiner gut geschnittenen dunklen Jacke und dem Spitzenkragen erkannte sie, dass er dem Adel angehörte. »Was macht Ihr hier, Sir?« Hinter ihm hielt sie nach seinem Bediensteten, seinem Begleitschutz Ausschau.
Im gespenstischen Halbdunkel erstreckte sich der leere Friedhof bis hin zu der niedrigen Mauer aus gespaltenen Flintsteinen, die dunkel im Mondschein glänzten, als seien sie überspült und nass zurückgelassen worden. Die Bäume mit ihren dichten Kronen beugten sich und warfen einen dunkleren Schatten auf den ohnehin dunklen Boden. Das Licht des Mondes warf die Konturen der Grabsteine auf das Gras, zu hören war nichts außer dem sanften Seufzen der hereinkommenden Flut.
»Ich darf nicht gesehen werden«, murmelte er.
»Niemand ist hier, der Euch sehen könnte.« Als sie seine Angst so wegwerfend abtat, betrachtete er abermals ihr ovales Gesicht, ihre dunkelgrauen Augen: eine Frau, so schön wie eine Madonna, doch das Haar unter ihrem Kopftuch verborgen, ihre Gestalt in der schäbigen Kleidung formlos.
»Was macht Ihr zu dieser Nachtstunde hier?«, fragte er misstrauisch.
»Ich bin zum Beten gekommen.« Sie würde diesem Fremden nicht auf die Nase binden, dass eine Witwe, die sich am Mittsommerabend auf dem Friedhof aufhielt, bekanntermaßen darauf wartete, ihrem toten Ehemann zu begegnen.
»Beten?«, wiederholte er. »Gott segne Euch für den Vorsatz. Dann lasst uns reingehen. Ich werde mit Euch beten.«
Er drehte an dem schweren Türknauf und fing, um kein Geräusch zu verursachen, den Riegel auf, als dieser sich auf der anderen Seite hob. Leise wie ein Dieb betrat er vor ihr die Kirche. Sie zögerte, doch er wartete auf sie, hielt ohne ein weiteres Wort die Tür auf, und sie folgte ihm. Als er die Tür hinter ihnen schloss, war da nur das trübe Licht von den Buntglasfenstern, golden und bronzefarben auf dem Steinplattenboden. Das Geräusch des ansteigenden Meers war verstummt.
»Lasst die Tür auf«, bat sie nervös. »Hier drinnen ist es so dunkel.«
Er öffnete sie einen Spalt, und ein Band aus blassem Mondschein erstreckte sich zu ihren Füßen den Mittelgang entlang.
»Weshalb seid Ihr hier?«, fragte sie. »Seid Ihr ein Gentleman aus London?« Es war die einzige Erklärung für seinen sauberen Kragen und die guten Lederstiefel, den kleinen Rucksack, den er trug, und die warme Intelligenz auf seinem Gesicht.
»Das darf ich nicht sagen.«
Er konnte einer der Agenten sein, die entweder für das Parlament oder den König auf der Suche nach Rekruten durchs Land reisten, bloß dass niemand je auf die Insel Sealsea kam. Außerdem war er allein, ohne Begleiter oder auch nur ein Pferd, als wäre er vom Himmel gefallen.
»Seid Ihr ein Schmuggler, Sir?«
Seine Antwort kam in Form eines kurzen Lachens, das beim gespenstischen Echo seiner Stimme in der leeren Kirche schlagartig abbrach.
»Was denn dann?«
»Ihr dürft niemandem sagen, dass Ihr mich gesehen habt.«
»Und Ihr auch nicht, dass Ihr mich gesehen habt«, erwiderte sie.
»Könnt Ihr ein Geheimnis für Euch behalten?«
Sie seufzte einen nebligen Atemzug in die kalte, abgestandene Luft. »Gott weiß, dass ich viele bewahre.«
Er zögerte, als wisse er nicht, ob ihr zu trauen war oder nicht. »Und seid Ihr vom neuen Glauben?«, fragte er.
»Ich weiß nicht, was daran richtig oder verkehrt ist«, sagte sie vorsichtig. »Ich bete, wie der Pfarrer es mich gelehrt hat.«
»Ich bin vom alten Glauben, dem wahren Glauben«, gestand er im Flüsterton. »Ich bin hierher eingeladen worden, doch die Leute, mit denen ich mich treffen wollte, sind fort. Ihr Haus, wo ich in Sicherheit gewesen wäre, ist verschlossen und dunkel. Heute Nacht muss ich mich irgendwo verstecken, und wenn ich mich gar nicht mit ihnen treffen kann, muss ich irgendwie zurück nach London gelangen.«
Alinor starrte ihn an, als sei er in Wahrheit ein Elfenlord und eine Gefahr für eine sterbliche Frau. »Wollt Ihr damit sagen, dass Ihr Priester seid, Sir?«
Er nickte, als vertraue er Worten nicht.
»Einer, der aus Frankreich geschickt wurde, um mit den heimlichen Papisten die ketzerischen Gottesdienste abzuhalten?«
Er schnitt eine Grimasse. »Unsere Feinde würden das so sagen. Ich würde sagen, ich diene den wahren Gläubigen Englands und bin dem König von Gottes Gnaden treu verbunden.«
Verständnislos schüttelte sie den Kopf. Der Bürgerkrieg war nicht näher als bis nach Chichester gekommen, eine kleine Stadt sechs Meilen entfernt auf dem Festland, die unter der Belagerung parlamentarischer Streitkräfte zusammengebrochen war.
»Bei der Niederlage von Chichester sind alle Papisten ausgeliefert worden«, warnte sie ihn. »Sogar der Bischof ist auf und davon. Hier in der Gegend sind alle fürs Parlament.«
»Und Ihr nicht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Für mich und die Meinen hat keiner je was getan. Aber mein Bruder ist ein Mann der Armee und ihnen sehr treu ergeben.«
»Aber Ihr werdet mich nicht ausliefern?«
Sie zögerte. »Schwört Ihr, dass Ihr kein Franzose seid?«
»Durch und durch Engländer. Und meinem Land treu.«
»Aber am Spionieren für den König?«
»Ich bin dem geweihten König gegenüber loyal«, erklärte er. »Wie es jeder Engländer sein sollte.«
Sie schüttelte den Kopf, als bedeuteten ihr große Worte nichts. Der König war vom Thron vertrieben worden, seine Herrschaft auf seinen Haushalt zusammengeschrumpft, sein Palast die kleine Burg Carisbrooke Castle auf der Insel Wight. Alinor kannte niemanden, der einem solchen König, der sechs lange Jahre Krieg über das Land gebracht hatte, die Treue geloben würde.
»Wolltet Ihr in der Propstei unterschlüpfen, Sir?«
»Das darf ich Euch nicht verraten. Es steht mir nicht zu, dieses Geheimnis zu lüften.«
Seine übermäßige Geheimniskrämerei entlockte ihr ein leises, ungeduldiges Geräusch. Auf der Insel Sealsea lebte eine derart kleine Gemeinde, nicht mehr als einhundert Familien. Sie kannte jede einzelne davon. Ganz offensichtlich hätte nur ihr Grundherr den Mut gehabt, einen Papistenpriester und royalistischen Spion verstecken zu wollen. Nur die Propstei, das einzige prächtige Haus auf der Insel, hatte ein Bett und Bettwäsche, die eines solchen Gentlemans würdig waren. Nur dem Grundherrn, Sir William Peachey, würde im Traum einfallen, den besiegten König zu unterstützen. All seine Pächter waren fürs Parlament und für die Befreiung von der niederdrückenden Besteuerung, die vom König und den Lords ausging. Es war typisch für Sir William, ein solch riskantes Angebot zu machen, sich dann jedoch nicht daran zu halten und seinen heimlichen Gast gedankenlos in Lebensgefahr zu bringen. Falls dieser junge Mann den Parlamentsleuten in die Hände fallen sollte, würden sie ihn als Spion aufhängen.
»Weiß jemand, dass Ihr hier seid?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe das Haus aufgesucht, zu dem ich gehen sollte, das sichere Versteck, doch es lag im Dunkeln und war abgesperrt. Es war ein Klopfzeichen an der Gartentür vereinbart, aber niemand kam. Über den Baumwipfeln habe ich den Kirchturm gesehen, also bin ich hergekommen, um zu warten. Vielleicht wird man mir später die Tür öffnen, wenn jetzt gerade alle schlafen. Ich wusste nicht, wohin ich mich sonst wenden sollte. Als ich zur Flut mit dem Schiff hergekommen bin, sah die Gegend Meile um Meile wie ein Ödland aus Meer und Schlick aus. Ich besitze noch nicht einmal eine Landkarte!«
»Oh, eine Landkarte gibt es nicht«, erklärte sie ihm.
Er sah entgeistert aus. »Keine Landkarte? Warum ist die Gegend denn nicht kartografiert worden?«
»Es ist das Watt«, erklärte sie ihm. »Gezeitenland. Die Kiesbank vorm Hafen und der Hafen selbst ändern sich bei jeder Sturmflut. Die Bewohner von Chichester nennen ihn ›Wandering Haven‹, den wandernden Hafen. Das Meer dringt in die Felder vor und holt sich das Land zurück. Die Gräben laufen über und bilden neue Seen. Hier bleibt nichts lang genug gleich, um vermessen zu werden. Das hier ist das Watt: halb Land, halb Meer, zu nichts zu gebrauchen, nach Westen bis hinüber zum New Forest, nach Osten bis zu den weißen Klippen.«
»Ist der Pfarrer dieser Kirche einer der neuen Männer?«
»Er ist schon seit Jahren hier und tut, was man ihm sagt. Jetzt bekommt er seine Befehle vom neuen Parlament. Er hat die Heiligenbilder noch nicht entfernt oder die Fenster verhängt. Aber er hat die Statuen heruntergenommen, statt des Altars verwendet er einen einfachen Holztisch, und er betet auf Englisch. Er hat gesagt, der gute König Henry habe uns vor hundert Jahren von Rom befreit, und König Charles wolle uns dorthin zurückbringen, aber es werde ihm nicht gelingen. Er sei besiegt. Er sei ruiniert, und das Parlament habe den Krieg gegen den König gewonnen.«
Vor Zorn verfinsterte sich das Gesicht des Fremden. »Sie haben nicht gewonnen«, sagte er bestimmt. »Sie werden niemals gewinnen. Sie können nicht gewinnen. Es ist noch nicht vorüber.«
Sie schwieg. In ihren Augen war es für den König längst vorüber: er in Gefangenschaft, seine Frau nach Frankreich geflohen, zwei kleine Kinder zurückgelassen, und sein Sohn, der Prinz, in die Niederlande gereist. »Ja, Sir.«
»Würde er mich denunzieren, dieser Pfarrer?«
»Das müsste er wohl.«
»Gibt es hier irgendjemanden vom alten Glauben? Versteckt? Auf dieser Insel?«
Sie breitete die Hände aus, wie um ihre Unwissenheit zu zeigen. Ihre Handflächen waren von den Panzern von Hummern und Krebsen und den rauen Fischernetzen zerschrammt und narbenübersät.
