Wattenmeer,
November 1648
A lys und Alinor gingen gemeinsam den Uferdamm entlang zum Fährhaus, der vereiste Boden hart unter ihren Füßen. Zum Abschied küssten sie sich wortlos am Landungssteg. Mit strahlendem Gesicht zog Ned die Fähre für seine Nichte herüber, während der Hund neben ihm stand und mit dem Schwanz wedelte.
»Guten Tag«, sagte er fröhlich. »Und es ist ein guter Tag für mich und für alle Freunde der Freiheit.«
»Was ist geschehen?«, fragte Alinor, als Alys auf die Fähre stieg. Alinor schüttelte auf Neds ausgestreckte Hand hin den Kopf. »Nein, ich setze nicht über. Ich bin gekommen, um damit anzufangen, die Gerste zum Keimen zu bringen.«
»Die Armee wird den König gefangen nehmen. Das schwöre ich«, sagte er triumphierend.
»Warum? Woher weißt du das?«
»Der Wollhändler ist durchgereist – er hat dir mehr Wolle zum Spinnen dagelassen, sie ist im Lager – und hat mir erzählt, dass die Neuigkeiten in ganz Chichester die Runde machen. Die Parlamentarier haben nicht einmal annähernd eine Vereinbarung mit dem König erzielt. Und jetzt hat sich herausgestellt, dass Seine Majestät kurz davorstand, sein königliches Wort zu brechen und zu fliehen. Der Kommandant von Carisbrooke Castle, Colonel Hammond, ist ins Hauptquartier gerufen worden, um deswegen Rede und Antwort zu stehen. Die Verschwörer sind verhaftet worden. Die Armee hat genug, und jetzt werden sie sich den König selbst holen.«
»Aber woher soll denn der Wollhändler aus Chichester wissen, dass der König die Flucht geplant hat?«, fragte Alys skeptisch.
»Wer ist verhaftet worden?«, mischte Alinor sich ein, atemlos vor Sorge um James. »Wer ist gefangen genommen worden bei dem Versuch, dem König zu helfen?«
»Seine Wächter auf dem Schloss, aber die ganze Insel hat Bescheid gewusst«, sagte Ned verächtlich. »Ein halbes Dutzend Männer war an der Verschwörung beteiligt. Er muss an jeden, den er kannte, einen Brief geschrieben und ihm erzählt haben, dass er sich nicht mit dem Parlament einigen konnte und dass er bereit für die Flucht sei.«
Schwindelig vor Angst, lehnte Alinor sich an den Anlegepfosten. »Nur seine Wächter sind verhaftet worden?«
»Ja, zwei von ihnen. Alinor, ist alles in Ordnung?«, erkundigte sich Ned bei ihr.
»Onkel, ich muss zur Arbeit«, sagte Alys und zupfte am Führungsseil. »Wirst du mich übersetzen? Ma, bis heute Abend. Wir backen heute in der Mühle. Ich werde einen Laib mit nach Hause bringen.«
»Jaja, Gottes Segen«, sagte Alinor zerstreut und wandte sich vom prüfenden Blick ihres Bruders ab zur Mälzerei.