»Ich weiß nicht, was Menschen im Herzen tragen«, sagte sie. »In Chichester waren viele für den König, manche von ihnen Papisten, aber sie wurden umgebracht oder sind davongelaufen. Ich kenne niemanden außer ein oder zwei alten Frauen, die sich noch an den alten Glauben erinnern. Die meisten Leute sind wie mein Bruder: gottselige Männer. Mein Bruder hat in der New Model Army unter dem General gekämpft. General Cromwell heißt er. Ihr werdet von ihm gehört haben?«
»Ja, ich habe von ihm gehört«, sagte er grimmig. Er hielt inne und dachte angestrengt nach. »Kann ich heute Nacht nach Chichester gelangen?«
Sie schüttelte den Kopf. »Die Flut kommt gerade herein, und für mitten im Sommer ist sie heute Nacht hoch. Man kann die Furt zur Straße nach Chichester bis zum Morgen nicht überqueren, und dann würde man Euch sehen. Wird Euer Boot nicht zurückkommen, um Euch abzuholen?«
»Nein.«
»Dann werdet Ihr Euch bis zur Ebbe morgen Abend verstecken und in der Dämmerung über die Furt gehen müssen. Die Fähre könnt Ihr nicht nehmen. Mein Bruder ist der Fährmann, und er würde Euch sofort festnehmen.«
»Woran würde er mich als Kavalier erkennen?«
Ihr Lächeln ließ ihr Gesicht erstrahlen. »Sir, niemand auf Sealsea sieht aus wie Ihr! Nicht einmal Sir William ist so vornehm.«
Er errötete. »Nun, wenn ich auf der Insel bleiben muss, wo kann ich mich verstecken?«
Sie überlegte einen Augenblick. »Ihr könnt bis morgen Abend im Schuppen meines Ehemanns bleiben«, bot sie an. »Das ist der einzige Ort, der mir einfällt. Eigentlich taugt er nicht für Euch. Dort hat mein Mann seine Netze aufbewahrt und seine Eimer. Aber er wird nun schon seit Monaten vermisst, und mittlerweile geht keiner mehr dorthin. Ich kann Euch am Morgen etwas zu essen und Wasser bringen. Und wenn es hell ist, könnt Ihr vielleicht zur Propstei gehen, gleich dort drüben. Ihr könntet am Morgen heimlich hingehen und darum bitten, mit dem Verwalter zu sprechen. Seine Lordschaft ist auswärts, aber vielleicht nimmt Euch der Verwalter auf. Ich weiß es nicht. Woran sie glauben, kann ich nicht sagen. Ich weiß es nicht.«
Dankbar neigte er den Kopf. »Gott segne Euch«, sagte er. »Ich glaube, Gott muss Euch mir als Retterin geschickt haben.«
»Zuerst zeige ich Euch den Netzschuppen, bevor Ihr mich dafür segnet, dass ich Euch dort schlafen lasse«, sagte sie. »Für Leute wie Euch ist der nichts. Dort stinkt es nach altem Fisch.«
»Einen anderen Ort habe ich nicht«, sagte er schlicht. »Ihr seid meine Retterin. Sollen wir gemeinsam beten?«
»Nein«, sagte sie schroff. »Am besten bringen wir Euch in das Versteck. Ich glaube zwar nicht, dass noch jemand zu dieser Nachtzeit kommt, aber man weiß nie. Manche halten sich gern für sehr gottselig. So jemand könnte herkommen, um im Morgengrauen zu beten.«
»Ihr seid zum Beten hergekommen«, rief er ihr ins Gedächtnis. »Seid Ihr gottselig? Seid Ihr eine der gottseligen Gläubigen?«
Sie errötete angesichts ihrer eigenen Lüge. »Eigentlich bin ich nicht deswegen hergekommen.«
»Weswegen denn dann?«
»Egal.«
Ihre Verlegenheit ließ ihn vermuten, sie habe sich im Rahmen irgendeiner schmutzigen Dorfaffäre zu einem Stelldichein eingefunden. »Wo sind der Netzschuppen und Euer Zuhause?«
»Oben am Watt, in der Nähe des Fährhauses, von der Mühle aus über den Rife.«
»Den Rife?«
»Der Broad Rife«, sagte sie. »Der Fluss, der oben in das Watt fließt. Er richtet sich nach den Gezeiten, ebbt ab und schwillt an, aber er trocknet niemals aus. Gerade ist der Pegel hoch. Es war so ein nasser Sommer, dass die Furt schon seit Wochen nicht mehr trocken gewesen ist.«
»Die Fähre Eures Bruders überquert den Rife bei Flut?«
»Und bei Ebbe gibt es eine Furt, auf der Menschen zu Fuß hinüberkönnen.«
»Ich will Euch nicht in Gefahr bringen. Ich werde den Weg schon finden, wenn Ihr mir die Richtung beschreibt. Ihr müsst mich nicht führen.«
»Das schafft Ihr nicht. Das Wattland ist wie ein Irrgarten aus Pfaden, und es gibt tiefe Tümpel und Kanäle«, erklärte sie. »Das Meer kommt schneller herein als ein trabendes Pferd und breitet sich schneller über das Land aus, als ein Mensch laufen kann. Man kann im Schlamm stecken bleiben oder auf einem Pfad abgeschnitten werden, eingeschlossen vom Wasser. Es gibt Treibsand, den man nicht sieht, bis der Fuß darin versinkt und man ihn nicht mehr herausziehen kann. Nur wir, die wir hier geboren und aufgewachsen sind, überqueren je den Sumpf. Ich werde Euch hinbringen müssen.«
Er nickte. »Gott wird Euch hierfür segnen. Er muss Euch geschickt haben, damit Ihr mich führt.«
Sie sah skeptisch aus, als sei Gott in ihrem Leben nicht gerade großzügig mit seinem Segen gewesen. »Sollen wir jetzt gehen? Wir werden eine Weile brauchen.«
»Gehen wir«, entschied er. »Wie soll ich Euch nennen? Ich bin Pater James.«
Vor der Priesteranrede schauderte sie zurück. »So kann ich Euch nicht nennen! Da könnte ich genauso gut zu den Richtern gehen und mich auf der Stelle verhaften lassen! Wie lautet Euer richtiger Name?«
»Ihr könnt mich James nennen.«
Sie zuckte leicht mit den Schultern, als empfände sie seine Diskretion als kränkend. »Ich trage den Namen meines Ehemannes«, erwiderte sie. »Alle nennen mich Mrs Reekie.«
»Wie soll ich Euch nennen?«
»Nennt mich so«, sagte sie trotzig. »Da Ihr mir Euren wahren Namen nicht verratet, warum sollte ich Euch meinen verraten?«
Sie wandte sich von seinem überraschten Gesicht ab und ging vor ihm aus der Kirche, geduldig wartend, während er sich tief vor dem Altar verneigte, auf ein Knie ging und die Hand auf den Boden legte. Sie hörte, wie er im Flüsterton ein Gebet für seine und ihre Sicherheit sprach und für alle, die in dieser Nacht dem wahren Glauben Englands dienten, für den König in seiner grausamen Gefangenschaft und den Prinzen im Ausland.
»Mein Mann wird vermisst«, erklärte sie, als er zu ihr an die Tür trat. »Er ist schon seit über einem halben Jahr verschwunden.«
»Gott segne ihn und schütze Euch.« Er machte das Zeichen des Kreuzes über ihrem Kopf. Da sie die Geste noch nie zuvor gesehen hatte, wusste sie nicht, dass sie den Kopf neigen und sich selbst bekreuzigen sollte. Seit beinahe hundert Jahren hatte sich in England niemand mehr öffentlich bekreuzigt. Man hatte die Angewohnheit abgelegt, und diejenigen, die immer noch römisch-katholischen Glaubens waren, waren sorgsam darauf bedacht, ihn im Verborgenen zu halten.
»Danke«, sagte sie verlegen.
»Habt Ihr Kinder?«
Sie öffnete die schwere Tür zum Portal, um sich zu vergewissern, dass der Friedhof verlassen dalag, und bedeutete ihm dann, ihr zu folgen. Im Gänsemarsch gingen sie zwischen Gräbern hindurch, wo die Steine so stark von Moos und Flechten überwuchert waren, dass sich nur vereinzelte Buchstaben erkennen ließen.
»Zwei, die noch am Leben sind«, sagte sie über die Schulter. »Ich danke Gott für sie. Meine Tochter ist dreizehn, und mein Sohn ist zwölf.«
»Und fischt Euer Sohn anstelle seines Vaters?«
»Das Boot ist auch verschwunden«, sagte sie, als sei das der eigentliche Verlust. »Deshalb können wir nur vom Strand aus mit einer Schnur angeln.«
»Der Herr rief einen Fischer zu sich, bevor er irgendjemanden sonst zu sich rief.«
»Ja«, sagte sie. »Aber wenigstens hat der das Boot zu Hause gelassen.«
Ihre Respektlosigkeit brachte ihn zum Lachen, und sie drehte sich um und fiel in das Gelächter ein, und abermals sah er die helle Wärme ihres Lächelns. Es war so heftig und strahlend, dass er am liebsten ihre Hand ergriffen und sie dazu gebracht hätte, ihn weiter anzulächeln.
»Das Boot ist nun einmal so wichtig.«
»Das weiß ich sehr wohl.« Er packte die Schulterriemen seines Rucksacks, um seine Hände vor Versuchungen zu schützen. »Wie kommt Ihr ohne Boot oder Ehemann über die Runden?«
»Schlecht«, sagte sie kurz angebunden.
An der niedrigen Mauer aus rauen Flintsteinen am Rand des Friedhofs lüpfte sie ihren braunen Rock samt Hanfschürze und schwang, gelenkig wie ein Knabe, die Beine über den Zaunübertritt. Er kletterte ihr hinterher und fand sich wieder auf dem Strand, auf einem kleinen Pfad, nicht breiter als eine Schafstiege, mit Weißdornhecken, die sich von den Seiten neigten und oben trafen, sodass sie beide in einem Tunnel aus dichtem Laubwerk und krummen Dornenästen verborgen waren. Sie ging voraus, den Kopf gesenkt und die Ellbogen in ihr Tuch gewickelt, machte große Schritte in ihren Holzschuhen und folgte der launischen Bahn des schmalen Wegs. Das Meeresrauschen wurde ein wenig lauter, als sie eine Böschung hinunterkletterte, und dann befanden sie sich auf einmal auf freier Flur, im Schein des unbeständigen Mondes am blassen Himmel, auf einem Strand aus weißem Kiesel.
Oben auf der Böschung hinter ihnen stand eine große Eiche, deren Wurzeln sich durch den Schlamm schlängelten und deren nach unten schwingende Äste sich tief zum Strand bogen. Vor ihnen lag die Marsch: stehendes Gewässer, Sandbänke, Gezeitentümpel, Schlamm, Schilfinseln und ein breiter, sich windender Kanal aus Wasser mit abzweigenden verschlickten Bächen, die über dem Schlamm anschwollen und daran leckten, in kleinen Wellen, die sich an ihren Füßen brachen.
»Foulmire«, verkündete sie.
»Ich dachte, Ihr hättet gesagt, der Hafen heiße Wandering Haven?«
»So nennen sie den Hafen in Chichester, weil er wandert. Sie wissen nie, wo die Inseln sind, sie wissen nie, wo die Riffe sind. Die Flüsse ändern bei jedem Unwetter ihr Bett. Aber wir, die wir darauf leben und all seine Veränderungen kennen, die wir unsere Pfade seinen Launen anpassen, die wir ihn als Schinder hassen, wir nennen ihn Foulmire.«
»Nach den Vögeln? Fowlmire? Vogelmarsch?«
»Nach dem Schlamm: faulig«, antwortete sie. »Beim geringsten Fehltritt hält er einen, bis das Meer kommt, und man ertrinkt und verfault. Wenn man sich befreit, stinkt man das restliche Leben lang nach Fäulnis.«
»Lebt Ihr schon immer hier?«, fragte er und wunderte sich über den Groll in ihrer Stimme.
»Oh, ja«, sagte sie. »Ich stecke im Schlamm fest. Als Pächterin unterstehe ich einem nachlässigen Herrn und kann nicht fort. Ich bin das Weib eines verschwundenen Mannes und kann nicht heiraten, und ich bin die Schwester des Fährmanns, und er wird mich niemals ans Festland übersetzen und ziehen lassen.«
»Ist die ganze Küste so wie hier?«, fragte er und dachte an seine Überfahrt, wie der Kapitän sie im Dunkeln gesteuert hatte, an Riffen vorbei und über Untiefen. »Ist alles so unsicher?«
»Watt«, bestätigte sie. »Gezeitenland. Weder Meer noch Küste. Weder nass noch trocken, und keiner geht je von hier fort.«
»Ihr könntet fortgehen. Ich werde ein Schiff haben«, sagte er leichthin. »Wenn ich mit meiner Arbeit hier fertig bin, werde ich zurück nach Frankreich segeln. Ich könnte Euch die Überfahrt ermöglichen.«
Sie drehte sich um und sah ihn an, und erneut überraschte sie ihn, diesmal durch ihre Ernsthaftigkeit. »Ich wünschte zu Gott, dass ich es könnte«, sagte sie. »Aber ich würde meine Kinder niemals verlassen. Und außerdem habe ich entsetzliche Angst vor tiefem Wasser.«
Sie ging vor ihm, knirschend auf dem Kiesstrand, der sich zwischen dem Uferdamm und dem Schlamm mit dem versickernden Wasser wand. Vor ihnen wirbelte eine Möwe mit einem gespenstischen Schrei in die Lüfte. Der Fremde folgte dem Schatten der Frau über Kies und Schlamm und Treibholz, hörte das gleichmäßige Zischen, während das Meer irgendwo draußen im Dunkeln zu seiner Rechten stetig näher kam, Schlammbänke überflutete, das Schilf überspülte, unaufhaltsam weiter vordrang.
Sie kletterte einen Uferdamm hoch zu einem Pfad, der oberhalb verlief, über der Gezeitenmarke, und der Fremde ging hinter ihr zwischen Ginsterbüschen hindurch, wo die Farben der nächtlichen Blüten ausgewaschen waren und sie silbern statt golden leuchteten, doch in der Luft hing immer noch ihr Honigduft. Beim Schrei einer Eule ganz in der Nähe fuhr er zusammen. Da erblickte er sie, dunkel in der Dunkelheit, wie sie auf weiten stillen Flügeln davonkreiste.
Sie wanderten lange Zeit, bis der Rucksack auf seinem Rücken schwer wurde und er sich vorkam, als sei er in einem Traum und folge den hölzernen Absätzen ihrer Schuhe, dem dreckigen Saum ihres Rocks auf einem sich trostlos schlängelnden Weg durch eine Welt, die nicht nur ihre Farbe, sondern auch ihre Bedeutung verloren hatte.
Er richtete sich auf und flüsterte ein Ave Maria als Mahnung, dass es eine Ehre war, das Wort Gottes, die kostbaren Gegenstände für die Messe und ein Lösegeld für den König zu tragen. Er war froh, sich auf einem schlammigen Pfad an einer nicht kartierten Küste entlangzuschleppen.
Das Meer sickerte weiter ins Landesinnere, als kenne es keine Grenze. Er konnte sehen, wie das Wasser durch das Treibholz und Stroh auf dem Kies unter ihnen kroch, und jenseits des Uferdamms schwollen die Gräben und Tümpel an und flossen nach hinten ins Land, als sei dies, wie sie gesagt hatte, ein Ort, der weder Meer noch Küste war, als ebbe das Land selbst mit den Gezeiten ab und schwelle an.
Ihm wurde ein seltsames Zischen bewusst, das er schon eine Weile gehört hatte. Es übertönte das Plätschern des Wassers wie das Sieden eines riesigen Schmortopfes, wie das Blubbern eines Kessels.
»Was ist das? Was ist dieses Geräusch?«, flüsterte er und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Hört Ihr das? Ein schreckliches Geräusch! Seltsam, als würde das Wasser kochen.«
Völlig unerschrocken blieb sie stehen und deutete hinaus, mitten in das sich bewegende Wasser. »Oh, das. Seht, dort, dort draußen im Morast, könnt Ihr die Blasen sehen?«
»Ich kann nichts außer Wellen sehen. Gott bewahre uns! Was ist das? Es hört sich wie ein Brunnen an.«
»Es ist der Zischbrunnen«, sagte sie.
Er empfand eine kindliche Angst. »Was ist es? Was ist das?«
»Das weiß keiner«, antwortete sie gleichgültig. »Eine Stelle in der Mitte des Sumpfes, wo das Meer beim Hereinkommen kocht. Bei jeder Flut, also fällt es uns nicht weiter auf. Manchmal erregt es das Interesse eines Fremden. Ein Mann hat meinem Bruder gesagt, dass es wahrscheinlich eine Höhle ist, die unter dem Morast liegt, und die Blasen daraus emporströmen, wenn das Meer in sie hineinfließt. Aber keiner weiß es. Keiner hat die Höhle je gesehen.«
»Es klingt wie ein siedender Topf!« Das seltsame Geräusch entsetzte ihn. »Als würde die Hölle überkochen!«
»Ja, es ist wohl unheimlich.«
»Wie sieht es aus, wenn das Meer zurückweicht?«, fragte er neugierig. »Ist der Boden heiß?«
»Bei Ebbe hat es noch keiner gesehen«, erklärte sie geduldig. »Hingehen kann man nicht. Man würde versinken, und der Morast würde einen festhalten, bis man bei der nächsten Flut ertrinkt. Vielleicht ist es eine Höhle – und man würde reinfallen. Wer weiß? Vielleicht gibt es wirklich eine Höhle, die das ganze Meer in sich aufnimmt, das Wasser, das unter der Welt abebbt und anschwillt. Vielleicht ist es das Ende der Welt, hier in Foulmire versteckt, und wir leben die ganzen Jahre schon an der Schwelle zur Hölle.«
»Aber das Geräusch?«
»Man kann mit dem Boot drüberfahren«, schlug sie vor. »Es brodelt wie ein großer Kessel und zischt heftig. Manchmal ist es so laut, dass man es in einer stillen Nacht auf dem Friedhof hören kann.«
»Man kann raussegeln und es sich ansehen?«
»Nun, ich würde es nicht tun«, stellte sie klar. »Aber es ist machbar, wenn man sonst nichts zu tun hat.«
Er ging davon aus, dass in ihrem Leben nie ein Tag verstrich, an dem sie sonst nichts zu tun hatte.
Sie drehte sich um und setzte ihren Weg fort. An dem bedrohlichen Zischen, das lauter wurde, als der Uferdamm sich auf das Watt zukrümmte, und leiser, als sie sich entfernten, hatte sie keinerlei Interesse.
»Seid Ihr je zur Schule gegangen?«, fragte er, weil er versuchte, sich ihr Leben vorzustellen, wie sie hier in dieser trostlosen Landschaft lebte, so unwissend wie eine Blume. Als der Pfad breiter wurde, machte er ein paar größere Schritte und ging neben ihr.
»Ein paar Jahre. Ich kann lesen, und ich kann schreiben. Meine Mutter hat mir ihr Rezeptbuch und die Kräuter und ihre Fähigkeiten beigebracht.«
»Sie war Köchin?«
»Eine Kräuterfrau. Eine Heilerin. Jetzt mache ich ihre Arbeit.«
»Hat man Euch jemals vom alten Glauben erzählt? Hat man Euch die Gebete beigebracht?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Meine Großmutter hatte mehr für die alten Bräuche übrig. Als ich noch ein Mädchen war, kam manchmal ein fahrender Priester ins Dorf und nahm den Leuten heimlich die Beichte ab. Manche der Älteren sprechen noch die alten Gebete.«
»Wenn wir zum Netzschuppen kommen, möchte ich gern mit Euch beten.«
Er sah den Anflug eines Lächelns. »Ihr tätet besser daran, für Euer Frühstück zu beten«, erwiderte sie. »Viel zu essen haben wir nicht.«
Der Pfad wurde schmaler, und sie gingen wieder im Gänsemarsch zwischen den von beiden Seiten auf sie zudrängenden Dornen hindurch. Irgendwo im Wald zu seiner Linken vernahm er das laute Zwitschern der Nachtigall, die zum blassen Himmel hinauf sang.
Noch nie, so dachte er bei sich, war er durch eine derart seltsame Landschaft mit einer derart fremdartigen Gefährtin gezogen. Er war seiner Berufung durch ganz England gefolgt, war von einem wohlhabenden Haus zum nächsten gefahren, hatte die Beichte abgenommen und den Gottesdienst gefeiert, gewöhnlich im Verborgenen, aber immer unter behaglichen Umständen. Dabei war ihm sein gutes Aussehen zuträglich gewesen. Er war von den reichsten Damen des Königreiches umhegt und von ihren Vätern und Brüdern respektiert worden, weil er für seinen Glauben sein Leben aufs Spiel setzte. Mehr als ein schönes Mädchen war auf die Knie gesunken und hatte verstörende Träume von ihm gebeichtet. Ihr Verlangen hatte ihn kaltgelassen. Er war Gott versprochen und gestattete sich keine Ablenkung. Als junger Mann von erst zweiundzwanzig Jahren genoss er die Gelegenheit, seine leidenschaftlichen Überzeugungen auf die Probe stellen zu können, und das Gefühl seiner eigenen Rechtschaffenheit.
Von Kindesbeinen an war er für die Kirche vorgesehen gewesen. Seine Lehrer hatten ihn unterwiesen und inspiriert und dann in die Welt geschickt, damit er im Geheimen reiste, sich mit Royalisten traf und sie über ihre Absichten aufklärte. Von einem belagerten Palast war er zum nächsten gereist, Gelder der vertriebenen Königin im Gepäck, Pläne vom gefangenen König, Versprechen vom Prinzen. Er war schon an gefährlichen und angsteinflößenden Orten gewesen – hatte in geheimen Kammern geschlafen, sich in Kellern versteckt, die Messe auf Dachböden und in Stallungen abgehalten –, doch er hatte noch nie einen Tag ohne Zufluchtsstätte verbracht, allein an einer nicht kartierten Küste, oder war den Schritten einer einfachen Frau gefolgt, die seine Sicherheit in ihren schwieligen Händen hielt.
Er tastete nach dem goldenen Kruzifix, das er unter seinem leichten Batisthemd trug, und umschloss den unhandlichen Umriss. Abergläubisch warf er dem Schlamm unter den Füßen der Frau einen Blick zu, um sicherzugehen, dass sie wie eine Sterbliche Fußabdrücke hinterließ. Obwohl er die scharf umrissenen Spuren der Holzschuhe sah, bekreuzigte er sich, weil er fürchtete, sie sei eine gespenstische Führerin in ein gottloses Land. Wenn er nicht die Kraft seines Glaubens hätte, würde er sich in der Tat verloren vorkommen, wie er so durch eine Welt aus uralten Elementen wanderte: Wasser, Luft und Erde.
Schweigend gingen sie weiter, vielleicht eine Stunde lang. Dann bog sie scharf nach links und kletterte den Hafendamm hinauf, und er erblickte eine baufällige Hütte, Wände aus Treibholz, verfugt mit getrocknetem Schlamm, ein Strohdach aus Schilf aus dem Marschland. Die Hütte sah wie ein von der Flut angespültes Schiffswrack aus. Seine Begleiterin stemmte sich gegen die schlecht eingepasste, beim Aufgehen knarrende Tür.
»Der Netzschuppen«, verkündete sie.
Drinnen war es pechschwarz, das einzige Licht kam vom Mond und drang schimmernd durch die Ritzen in den Wänden.
»Habt Ihr eine Kerze?«
»Nur im Haus. Ihr könnt hier kein Licht machen. Es würde von der Mühle auf der andere Seite des Sumpfes aus gesehen werden. Ihr werdet im Dunkeln sitzen müssen, aber bald wird der Morgen dämmern, und ich bringe Euch Frühstück und etwas Ale.«
»Ist Euer Haus in der Nähe?«
»Bloß ein Stück den Uferdamm entlang. Und es wird bald hell sein«, versicherte sie ihm. »Ich werde zurückkommen, sobald ich kann. Ich muss das Feuer entfachen und Wasser holen. Dann muss ich meine Kinder wecken und ihnen ihr Frühstück geben. Wenn sie dann für den Tag aufgebrochen sind, komme ich zurück. Ihr könnt hier auf den Netzen sitzen und ein wenig schlafen.«
Sie nahm seine Hand – er spürte die Rauheit ihrer narbigen Handfläche – und zog daran, bis er sich bückte, dann schob sie seine Finger auf die groben Schnüre eines Haufens aus Netzen zu. »Da«, sagte sie. »Die alten Netze. Gut genug ist es nicht für Euch, aber ich weiß nicht, wohin Ihr sonst könnt.«
»Natürlich ist es gut genug für mich«, versicherte er ihr, seine Stimme eifrig und nicht sehr überzeugend. »Ich weiß nicht, was ich getan hätte, wäre ich Euch nicht begegnet. Ich hätte im Wald geschlafen und wäre von dem zischenden Wasser weggespült worden.« Er versuchte zu lachen, sie tat es nicht.