Der Friede in der Mälzerei beruhigte sie, als sie den Gerstenrechen zur Hand nahm, dessen Griff von jahrzehntelangem Gebrauch glatt war. Der Raum mit der tiefen Decke war warm im Vergleich zur winterlichen Kälte draußen und duftete nach dem süßen Geruch von Gerste. Die Körner befanden sich in einem hoch zusammengeschaufelten Haufen, wurden durchwärmt und begannen zu keimen. Ned hatte einen Eimer mit sauberem Wasser vom Süßwasserteich des Fährhauses stehen lassen, geschützt vor dem nächtlichen Frost. Sie rechte die Gerstenkörner auf dem Boden flach und vermischte sie miteinander. Sobald sie ausgebreitet waren, nahm sie eine Bürste und besprenkelte die Körner gründlich mit dem Wasser, rechte sie abermals um und nahm dann die stumpfe Seite der Schaufel, um sie wieder zu einem Haufen zusammenzuschieben. Es ließ sich nicht erkennen, dass jeder Same vor Leben strotzte, aber sie wusste, dass das Wunder des Lebens hier zu Hunderten und Tausenden, zu Millionen vorhanden war. Es war ein Leben im Geheimen, ein winzig kleiner Funke, der in jedem einzelnen Gerstenkorn glomm, aber dennoch so mächtig, dass er den Samen aufbrechen und wachsen würde. Sie lehnte sich auf den Griff der Schaufel und überlegte. Weit weg, irgendwo, vielleicht auf der Insel Wight, vielleicht in seinem Kolleg in Frankreich, dachte James gerade an sie, war auf dem Weg zu ihr, mit dem Wunder seiner Leidenschaft im Innern.
Einst hatte sie nicht gewusst, ob er ein Mann war, der Wort hielt, ob er zu ihr zurückkommen würde. Doch jetzt vertraute sie ihm; sie wusste, dass er kommen würde. Und wenn er kam, würde sie ihm sagen, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug, dass in ihrem Innern ein neues Leben heranwuchs. Sie würde sich ihm nicht wieder verweigern, sie würde mit ihm zu seinem Haus in der weit entfernten Grafschaft Yorkshire gehen, nach London, nach Frankreich, wohin auch immer er wollte.
Sie lehnte die Malzschaufel an die Wand, stieß gegen die Tür und schwang sie auf, als werde sie vielleicht das Segel seines Bootes erblicken. Gerade kam die Flut herein, die Möwen schrien über den plätschernden Wellen. Das Wasser war leuchtend blau, der Zischbrunnen ein vertrautes Flüstern in der Ferne, die winterliche Sonne hart und grell. Alinor überlegte, dass alles auf der Welt möglich war: Der König konnte entkommen, James konnte sein Zuhause zurückgewinnen, er würde sie holen kommen, und sie würde einem Kind von ihm das Leben schenken. Warum nicht, in dieser neuen Welt, wo alles geschehen konnte?
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»Ich möchte mit dir reden«, sagte Alinor nach tagelangem trübseligem Schweigen zu ihrer Tochter.
Sie bereiteten die kleine Hütte für die Nacht vor, schaufelten die rote Glut des Feuers unter die irdene Abdeckung, scheuchten die Hühner in ihre Ecke, zogen sich bis auf ihre Leinenhemden aus und löschten zum Schluss die Binsenlichter. Der faulige Geruch nach Talgrauch durchströmte den kleinen Raum wie ranziger Speck. Die Hütte war düster, erleuchtet von Streifen aus Mondschein, die durch die Fensterläden fielen.
»Endlich«, sagte Alys gereizt. »Ich habe mich schon gefragt, wie lange es dauern würde. Hast du eine Ahnung, was du machen wirst?«
Alinor neigte den Kopf. »Alys, ich kann nur sagen, dass es mir leidtut. Aber ich habe Gründe zur Hoffnung.«
»Nenn mir einen.«
»Der Vater meines Kindes ist ein guter Mann. Er hat um meine Hand angehalten, und wenn ich es kann, werde ich ihn heiraten.«
»Das kannst du nicht, du bist mit Vater verheiratet.«
»Ich kann sagen, dass er tot ist, und in sechs Jahren steht es mir frei zu heiraten. Es steht im Gesetz. Wenn ein Mann seit sieben Jahren verschwunden ist.«
»Sagen, dass er tot ist?« Alys war entsetzt. »Unseren Vater für tot erklären?«
»Damit wünsche ich ihm nichts Schlechtes!«, rief Alinor.