»Falls Ihr jemanden kommen hört oder sich jemand an der Tür zu schaffen macht, könnt Ihr die Rückwand eintreten. Wir sind am Rand des Grabens. Ihr könnt Euch hineinrollen lassen. Wenn Ihr am Uferdamm entlang nach rechts lauft, wird er Euch landeinwärts zur Fähre und zur Furt führen, links zum Wald. Aber hier kommt nie jemand vorbei, niemand wird Euch stören.«
Er nickte, doch in der Dunkelheit konnte sie ihn nicht sehen.
»Ich weiß, dass es nicht gut genug ist«, sagte sie unbehaglich.
»Ich bin dankbar dafür. Ich bin Euch dankbar«, antwortete er. Er merkte, dass er immer noch ihre Hand hielt, und drückte sie an seine Lippen. Sofort entriss sie ihm die Hand, und er errötete im Dunkeln über seine Torheit, ihr eine Höflichkeit zu erweisen, die ihr völlig fremd war. Die wohlhabenden Damen in den geheimen Verstecken waren es gewohnt, geküsst zu werden. Sie streckten ihm ihre weißen Hände entgegen und hoben ihre Fächer an die Augen, um ihr Erröten zu verbergen. Manchmal gingen sie auch in einem Wirbel aus Seide auf die Knie und küssten seine Hand, hielten sie an die aus Buße über irgendeine belanglose Sünde feuchten Wangen.
»Verzeihung«, versuchte er zu erklären. »Ich wollte nur sagen, dass ich weiß, welch großes Geschenk dies ist. Gott wird nicht vergessen, was Ihr für mich getan habt.«
»Ich werde Euch etwas Haferbrei bringen«, sagte sie harsch. Er hörte, wie sie in Richtung Tür zurückwich, und sah den Spalt Mondschein, als die Tür aufging. »Viel gibt es nicht.«
»Nur, wenn Ihr etwas übrig habt«, sagte er in dem Wissen, dass es bei ihr zu Hause keine Essensreste geben würde. Sie würde auf ihre Portion verzichten, um ihm etwas zu geben.
Geräuschlos schloss sie die Tür, und er tastete nach dem Haufen Netze und zog ein wenig daran, um sie auszubreiten. Der Gestank nach altem Fisch und verfaultem Schlamm erhob sich zusammen mit dem Summen schläfriger Fliegen. Er biss die Zähne gegen seinen Ekel zusammen und ließ sich nieder. Dann zog er den Umhang fester um sich, da er sicher war, dass es in dem Schuppen Ratten gab. Obwohl er schrecklich müde war, konnte er sich nicht überwinden, sich auf die übel riechenden Knoten zu legen. Er schalt sich, ein Narr zu sein, ein ungeeigneter Priester ohne jede Weisheit oder Erfahrung, ein törichter Junge, losgeschickt, damit er Gewaltiges in großen Zeiten vollbrachte.
Er hatte Angst zu versagen, besonders jetzt, da so viel von ihm abhing. Er musste Beichten abnehmen und Geheimnisse bewahren, und im Kopf, gut verborgen, verwahrte er einen Plan zur Befreiung des Königs. Er fürchtete, weder den Mut noch die Entschlossenheit zu besitzen, ihn in die Tat umzusetzen, und wollte schon darum beten, ein starker Emissär, ein guter Spion zu sein, als ihm klar wurde, dass er sich irrte: Er hatte keine Angst zu versagen, er hatte Angst wie ein Kind – Angst vor allem, vor den Ratten im Netzschuppen, dem Zischbrunnen draußen, und irgendwo jenseits davon vor den rachsüchtigen Armeen Cromwells, dieses schwarzäugigen Tyrannen.
Wartend saß er im Dunkeln.
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Alinor zögerte vor der Tür des Netzschuppens und lauschte auf seine Bewegungen drinnen, als sei er ein seltsames Tier, das sie eingesperrt hatte. Als alles ruhig war, drehte sie sich um und rannte am Uferdamm entlang zu dem Ort, wo ihre eigene Hütte stand: dem Sumpf zugewandt, ein einstöckiges Häuschen mit einem Reetdach, mitten in einem kleinen Kräutergarten mit einem Zaun aus Treibholz.
In ihrer Hütte war alles genau so, wie sie es zurückgelassen hatte: die Glut in der Feuerstelle unter einem irdenen Deckel, die gegen Funken in die Asche gezeichneten Runen, die Kinder im Bett in der einen Zimmerecke, neben der Feuerstelle der Topf Haferbrei mit festgeklemmtem Deckel, um ihn vor Ratten zu schützen, und in der anderen Ecke die schlafenden Hühner, die müde gackerten, als mit ihr die kühle, nach Schlamm und Salzwasser riechende Luft hereinwehte.
Sie nahm einen Eimer von der Feuerstelle und ging nach draußen, landwärts, an der Küstenlinie entlang, wo die Flut gegen den Schlamm und das Schilf schlug. Auf grob gehauenen Stufen kletterte sie den Uferdamm hoch und auf der anderen Seite wieder hinunter zum tiefen Süßwasserteich. Sie hielt sich an einem abgenutzten Pfosten fest, um ihren Eimer zu füllen, und schleppte dann die überschwappende Last zurück zur Hütte. Dort goss sie eine Schüssel voll Wasser, stellte sie auf den Tisch, zog ihren Umhang aus und wusch sich Gesicht und Hände mit der hausgemachten grauen, fettigen Seife. Sie schrubbte sich die Finger mit besonderer Sorgfalt, und ihr wurde schmerzlich bewusst, dass der Priester sie an seine Lippen gehalten und den lebenslangen Geruch nach Fisch, Rauch, Schweiß und Dreck bemerkt haben musste.
An einem Leinenfetzen trocknete sie die Hände ab und saß dann eine Weile da, starrte durch die offene Tür, wo der Himmel immer heller wurde. Sie fragte sich, warum sie sich derart verhext vorkam, wo sie doch gar keinem Geist begegnet war.
Sie schüttelte den Kopf, als wolle sie sich selbst aus dem Schattenreich zurückholen, und erhob sich von ihrem Schemel, um sich vors Feuer zu knien und mithilfe eines Lumpens die irdene Abdeckung von der Glut zu heben. Mit dem Rücken der anderen Hand verwischte sie die Runen gegen Feuer, die in die kalte Asche gezeichnet waren. Sie nährte das glühende Herz in der Mitte mit kleinen Spänen und dann mehr Treibholz, und als es Feuer fing, stellte sie den dreibeinigen Eisentopf in die Hitze, fügte Wasser aus dem Eimer hinzu und rührte die eingeweichte Hafergrütze um, während sie langsam aufkochte.
Die Kinder in dem einen Bett schliefen trotz der Kochgeräusche weiter. Sie versuchte, sie aufzuwecken, indem sie sie nacheinander an der Schulter berührte. Ihre Tochter lächelte im Schlaf und rollte sich zur rauen Holzwand hin, doch ihr Junge setzte sich auf und fragte: »Ist schon Morgen?«
Sie beugte sich hinunter, um ihn zu umarmen, und vergrub das Gesicht in seinem warmen Nacken. Er roch nach sich selbst, süß wie ein Welpe. »Ja«, antwortete sie. »Zeit zum Aufstehen.«
»Ist Vater wieder zu Hause?«
»Nein«, antwortete sie tonlos. Die immer wiederkehrende Frage ihres Sohnes versetzte ihr keinen traurigen Stich mehr. »Noch nicht. Zieh dich an.«
Gehorsam setzte Rob sich an die Kante der Matratze und zog seine Jacke über das Leinenhemd. Er zog seine Kniehose hoch und band sie mit einer Schnur fest. Heute würde er mit nackten Beinen und barfuß zur Arbeit gehen. Nach der Schule am Morgen würde er auf der Mill-Farm Vögel verscheuchen. Er setzte sich an den Tisch, und sie goss Grütze in seine Schüssel.
»Kein Speck?«, fragte er.
»Heute nicht.«
Er griff nach dem Löffel und begann zu essen, blies auf jeden einzelnen und schlürfte ihn geräuschvoll. Sie gab ihm einen Becher Dünnbier. Niemand in Foulmire trank Wasser. Dann wandte sie sich wieder zum Bett um, setzte sich auf die Kante und berührte die Schulter ihrer Tochter.
Alys rollte sich herum und öffnete die dunkelblauen Augen. Sie sah ihre Mutter an, als sei diese Teil eines eindringlichen Traums. »Bist du unterwegs gewesen?«, erkundigte sie sich.
Alinor war überrascht. »Ich dachte, du hättest geschlafen.«
»Ich habe dich reinkommen gehört.« Das Mädchen seufzte, als wolle es gleich wieder einschlafen. »In meinem Traum.«
»Was hast du geträumt?«
»Ich habe geträumt, dass du auf dem Friedhof einem Kater begegnet bist.«
Die beiden waren hoch konzentriert. »Welche Farbe?«
»Schwarz«, antwortete das Mädchen.
»Was ist passiert?«
»Nichts. Das war alles. Du hast vor ihm gestanden, und er hat dich gesehen.«
Alinor dachte darüber nach, stellte es sich vor ihrem seherischen Auge vor. »Er hat mich gesehen?«
»Er hat dich gesehen, er hat alles gesehen.«
Alinor nickte. »Sprich nicht darüber«, sagte sie.
Das Mädchen lächelte. »Natürlich nicht.« Sie schob die Bettdecke zurück und erhob sich, lehnte sich aufrecht an die Schulter ihrer Mutter, ihr blondes Haar in einem Zopf im Rücken, die Haut angelsächsisch-blass. Sie wandte sich zu ihrem Kleiderstapel am Fuß des Bettes, zog ihren Filzrock mit schlammverkrustetem Saum und ein geflicktes Hemd an. Dann setzte sie sich auf ihren Schemel am Tisch, um sich das Gesicht und die Hände zu waschen, trug anschließend die Schüssel zur Tür und goss sie über die Kräuter draußen.
Alinor nahm auf ihrem Schemel neben den Kindern Platz und faltete die Hände. »Vater, wir danken dir für unser täglich Brot«, sagte sie leise. »Bewahre uns von unseren Sünden, jetzt und in alle Ewigkeit. Amen.«
»Amen«, sagten alle im Chor, und Alinor tat ihrer Tochter und sich auf, wobei sie eine Portion im Topf ließ.
»Kann ich das haben?«, fragte Rob.
»Nein«, sagte Alinor.
Er schob den Schemel zurück und kniete sich für ihren Segen auf den Boden. Sie legte die Hand auf seine verfilzten Locken und sagte: »Gott segne dich, mein Sohn.«
Ohne ein weiteres Wort nahm er seine Kappe von einem Haken hinter der Tür, setzte sie auf den Kopf und öffnete die Tür. Möwengeschrei und die salzige Morgenluft strömten in das verdunkelte Zimmer. Er trat ins Freie und knallte die Tür hinter sich zu.
»Er wird zu früh in der Schule sein«, stellte Alys fest. »Er wird wieder am Kirchentor Ball spielen.«
»Ich weiß«, erwiderte Alinor.
»Du siehst seltsam aus«, erklärte das Mädchen seiner Mutter. »Anders.«
Alinor wandte lächelnd das Gesicht zu ihrer Tochter. »In welcher Hinsicht?«, fragte sie. »Ich bin die Gleiche wie gestern.«
»Du siehst wie in meinem Traum aus. Wohin bist du gegangen?«
Alinor sammelte die leeren Schüsseln ein und stapelte sie auf dem Tisch. »Ich bin zur Kirche gegangen, um für Euren Vater zu beten.«
Das Mädchen nickte. Sie wusste sehr gut, dass Mittsommertag war. »Und hast du ihn gesehen?«, fragte sie ganz leise.
Alinor schüttelte den Kopf. »Nichts.«
»Dann lebt er vielleicht noch? Wenn du ihn nicht gesehen hast, dann ist er nicht tot. Er könnte immer noch nach Hause kommen.«
»Oder vielleicht habe ich kein Zweites Gesicht.«
»Vielleicht das. Vielleicht bist du einem schwarzen Kater begegnet, und er hat wahrhaftig dein Wesen erkannt.«
Alinor lächelte. »Sprich nicht davon«, ermahnte sie ihre Tochter. Sie dachte an den Priester, der im Netzschuppen auf seine Grütze wartete. Sie fragte sich, ob er wahrhaftig ihr Wesen erkannt hatte, wie der schwarze Kater aus dem Traum ihrer Tochter.
Das Mädchen fuhr mit den Fingern durch sein dichtes blondes Haar und schob es sich aus dem Gesicht, zog dann seine Haube über den goldenen Zopf. Sie setzte sich, um die Stiefel anzuziehen. »Ich wünschte bei Gott, wir wüssten Bescheid«, sagte sie verärgert. »Ich vermisse ihn nicht, aber ich würde gern wissen, dass ich aufhören kann, Ausschau nach ihm zu halten. Und Rob gegenüber ist es ungerecht.«
»Ich weiß«, sagte Alinor. »Jedes Mal, wenn ein Schiff zur Landestelle der Gezeitenmühle kommt, frage ich nach Neuigkeiten von ihm, aber es gibt nichts.«
Das Mädchen hob einen Stiefel hoch und steckte den Finger durch das Loch in der Sohle. »Es tut mir leid, Ma, aber ich brauche neue Stiefel. Die hier sind an den Zehen und an der Sohle kaputt.«
Alinor betrachtete das geflickte Obermaterial und die reparierten Sohlen. »Das nächste Mal, wenn ich Geld habe, das nächste Mal, wenn ich auf den Markt gehe«, versprach sie.
»Jedenfalls vor dem Winter.« Das Mädchen zog die abgetragenen Stiefel an. »Vielleicht bringe ich heute Abend ein Kaninchen mit nach Hause. Gestern habe ich eine Falle gestellt.«
»Nicht auf Sir Williams Feldern?«
»Nicht dort, wo der Wildhüter je hingehen würde«, sagte sie schelmisch.
»Bring es nach Hause, und ich schmore es«, versprach Alinor, die an das zusätzliche Maul dachte, das es zu stopfen galt, sollte der Priester nicht bis zur abendlichen Ebbe fort sein.
Die Tochter kniete vor ihrer Mutter, und Alinor legte die Hand auf den zarten Nacken des Mädchens. »Gott segne dich und beschütze dich«, sagte sie in Gedanken an die jugendliche Schönheit ihrer Tochter und den Müller und seine Männer, die ihr beim Überqueren des Hofs mit den Blicken folgten und scherzten, wer in ein paar Jahren ihr Ehemann sein werde.
Das Mädchen lächelte zu ihrer Mutter hoch, als wisse es um ihre Ängste. »Ich kann auf mich selbst aufpassen«, sagte sie sanft und ging nach draußen, wobei sie die Hühner durch die Tür scheuchte und dann aus dem Tor, sodass sie sich einen Weg nach unten zum Strand picken konnten.
Alinor wartete, bis das Knirschen von ihren Schritten auf dem Kies schwächer wurde. Erst als sie draußen außer den Schreien der Meeresvögel nichts mehr vernahm, löffelte sie die warme Grütze in die extra Schüssel, die Schüssel ihres vermissten Ehemanns, nahm seinen geschnitzten Holzlöffel und seinen Holzbecher mit Ale und trug sie am Uferdamm entlang zurück zum Netzschuppen.
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Alinor klopfte an die Tür und trat ein, den Kopf tief unter den schiefen Türsturz geduckt. Er schlief der Länge nach auf den Netzen, sein gutes Wollcape unter sich ausgebreitet, und seine schönen Locken fielen um sein Gesicht. Sie bemerkte seine Blässe und die dunklen langen Wimpern, die schlafende Kraft seines Körpers, seine Brust und Arme und die langen Beine in den teuren Reitstiefeln. Niemand würde ihn für etwas anderes als einen Fremden halten, keinen Einheimischen von dieser verarmten Insel an der englischen Südküste. Auf den ersten Blick wäre klar, dass er ein Adliger war. Er war so fehl am Platz, ausgestreckt auf den stinkenden Netzen in dem baufälligen Schuppen, wie sie es inmitten der Seidenstoffe und Parfüms des Königshofes gewesen wäre, damals, als der König noch einen Hof in London gehabt hatte.
Ihn zu wecken, kam ihr respektlos vor, andererseits war die abkühlende Schüssel in ihrer Hand eine Mahnung, dass ihm übel werden würde, wenn sie die Grütze neben ihm stehen ließe und er sie bei seinem Erwachen kalt und geronnen vorfände. Also bückte sie sich, stellte den Becher mit Ale auf den Boden und schüttelte behutsam die Spitze seines Stiefels.
Sofort zuckten seine Wimpern, er öffnete die Augen und sprang in einem Satz auf die Beine. »Ach! Gute Frau«, sagte er.
Sie hielt ihm die Schüssel und den Becher Dünnbier entgegen. »Grütze«, sagte sie. »Ich weiß, dass sie nicht gut genug für Euch ist.«
»Sie kommt von Euch, und sie kommt von Gott, und ich bin dankbar«, erwiderte er. Er stellte die Schüssel mit dem Löffel und den Becher auf den Boden und sprach im Knien ein langes, geflüstertes Tischgebet auf Latein. Alinor, die nicht wusste, was sie tun sollte, neigte den Kopf und flüsterte »Amen«, als er fertig war, obwohl ihnen der Pfarrer eingetrichtert hatte, dass Gott nicht Latein spreche, dass Gott Englisch spreche und auf Englisch angesprochen werden sollte und dass alles andere Ketzerei sei und eine papistische Verhöhnung der Wahrheit des göttlichen Wortes.
Im Schneidersitz setzte er sich auf die Netze, als wären sie nicht voller Ungeziefer, und schlang die Grütze wie ein Ausgehungerter hinunter. Er kratzte die Holzschüssel mit dem Holzlöffel aus und trank den Becher Ale leer.
»Es tut mir leid, dass es nicht mehr gibt«, sagte sie verlegen. »Aber wenn Ihr zum Abendessen noch hier seid, werde ich Euch etwas Fischsuppe bringen.«
»Es war sehr gut. Ich hatte Hunger«, sagte er. »Ich bin Euch dankbar, dass Ihr Euer Essen mit mir teilt. Ich hoffe, dass Ihr nicht auf Essen verzichten musstet, um mir etwas abzugeben?«
Beim Gedanken an ihren Jungen, der mehr zum Frühstück hätte essen wollen, regte sich kurz ihr schlechtes Gewissen. »Nein«, sagte sie. »Meine Tochter bringt vielleicht Fleisch zum Abendessen nach Hause.«
Er verengte die Augen, als versuchte er, einen Kalender heraufzubeschwören und zu sehen, ob es einen Feiertag oder einen Fastentag einzuhalten galt. Er lächelte. »Heute ist Johannistag. Ein gutes Abendessen wäre mir recht, aber wenn es nur wenig gibt, flehe ich Euch an, dass Ihr es für Euch und Eure Kinder behaltet. Ihr leistet einen großen Dienst an mir und für Gott, indem Ihr mich hier versteckt. Ich möchte nicht, dass Ihr hungert. Ich bin daran gewöhnt.«
Ihr Gesicht hellte sich auf, als sie lachte, und wieder einmal überraschte ihn die jähe Verwandlung. »Ich wette, ich bin mehr daran gewöhnt als Ihr!«
Er musste sich zurückhalten, um nicht ihre lächelnden Wangen zu berühren. »Ihr habt recht«, räumte er ein. »Das Fasten ist meine eigene Wahl, Teil meines Glaubens.«
»Ich habe mir gedacht, ich führe Euch heute Morgen zur Propstei«, schlug sie vor. »Wenn Ihr es beim Verwalter dort versuchen und sehen wollt, ob er Euch aufnimmt.«
»Eure Hilfe wäre mir sehr recht. Ich würde ihn gern treffen. Geht es den Weg zurück, den wir gekommen sind?«
»Ja«, sagte sie.
»Dann finde ich ihn. Ich werde allein gehen. Ich will Euch nicht in Gefahr bringen.«
»Es ist das Sumpfland«, rief sie ihm ins Gedächtnis. »Ich muss Euch führen. Aber ich kann vorausgehen, damit man uns nicht zusammen sieht.«
Er nickte. »Ihr müsst unbedingt Abstand halten.«
»Also gut.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. »Wollt Ihr Euch setzen?«, lud er sie ein. »Euch setzen und mit mir reden?«
Sie zögerte. »Ich muss mich an meine Arbeit machen.«
»Nur einen Moment?« Er wunderte sich über sich selbst, dass er ihre Gesellschaft suchte, obwohl er die Einsamkeit zum Gebet hätte nutzen sollen.
Sie sank zu Boden und zog die Füße unter den groben Wollrock. Der Raum lag im Schatten, roch nach Salz und Tang und fauligem Marschschlamm. Der Boden bestand aus festgestampfter Erde, die Netze waren unordentlich eins über das andere geworfen, und die Hummerfangkörbe verrotteten mit ihrer Ladung aus altem Seetang und Muscheln.
»Was solltet Ihr gerade tun, wenn ich Euch nicht aufhielte?«, fragte er sie.
»Heute Morgen würde ich im Garten Unkraut jäten und das Haus putzen, Kräuter sammeln zum Trocknen oder Destillieren, wahrscheinlich spinnen. Heute Nachmittag gehe ich zum Haus meines Bruders bei der Fähre, um im Brauhaus Gerste für unser Ale anzusetzen. Mit der Hefe werde ich Brot backen. Manchmal arbeite ich auf der Mill-Farm – in der Molkerei oder der Backstube –, oder ich jäte Unkraut oder grabe oder ernte, je nach Jahreszeit.« Sie zuckte mit den Schultern. Offensichtlich gab es zu viele Aufgaben, als dass sie alle hätte auflisten können. »Da Mittsommertag ist, werde ich heute Abend wieder Kräuter pflücken, die in meinem eigenen Garten und die, die ich beim Fährhaus angepflanzt habe, und werde sie in der Vorratskammer des Fährhauses destillieren. Manchmal schickt jemand nach mir wegen einer Geburt oder Krankheit. An manchen Abenden gehe ich zur Kirche. Es tut gut, einmal zu sitzen, nur für einen Moment.«
»Ihr müsst einsam sein?«
»Nein – auch wenn ich meine Mutter vermisse«, räumte sie ein.
»Vermisst Ihr Euren Ehemann denn nicht?«
»Ich bin froh, ihn los zu sein«, sagte sie einfach. »Abgesehen vom Verlust des Bootes.«
»Hat er Euch schlecht behandelt?« Er verschränkte die Finger im Schoß, um nicht ihre verkrampfte Hand zu ergreifen. Der Mann musste ein Ungeheuer sein, fand er, um einer solchen Frau wehzutun – und was tat der Pfarrer der Kirche, was tat ihr Bruder, anstatt sie zu beschützen?
Doch sie schüttelte den Kopf. »Nicht schlimmer als viele andere. Ich habe mich nie beklagt. Aber er hat viel zu essen gebraucht und viel Arbeit gemacht. Es war ermüdend, seine Frau zu sein, anstrengend. Aber ohne ihn haben wir sehr wenig Geld und kaum Möglichkeiten, welches zu verdienen, und es ist unmöglich zu sparen. Ich habe Angst um meine Tochter – jeden Tag bei der Arbeit auf der Mill-Farm –, so hübsch, wie sie ist. Sie muss in zwei oder drei Jahren heiraten, und woher ich ihre Mitgift nehmen soll, weiß ich nicht. Und ich habe Angst um meinen Sohn, wie er ohne Vater aufwächst und noch nicht einmal sein Fischerboot erben wird. Er wird wohl nach meinem Bruder die Fähre übernehmen, aber erst in vielen Jahren, und das ist ein hartes Leben. Ich weiß nicht, was aus den beiden werden soll.« Sie schüttelte den Kopf, als habe sie schon häufig darüber gerätselt. »Oder auch aus mir. Gott bewahre uns vor dem Betteln.«
»Ihr könnt nicht betteln«, erwiderte er entsetzt. »Ihr dürft nicht an den Bettelstab kommen.«
»Nun, wir borgen uns gelegentlich Dinge«, gab sie zu, und ihr leises Lächeln verriet ihm, dass sie sich auf Sir Williams Ländereien bezog.
»Gott verbietet das Borgen nicht, wenn es nur Kaninchen sind«, erklärte er ihr und wurde von einem verschmitzten Funkeln belohnt. »Aber Ihr müsst vorsichtig sein …«
»Das sind wir«, sagte sie. »Und Sir William liegt nur an seinen Hirschen und den Fasanen. Vielleicht werden wir irgendwie ein Boot kaufen. Vielleicht werden die Zeiten einmal besser werden.«
»Gibt es denn keinen Mann, der den Platz Eures Ehemanns einnehmen würde?« Er dachte daran, wie sie am Mittsommerabend bei der Kirche auf jemanden gewartet hatte.
Die Geringschätzung, mit der sie den Kopf abwandte, schockierte ihn. Er war schon Herzoginnen mit weniger Hochmut begegnet.
»Ich werde nicht wieder heiraten.«
»Noch nicht einmal für ein Boot?« Er lächelte.
»Niemand mit einem Boot würde mich mit meinen beiden Kindern nehmen«, stellte sie fest. »Drei Mäuler zu stopfen.«
»Ist Eure Tochter wie Ihr?«, fragte er und dachte, sie müsse so hübsch wie eine Prinzessin aus dem Märchen sein.
»Eigentlich nicht«, antwortete sie mit einem Lächeln. »Sie hat große Hoffnungen, sie hört auf ihren Onkel, glaubt, dass jeder alles werden kann, dass ihr die Welt offensteht, dass sich alles geändert hat. Sie ist Feuer und Flamme für Parlament und Volk. Verübeln kann ich es ihr nicht. Aber natürlich erhoffe ich mir Besseres für sie und Rob.«
»Euer Sohn?«
Ihr Gesicht erwärmte sich bei seinem Namen. »Er ist dazu geboren, Heiler zu werden. Er hat die Gabe meiner Mutter. Schon als Kleinkind war er mit mir draußen im Garten und hat die Namen und die Heilkraft der Kräuter gelernt. Ich habe ihm beigebracht, wie man sie verwendet, und manchmal begleitet er mich zu einer Krankheit oder einem Todesfall. Wenn ich ihn nur in der Schule lassen könnte, damit er sich die Weisheit der Bücher aneignet! Ein gewitzter Mann mit Bildung kann in einer Stadt unter Leuten mit Geld gut verdienen.« Sie zuckte mit den Schultern. »Hier nicht. Für die Kräuter werde ich in Lebensmitteln und Pennys bezahlt, und meine Patienten sind allesamt arme Leute. Der einzige Landadel lebt in der Propstei. Ich habe Ihre Ladyschaft gepflegt, bevor sie starb, und vor ein paar Monaten habe ich den Sohn behandelt. Zweimal im Jahr gehe ich in den Destillierraum, fülle alles wieder auf und sorge für Ordnung, aber wenn Seine Lordschaft krank ist, schickt er nach dem Arzt in Chichester.«
»Ihr seid eine weise Frau?«, fragte er. »Was könnt Ihr?«
»Nur Kräuter und Heilkunst«, antwortete sie vorsichtig. Vermutlich kannte er sich nicht aus bei den vielen Abstufungen zwischen Heilerinnen, die natürliche Heilmittel verwendeten, und denjenigen, die auf dunkle Künste zurückgriffen und ein ganzes Dorf krank machen konnten. »Ich bin Hebamme. Früher, als der Bischof noch in seinem Palast war und eine Genehmigung erteilen konnte, war ich zugelassen. Ich kann einen Zahn ziehen und einen Knochen richten, eine eiternde Wunde rausschneiden und ein Geschwür heilen, aber sonst mache ich nichts. Ich bin Heilerin und Finderin verlorener Dinge.«
»Ihr habt mich gefunden«, sagte er.
»Wart Ihr denn verloren?«
»Ich glaube, die Engländer sind verloren«, antwortete er ernst. »Wir können unseren König nicht einfach vom Thron werfen, und wir können uns nicht aussuchen, wie wir Gott huldigen. Wir können nicht das Parlament über alles stellen. Wir können nicht gegen den König, der von Gott als Herrscher über uns eingesetzt wurde, Krieg führen.«
»Davon verstehe ich nichts.«
Er zögerte. »Gestern Nacht habt Ihr gesagt, Euer Bruder sei fürs Parlament?«
»Er ist fortgezogen, um zu kämpfen, und wäre bei der New Model Army geblieben. Doch als mein Vater starb, musste er wieder nach Hause kommen, um nicht sein Recht auf die Fähre zu verlieren. Unsere Familie hat seit Generationen die Rechte an der Fähre, wir sind die Pächter des Fährhauses.«
»Es ist der einzige Weg, um zum Festland überzusetzen? Die Jolle Eures Bruders?«
»Es ist keine Jolle«, verbesserte sie ihn. »Es ist eher ein Floß an einem Seil über den Broad Rife«, erklärte sie. »Der Broad Rife fließt zwischen der Insel Sealsea und dem Festland. Er ist nicht tief – bei Ebbe kann man hinüberwaten. Die Furt ist gepflastert, damit man nicht im Schlamm stecken bleibt. Mein Bruder hält die Furt instand. Er befördert Leute, die sich nicht die Füße nass machen wollen, und Frauen auf dem Weg zum Markt, die ihr gesponnenes Garn oder ihre Waren tragen, und bei Flut die Fuhrleute oder Sir William, der seine Pferde und die Kutsche auf die Fähre lädt, wenn das Wasser zu hoch steht.«
»Er rudert Leute hinüber?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er zieht an einem Seil. Es ist wie ein großes Floß, eine schwimmende Brücke, groß genug für ein Fuhrwerk. Bei mittlerem Wasserstand ist die Strömung sehr stark. Die Fähre hängt längsschiffs an einem hohen Seil, sodass sie nicht von der Flut mitgerissen und in den Sumpf getrieben wird, oder hinaus aufs Meer.«
Bei dem Gedanken erbleichte sie. »Hattet Ihr schon immer Angst vor Wasser?«, fragte er. »Obwohl Ihr hier lebt, an der Küste?«
»Die Tochter eines Fährmanns und die Ehefrau eines Fischers.« Sie lächelte. »Ich weiß sehr wohl, dass es töricht ist, aber ich hatte schon immer schreckliche Angst davor.«
»Wie wollt Ihr dann fischen, wenn Ihr Euer Boot bekommt?«, fragte er.
Lächelnd zuckte sie kaum merklich die Schultern, stand auf und hob seine Schüssel und den Becher auf. »Ich werde den Mut finden müssen«, erwiderte sie. »Ich kann rudern und ein Netz auswerfen, und die Kinder können mir helfen. Raus aufs Meer zu den Untiefen werde ich niemals fahren. Ich werde innerhalb der Hafensandbank bleiben. Und wenn Eure Seite siegt, der König wieder zu seinem Recht kommt und die Kirche papistisch wird, kann ich Fisch auf dem Markt und an allen Fastentagen von Haus zu Haus verkaufen.«
»Ich werde Euch Geld für ein Boot schicken, wenn ich nach Hause komme«, versprach er ihr.
Sie lächelte, als sei es nur eine höfliche Floskel. »Wo ist Euer Zuhause?«
Nach kurzem Zögern entschied er, ihr die Wahrheit anzuvertrauen. »Ich lebe in Frankreich«, sagte er. »Meine Familie hat mich ans Englische Kolleg in Douai geschickt, als ich zwölf Jahre alt war, und ich bin dortgeblieben und habe mein Ordensgelübde als Priester abgelegt. Als der Krieg in England ausbrach, waren sie froh, dass ich in Frankreich in Sicherheit war. Mein Vater hat gegen das Parlament gekämpft, doch sie wurden in der Schlacht von Naseby geschlagen. Jetzt sind er und meine Mutter mit der Königin in Paris im Exil, und ich bin Seminarpriester und habe geschworen, nach England zu kommen und die Menschen hier zum wahren Glauben zurückzuführen.«
»Ist es nicht sehr gefährlich, nach England zu kommen?«
Er zögerte. Auf Spionage stand die Todesstrafe, und auf Ketzertum ebenfalls. Das Kolleg war stolz auf seine Geschichte an Märtyrern und ließ Kerzen vor einer Wand mit ihren eingemeißelten Namen brennen. In seiner Jugend hatte er sich danach gesehnt, einer der heiliggesprochenen Toten zu werden. »Mein Kolleg hat schon viele Märtyrer nach England geschickt, seit König Henry der wahren Kirche den Rücken gekehrt hat. Die Kirche hat sich verändert, entgegen den Wünschen des Volkes. Aber wir haben uns nie verändert. Ich trete in die Fußstapfen vieler Heiliger.« Er lächelte über ihren fragenden Blick. »Wahrlich, ich habe es mir ausgesucht. Und es gibt viele sichere Verstecke und viele Freunde, die mir helfen. Ich kann das Land durchqueren, ohne auch nur einmal römisch-katholischen Boden zu verlassen. Ich kann jeden Abend in einer versteckten geweihten Kapelle beten. Das Parlament ist, was den König betrifft, zu weit gegangen, die Armee erst recht. Jetzt ist unsere Stunde gekommen. Im ganzen Land erklären Städte und Dörfer sich für den König und verkünden, dass sie ihn zurück auf dem Thron haben wollen. Die Menschen wollen Frieden, und sie möchten frei ihren Gottesdienst besuchen können.«
»Werdet Ihr bis dahin nicht zu Eurem Kolleg zurückkehren?«, fragte sie.
»Nein. Es gibt eine Sache, eine große Sache, die ich tun muss, bevor ich nach Hause fahren kann.« Er widerstand der Versuchung, ihr mehr zu erzählen.
Sie erriet es sofort. »Ihr reist doch nicht etwa auf die Insel Wight?«, flüsterte sie. »Zum König?«
Sein Schweigen verriet ihr, dass sie recht hatte.
»Ihr begreift also, warum Ihr nicht mit mir gesehen werden solltet«, sagte er. »Und ich werde nie zugeben, dass ich Euch begegnet bin, dass Ihr mich versteckt habt. Was immer geschieht, was immer mir zustößt, ich werde Euch niemals verraten.«
Feierlich nickte sie. »Wenn Ihr zur Propstei wollt, sollten wir während der Ebbe durch den Sumpf gehen. Wir können mit dem Verwalter sprechen, während er beim Frühstück sitzt, und wenn er Euch nicht ins Haus lässt, wird immer noch genug Zeit sein, um durch den Sumpf zurückzulaufen, bevor der Wasserstand zu hoch wird.«
Er erhob sich von seinem Sitzplatz auf den Netzen, klopfte sich die Jacke ab und schwang sich den Umhang um die Schultern. »Wir gehen durch den Sumpf?«
Sie nickte abermals. »Wir sollten niemandem begegnen. Hierher verirrt sich kaum jemand. Vor der Propstei gehen wir durch einen Hohlweg aus Büschen. Falls Ihr dort jemandem begegnet, könnt Ihr Euch einfach über die Böschung in den Graben fallen lassen und Euch verbergen. Falls Ihr die Flucht ergreifen müsst, folgt dem Graben, und er wird Euch landeinwärts führen. Ihr könnt Euch im Wald verstecken.«
»Und was werdet Ihr tun?«
»Ich werde behaupten, ich hätte nicht gemerkt, dass Ihr mir gefolgt seid. Dass ich auf dem Weg zum Strand sei, auf der Suche nach Seeschwalbeneiern.« Sie drehte sich um und öffnete die Tür. »Wartet hier.«
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Auf einmal wurde die stille Luft durch einen explosionsartigen Lärm zerrissen, man vernahm eine Sturzflut aus Wasser und dann ein schreckliches Donnern.
»Was ist das?«, wollte er wissen. Er war zusammengefahren und hatte die Hand an seinem Rucksack.
»Nur die Mühle«, erwiderte sie gelassen. »Sie haben den Mühlbach geöffnet, und jetzt mahlen die Mühlsteine. An einem ruhigen Tag ist es laut.«
Er folgte ihr nach draußen in den hellen Morgen. Die Schlammbänke und Wassertümpel glänzten matt wie angelaufenes Silber und erstreckten sich, funkelnd und seltsam, bis zum Horizont. Der knirschende und scheppernde Lärm ging weiter, als rolle jemand die Eisentore der Hölle über ein Steinpflaster.
»Das ist schrecklich laut!«, rief er.
»Man gewöhnt sich dran.« Sie stieg vor ihm den Uferdamm hinunter auf eine kleine Landzunge aus Kies, die in den schlammigen Sumpf führte und sich dann in einem flachen Flussbett verlief. Er ging an ihrer Seite, seinen Rucksack auf dem Rücken, die Absätze seiner Reitstiefel versanken in dem Schlamm und kamen mit einem lauten Schmatzen wieder heraus. Auf einmal stürzte ein Schwall Wasser durch den Graben neben ihm und ließ ihn zusammenzucken.
Sie lachte. »Das ist der Mühlbach, das Wasser von der Gezeitenmühle.«
»Alles hier ist so seltsam.« Er schämte sich, vor dem Wasser zurückgeschreckt zu sein, das jetzt neben ihnen, in der ansonsten so stillen Landschaft, entlangströmte. »Meine Heimat liegt im Norden, hohe Hügel, Moorlandschaft, es ist sehr trocken … Das hier ist für mich wie ein fremdes Land, wie das schottische Tiefland.«
»Der Müller öffnet die Schleusentore am Mühlteich, damit das Wasser hereinströmt und sein Rad dreht«, erklärte sie. »Die Nachfrage nach Mehl ist bei uns nicht groß genug. Aber er lagert es hier und schickt es nach London, wenn der Preis stimmt.«
Er vernahm den Groll in ihrer Stimme. »Ihr meint, er kauft das Getreide billig und liefert es nach London, um es dort zu einem höheren Preis zu verkaufen?«
»Er ist auch nicht schlimmer als alle anderen«, sagte sie. »Aber es ist hart, mit anzusehen, wie das Getreideschiff mit gehissten Segeln ausläuft, wenn man selbst nicht das Geld für einen Brotlaib hat und auch nicht genug verdient, um Mehl zu kaufen.«
»Bestimmt Seine Lordschaft nicht den Preis für den Laib?«
Sie zuckte mit den Schultern. Ein guter Grundherr würde den Preis festlegen und dafür sorgen, dass der Müller nicht mehr als einen Scheffel Weizen als Entgelt nahm. »Sir William ist nicht immer hier. Er ist in London. Wahrscheinlich weiß er es nicht einmal.«
Er konnte keinen Weg mehr erkennen, als Alinor vom Mühlbach weg mitten durch eine Öde aus weichem Schlamm zu einer höher gelegenen kleinen Insel aus Kies lief. Das Hafenwasser gurgelte und wich ständig zu allen Seiten zurück. Manchmal hatten sie den festen Boden einer Kieslandzunge unter den Füßen, mit einem tiefen Tümpel auf der dem Meer zugewandten Seite, wo er Schwärme aus winzigen Fischen sah, die das sinkende Wasser zurückgelassen hatte. Manchmal gingen sie über Sand, der vom zurückweichenden Meer zerfurcht war, und er entsann sich der Gefahr von Treibsand und folgte in ihren Fußspuren. Oft hielt er es für unmöglich, dass sie den richtigen Weg um die tiefen Wasserläufe kannte, die sich durch das eintönige Marschland zogen. Doch sie schlug unbeeindruckt die eine Richtung ein und dann die andere, ging ihren Weg, manchmal auf dem Meeresboden, manchmal durch die Schilfbänke, manchmal auf dem unsteten Küstenstreifen, wo halb überschwemmte Pfosten und unter Schlamm begrabene Buhnen zeigten, dass jemand früher einmal einen Deich gebaut und Land erobert, es dann jedoch wieder an das ungerührte Meer verloren hatte.
Als sie nach über einer Stunde Fußmarsch landeinwärts bog, betraten sie einen überwachsenen Weg, wo Weißdornbäume sich auf beiden Seiten zu ihnen herabneigten. Als sie den gewundenen Pfad einschlug, der auf die hohen, knapp über den dichten Bäumen sichtbaren Dächer der Propstei zuführte, blieb er absichtlich so weit zurück, dass er sich augenblicklich wegducken konnte, wenn ihnen jemand entgegenkam. Er hielt sich allerdings nah genug hinter ihr, um ihr folgen zu können. Brombeersträucher zogen sich quer über den Weg und zupften an seinen Ärmeln. Dieser Pfad wurde kaum je benutzt: Die Feldarbeiter zogen die Straße vor, und als der König noch auf dem Thron gesessen und Sir William in seiner Gunst gestanden hatte, hatten alle vornehmen Besucher vom Festland ihre Kutschen bei Ebbe über die Furt gefahren und waren durch die verzierten Tore gekommen, um schließlich vor der zweiflügligen Eingangstür zu halten, wo sich beim Öffnen der Kutschentüren eine Reihe livrierter Dienstboten verneigte. Doch die livrierten Dienstboten waren weggelaufen, um für die New Model Army zu kämpfen, und es hatte keine vornehmen Besuche mehr gegeben, seit der Krieg ausgebrochen war und Sir William sich der Verliererseite angeschlossen hatte.
Die Bäume wichen einer von struppigen Hecken umgebenen Wiese mit schlecht gemähtem Gras. Die beiden überquerten rasch das offene Feld und traten in den Schutz der hohen Mauer aus gespaltenen, von roten Backsteinen eingefassten Flintsteinen. Mit der Hand auf dem ringförmigen Griff der Holztür hielt Alinor inne.
»Ist das hier Euer Unterschlupf? Erwartet man Euch? Soll ich dem Verwalter Euren Namen nennen?«
»Ich hatte tatsächlich gehofft, hierherzukommen«, räumte James ein. »Sir William meinte, er werde mich hier treffen. Aber ich weiß nicht, inwieweit er seinen Verwalter ins Vertrauen gezogen hat. Ich weiß nicht, ob es sicher für Euch ist, hineinzugehen und von mir zu erzählen. Vielleicht sollte ich lieber allein gehen.«
»Es ist sicherer, wenn Ihr hierbleibt. Ich kann sagen, ich wäre Euch zufällig begegnet. Wartet hier.« Sie wies auf einen Heuhaufen, den man auf der Küstenwiese errichtet hatte. »Geht dahinter und haltet die Augen auf. Wenn ich nicht innerhalb der nächsten Stunde zurückkomme, ist etwas schiefgegangen, und Ihr solltet besser verschwinden. Geht an der Küstenlinie entlang zurück, bleibt auf dem Uferdamm. Ihr könnt Euch verstecken, bis heute Abend wieder Ebbe herrscht, und in der Dämmerung über den Damm waten.«
»Gott schütze Euch«, sagte er nervös. »Ich schicke Euch nicht gern in Gefahr. Seine Lordschaft hat mir versichert, dass ich hier in Sicherheit wäre. Ich weiß nur nicht, ob er seinen Verwalter eingeweiht hat.«
»Falls er mich herschickt, um Euch eine Falle zu stellen, um Euch zu Eurer Verhaftung hineinzubringen, werde ich zum Zeichen meine Schürze abnehmen«, sagte sie. »Wenn ich komme und meine Schürze in der Hand halte, lauft weg.«
Sie war blass vor Angst, die Lippen fest zusammengepresst. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und betrat durch die Tür in der Mauer den Küchengarten. Sie ging an den ordentlichen Beeten mit Kräutern und Gemüse vorbei zur Küchentür der Propstei, stieg aus ihren Holzschuhen und klopfte an die Tür.
Die Köchin öffnete die obere Hälfte der Tür, lächelte bei Alinors Anblick und sagte: »Ich brauche heute nichts. Seine Lordschaft ist bis morgen nicht zu Hause, und für jemand anderen mache ich keine Aalpastete.«
»Ich bin hier, um mit Mr Tudeley zu sprechen«, sagte Alinor. »Es geht um meinen Jungen.«
»Es gibt keine Arbeit«, sagte die Köchin schroff, hob den Deckel von einem gewaltigen Schmortopf und rührte den Inhalt um. »Nicht beim derzeitigen Zustand der Welt, wenn keiner weiß, was als Nächstes passiert, wenn der König verschwunden ist und das Parlament Sturm läuft, wenn unser eigener Herr jeden Werktag nach London reist, um zu versuchen, sie zur Vernunft zu bringen, aber niemand auf irgendjemanden hört außer auf den Leibhaftigen.«
»Ich weiß«, sagte Alinor und folgte ihr in die heiße Küche. »Aber trotzdem muss ich mit ihm sprechen.« Bei dem Geruch nach Rinderbrühe zog sich ihr Magen vor Hunger zusammen. Die Köchin hob den Kopf von der Arbeit, wischte sich das verschwitzte Gesicht mit der Schürze ab und rief jemandem im Haus zu, er solle nachsehen, ob Mr Tudeley für die Hebamme Reekie zu sprechen sei. Alinor wartete an der Tür, und dann steckte ein Lakai den Kopf in die Küche und sagte: »Ihr sollt reinkommen, Mrs Reekie.«
Alinor folgte dem Burschen, vorbei an den Vorratskammern, den Korridor entlang zur getäfelten Tür des Verwalters. Der Lakai schwang sie auf, und Alinor trat ein. Mr Tudeley saß an seinem Schreibtisch, vor sich Papiere ausgebreitet. »Mrs Reekie«, sagte er, fast ohne den Blick zu heben. »Ihr wolltet mich sehen?«
Alinor machte einen Knicks. »Guten Tag, Sir«, sagte sie. »Das wollte ich. Das will ich.«
Der Bursche verließ das Zimmer, schloss die Tür hinter sich, und der Verwalter wartete darauf, welche Bitte sie diesmal vorzubringen hatte. Jeder wusste, dass die Reekie und ihre Kinder von der Hand in den Mund lebten. Großes Mitleid hatte niemand mit der verlassenen Frau eines Säufers.
»Gestern Abend war ich in der Kirche und bin einem Mann begegnet, der sich mir als James vorgestellt hat«, sprudelte es verängstigt aus ihr heraus. »Pater James. Ich habe ihn hergebracht. Er wartet beim Heuhaufen auf der Küstenwiese.«
»Ihr habt ihn hergebracht, damit ich ihn als einen sich dem anglikanischen Gottesdienst verweigernden Priester verhafte?«, fragte Mr Tudeley sie kalt und betrachtete sie über seine gefalteten Finger hinweg.
Alinor schluckte mit trockenem Mund, das Gesicht erstarrt. »Wie Ihr wünscht, Sir. Ich weiß in diesen Dingen nicht, was richtig und was falsch ist. Er sagte, er wolle hierhergebracht werden, also habe ich ihn hergebracht. Wenn er ein Freund Seiner Lordschaft ist, dann muss ich ihm gehorchen. Wenn er ein Feind ist, dann melde ich ihn hiermit bei Euch.«
Mr Tudeley lächelte über ihre Nervosität. »Dann handelt Ihr nicht aus Prinzip? Habt Ihr Euch nicht der Partei Eures Bruders angeschlossen, Hebamme Reekie? Seid zu einer dieser wahrsagenden Predigerfrauen geworden? Wollt Ihr, dass er wegen Ketzerei verbrannt wird? Wollt Ihr, dass er wegen Verrats gehängt und ausgeweidet wird?«
»Ich will niemandem übel«, sagte Alinor hastig. »Und ich glaube, wie immer es Sir William für richtig hält. Mir steht nicht zu, ein Urteil zu fällen. Ich will kein Urteil fällen. Ich habe ihn zu Euch gebracht, damit Ihr das Richtige tut, Mr Tudeley. Ich habe ihn zu Euch gebracht, damit Ihr ein Urteil fällen könnt.«
Ihre Ernsthaftigkeit beruhigte ihn. Er stand auf. »Das habt Ihr sehr gut gemacht.« Er griff in seine Tasche und holte eine Handvoll Pennys hervor. Er zählte zwölf ab, zwei Tage Lohn für eine Landarbeiterin wie Alys. »Das hier ist für Euch«, sagte er. »Weil Ihr Seiner Lordschaft einen Dienst erwiesen habt, auch wenn Ihr es nicht wusstet. Dafür, dass Ihr eine gute Dienerin in tiefster Unwissenheit seid.« Er lachte kurz. »Dafür, dass Ihr das Richtige getan habt, auch wenn Ihr nicht wisst, was Ihr tut, so unwissend wie ein kleines Vögelchen!«
Alinor konnte den Blick nicht von dem Münzstapel losreißen.
Er griff in die Schublade und holte einen Geldbeutel heraus, öffnete die Kordel und legte eine kleine Silbermünze neben den Stapel aus Pennys. »Und schaut«, fuhr er fort. »Ein Silbershilling. Um Euer Schweigen zu erkaufen. Ihr seid eine arme Frau, aber Ihr seid keine Närrin und keine Klatschbase. Kein Sterbenswort hiervon, gute Frau. Das ist von größter Wichtigkeit. Wir befinden uns immer noch im Krieg, und keiner weiß, wer als Sieger hervorgehen wird. Wenn irgendjemand hiervon spricht, werdet Ihr die schlimmsten Konsequenzen tragen. Nicht ich – ich werde es abstreiten, und niemand würde Eurem Wort Glauben schenken. Nicht Seine Lordschaft, der noch nicht einmal hier ist. Nicht der Mann, der beim Heuhaufen wartet – er wird weit weg sein, so flink wie ein Hase vor den Hunden. Euch werden sie wegen falschen Glaubens, wegen falscher Händel, wegen falscher Aussage ins Wasser werfen. Euch werden sie als Spionin bezeichnen, als Verräterin oder zumindest als Klatschweib. Euch werden sie im Rife schwimmen lassen, während Eure Röcke Euch nach unten ziehen und das Meer hereinkommt. Versteht Ihr mich?«
»Ja«, krächzte Alinor, deren Kehle vor Angst zugeschnürt war. »Gott gebe, dass es nie eintritt. Ich schwöre, ich werde nichts verraten. Ja, Sir.«
»Dann werden wir also sagen, Ihr wärt heute zu mir gekommen, um zu sehen, ob ich Arbeit für Euren Jungen habe, und ich hätte gesagt, ihr beide könntet herkommen und den Kräutergarten jäten, pflücken, was diesen Sommer getrocknet werden muss, und die Destillierkammer aufräumen. Und wir werden ihm und Euch den üblichen Satz zahlen: für jeden Sixpence am Tag. Ihr werdet diese Pennys umsichtig ausgeben, immer nur einen nach dem anderen, und niemandem erzählen, woher sie gekommen sind. Und Ihr werdet den Shilling sparen und niemandem sagen, dass er von mir stammt.«
»Ja, Sir«, versicherte sie abermals.
Er nickte. »Und ich werde Euch für dieses Quartal die Pacht erlassen.«
Er zog Alinors Pachtbuch heraus und setzte einen Haken neben ihren Namen. »So.«
»Danke«, sagte Alinor wieder, vor Erleichterung ganz atemlos. »Gott segne Euch, Sir.«
»Ihr könnt jetzt gehen. Sagt dem Mann auf der Wiese, er soll leise durch die Tür, die die Pächter am Pachttag benutzen, ins Haus kommen. Verstanden? Sagt ihm, er soll darauf achten, dass ihn niemand sieht. Und Ihr und ich, wir werden nie wieder über diese Sache reden. Und Ihr werdet überhaupt niemals mit irgendjemandem darüber reden.«
»Ja, Sir«, sagte sie ein letztes Mal und griff schnell wie ein Dieb nach dem Geld, ließ die Münzen in ihre Tasche gleiten und war im nächsten Moment lautlos durch die Tür verschwunden.
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Sie verließ das Haus durch die sonst nur an Pachttagen benutzte Seitentür, um sicherzustellen, dass er sie unverschlossen vorfinden würde, und ging durch den Küchengarten zurück, um ihre Holzschuhe zu holen. Nachdem sie die Füße in die hölzernen Überschuhe geschoben hatte, trat sie durchs Tor auf die Wiese. Ein jeder Beobachter würde bloß glauben, dass sie den direkten Weg zurück zu ihrem Haus am anderen Ende des Watts einschlug. Pater James beobachtete von hinter dem Heuhaufen, wie sie aus der kleinen Holztür in der Flintsteinmauer kam: leichten Schrittes, den Kopf gereckt, die Schürze um die Taille gebunden, mit raschelndem Rock auf den geschnittenen Gräsern, die den Duft nach Heu und getrockneten Wiesenblumen verströmten. Sobald er sie erblickte, die mühelose Anmut ihres Gangs, wusste er, dass er in Sicherheit war. Kein Judas konnte so gehen. Sie strahlte wie eine Heilige in einem Buntglasfenster.
»Ich bin hier«, sagte er, als sie um den Heuhaufen bog.
»Ihr sollt reingehen«, sagte sie atemlos. »Ihr seid in Sicherheit. Durch die Tür da in der Mauer, wo ich rausgekommen bin, und links durch den Küchengarten. Es gibt eine kleine Tür aus schwarzer Eiche, seitlich am Haus auf der linken Seite. Geht dort hinein. Sie ist nicht zugesperrt. Das Zimmer des Verwalters befindet sich nur zwei Schritte den Korridor weiter auf der rechten Seite. Sein Fenster geht auf den Küchengarten hinaus. Er wartet auf Euch. Sein Name ist Mr  Tudeley.«
»Er hat nicht … er war nicht … Ihr seid jetzt nicht in seiner Gewalt?«
Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mich bezahlt«, sagte sie, zitternd vor Erleichterung, »weil ich Euch hergebracht habe. Er ist auf Eurer Seite. Und er hat für mein Schweigen gezahlt. Durch meine Begegnung mit Euch bin ich viel reicher.«
Er ergriff ihre beiden Hände. »Und ich durch meine mit Euch.«
Einen Moment lang standen sie sich an den Händen haltend da, dann ließ er sie los. »Gott segne Euch und verhelfe Euch zu Erfolg«, sagte er förmlich. »Ich werde für Euch beten und Geld schicken, wenn ich wieder in Frankreich bin.«
»Ihr schuldet mir nichts«, sagte sie. »Und Mr Tudeley hat mir schon zwei Shilling gegeben. Ganze zwei Shilling!«
Er dachte an sein Priesterseminar, den Goldteller auf dem Altar, die glitzernden Diamanten und Rubine an den Schreinen, das goldene Kruzifix und die Goldkette um seinen Hals. Heute Abend würde er von Silber essen und auf dem feinsten Leinen schlafen, während jemand sein Hemd wusch und seine Stiefel putzte. Morgen oder tags darauf würde er Sir William treffen, und sie würden ein Boot mieten und Männer mit dem Vermögen bestechen, das er bei sich trug. Und da feierte diese Frau den Umstand, dass sie zwei Shilling verdient hatte. »Ich werde für Euch beten.« Er zögerte. »Wen soll ich in mein Gebet einschließen?«
»Ich heiße Alinor. Alinor Reekie.«
Er nickte. Ihm fiel nichts mehr ein, um sie aufzuhalten, doch gehen lassen wollte er sie auch nicht. »Ich werde für Euch beten. Und dass Ihr Euer Boot bekommt.«
»Vielleicht werde ich das«, erwiderte sie.
»Ich rechne nicht damit, hierher zurückzukommen«, gab er zu. »Ich muss gehen, wohin man mich schickt.«
»Ich werde nicht nach Euch Ausschau halten«, versicherte sie ihm. »Ich weiß, dass das hier kein Ort für Euch ist.«
»Ihr seid …«, setzte er an, doch es gab immer noch nichts, was er sagen konnte.
»Was?«, fragte sie. Ihr Hals war leicht gerötet, gleich über dem rauen, selbst gesponnenen Gewand.
»Ich wusste nicht …«, setzte er an.
»Was?«, fragte sie leise. »Was habt Ihr nicht gewusst?«
»Ich wusste nicht, dass es eine Frau wie Euch geben könnte, an einem solchen Ort.«
Das Lächeln begann langsam, in ihren dunkelgrauen Augen, dann bogen sich ihre Lippen, und ihr schoss die Farbe in die Wangen.
»Lebt wohl«, sagte sie unvermittelt, als wolle sie nach diesen Worten kein weiteres mehr hören. Sie drehte sich um und ging über die Wiese aufs Meer zu, wo die Flut gerade hereinkam, eine dunkle Linie vor einem wolkenverhangenen Himmel.
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Ihre Hochstimmung aufgrund seiner Worte – eine Frau wie Ihr, an einem solchen Ort – hielt tagelang an, während sie in der Sommerhitze ihrer Arbeit nachging: Unkraut jäten in ihrem Garten, Kräuter schneiden und im Fährhaus trocknen, eine der Bauersfrauen besuchen, die nach der Ernte ihr erstes Kind erwartete. Ihr Mann, Bauer Johnson, war wohlhabend, besaß sein eigenes Land und hatte gleichzeitig einen Teil der Ländereien des Grundherrn gepachtet. Er gab Alinor einen Shilling im Voraus, damit sie seiner Frau jeden Sonntag einen Besuch abstattete, und versprach ihr einen weiteren Shilling für ihre Hilfe bei der Geburt. Sie knotete die beiden Silbershillings in ein Lumpentuch und versteckte es unter einem der Steine der Feuerstelle. Eine Frau wie Ihr, an einem solchen Ort, hallte es in den langen Stunden des sommerlichen Tageslichts in ihrem Kopf. Sobald sie genug gespart hatte, überlegte sie, würde sie mit ihrem Bruder über den Kauf eines Boots reden. Eine Frau wie Ihr, an einem solchen Ort.
Sie wiederholte die Worte insgeheim so oft, dass sie mit der Zeit ihre Bedeutung verloren. Was war eine Frau »wie sie«? Wie war dieser Ort beschaffen, dass es dem Fremden widersprüchlich erschien, dass sie hier lebte? Sie erinnerte sich wieder an seinen Blick am Hals ihres Kleids, die Wärme seiner Augen, und wusste genau, was er meinte, verspürte von Neuem die Freude über seine Worte.
Es kam ihr nie in den Sinn, dass ihm die Worte gegen seinen Willen entschlüpft waren, dass es für ihn eine Sünde war, sie laut zu sagen, sie auch nur zu denken. Sie war in einer Kirche getauft worden, in der Pfarrer heiraten durften: Es hatte seit hundert Jahren keine zölibatären Priester oder Klöster mehr in England gegeben. Sie begriff nicht, dass es für ihn eine Sünde war, eine Frau auch nur anzusehen, ganz zu schweigen davon, ihr etwas voller Verlangen zuzuflüstern. Sie hörte das Zwanghafte in seiner Stimme, als könne er nicht anders, als die Worte auszusprechen. Doch sie hatte keine Ahnung, dass er sie bei seiner Rückkehr im Kloster würde beichten müssen. Er würde seinem Beichtvater sagen müssen, dass er einer Todsünde erlegen war: Er hatte Verlangen verspürt.
Was sie empfand, wusste sie selbst nicht. Sie hatte jung geheiratet, zwei Kinder zur Welt gebracht und dabei nichts als Schmerzen empfunden. Sie wusste nicht, woran es lag, dass sie seine Worte flüsterte, als seien sie eine Beschwörungsformel, oder weshalb ihr die Worte im Kopf herumschwirrten, als handele es sich um ein immer wieder erklingendes Musikstück.
Ihr Sohn Rob kam mit drei Pennys für sein Tagewerk vom Vogelverscheuchen zurück, und ihre Tochter Alys steuerte ihren Wochenlohn von zwei Shilling und Sixpence bei. Beide händigten ihren Verdienst ohne Klagen aus, da sie wussten, dass ihre Mutter die Waren für ihren Lebensunterhalt bar bezahlen musste: Schaffelle fürs Spinnen, Butter und Käse, da sie keine Kuh hatten, Schinken und Schweineschmalz, da sie kein Schwein besaßen, eine Gebühr fürs Brotbacken im Ofen der Mühle, eine Zahlung an den Müller fürs Mahlen von einem Viertelscheffel Weizen, eine Gebühr an die Propstei für das Recht, Treibholz an der Küste und Seeschwalbeneier am Strand zu sammeln, ein Bußgeld, weil sie im letzten Frühjahr am Watt keine Gräben ausgehoben hatte. Pacht, wenn sie wieder fällig war, den Zehnten jeden Monat an die Kirche, neue Sohlen für Alys’ Stiefel.
»Ich werde ein Boot kaufen«, erklärte sie ihnen. »Sobald ich kann.«