»Doch! Genau das tust du. Du wirst jedem erzählen, er wäre tot – was? Ertrunken? –, und dich zur Witwe erklären?«
»Alys, dein Vater wird niemals zurückkommen«, sagte Alinor leise. »Er hat es Rob gesagt, er ist ihm in Newport begegnet. Er wird niemals nach Hause kommen.«
»Was? Rob hat ihn gesehen?«
»Euer Vater ist vor ihm davongelaufen, und zum nächsten Treffen ist er nicht erschienen. Er wollte nicht gefunden werden. Er hat dem Tutor gesagt, dass er nicht zurückkommen wird.«
»Und mir hat niemand was davon erzählt?«
»Nein … Weißt du noch? Du wolltest es nicht wissen. Du wolltest ohne Lüge im Mund zum Hof der Stoneys gehen.«
»Mein Vater wird nicht zurückkommen? Niemals?«
»Nein. Das sagt er.«
Alys legte die Hand über die Augen. »Einfach so? Und mir hat niemand was davon erzählt?«
»Es tut mir leid, Alys.« Alinor breitete die von der Arbeit gezeichneten Hände aus. »Es ist so viel …« Sie brach ab, als sie sah, dass ihre Tochter sich die Augen heftig mit ihrem Schultertuch rieb. »Es tut mir sehr leid, Alys. Er ist dir und Rob kein guter Vater gewesen. Er ist kein guter Ehemann gewesen. Er ist kein guter Mann. Du hast gesagt, es mache dir nichts aus. Du hast gesagt, du wollest es nicht wissen.« Sie hielt inne. »Weinst du um ihn?«
Das Mädchen zeigte ihr ein trotziges Gesicht, von dem jegliche Tränen fortgewischt waren. »Kein bisschen.«
Alinor sprach weiter. »Du siehst also, ich muss nicht bis in alle Ewigkeit darauf warten, dass er nach Hause kommt.«
»Sieht aus, als hättest du überhaupt nicht gewartet«, sagte Alys gehässig.
Alinor neigte den Kopf vor der Anschuldigung. »Aber in sechs Jahren kann ich den Vater meines Kindes heiraten.«
»Wer sagt, dass du das tun kannst?«
»So lautet das Gesetz.«
»Wer sagt das?«
Alinor senkte unter dem wütenden Starren ihrer Tochter den Blick. »Robs Tutor hat es mir erzählt.«
»Weiß irgendjemand außer mir Bescheid? Weiß es Onkel Ned?«
»Nein! Nur der Tutor, weil er zusammen mit Rob deinem Vater in Newport begegnet ist.«
»Und das Gesetz besagt, du kannst sieben Jahre nach dem Weggang meines Vaters wieder heiraten?«
»Ja, und das werde ich.«
Alys’ angespanntes Gesicht ließ keine Erleichterung erkennen. »Das wird deinem sechsjährigen Bankert ein Trost sein. Aber wir müssen trotzdem erst noch die sechs Jahre durchstehen.«
Alinor biss die Zähne zusammen. »Deshalb werde ich nichts sagen, und niemand wird wissen, dass ich schwanger bin, bis du sicher verheiratet bist. Dann, wenn du glücklich auf der Stoney-Farm bist, werde ich fortgehen.«
»Mich verlassen«, sagte das Mädchen tonlos. »Und Rob.«
Alinors Gesicht war so ruhig wie eine gemeißelte Heiligenstatue, doch ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Um euch beide zu verschonen, ja«, sagte sie. »Willst du das denn nicht?«
Seufzend hob das Mädchen den Kopf. »Da kann nichts Gutes draus erwachsen«, prophezeite sie. »Wenn das dabei herauskommt, wenn eine Frau die Freiheit hat, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen, dann halte ich nicht sehr viel von Onkel Neds neuem England.«
»Es hat nichts mit Onkel Ned zu tun«, sagte Alinor verblüfft. »Oder dem neuen England.«
»Er sagt, Männer und Frauen können über ihr Schicksal entscheiden, und dass sie nicht von Leuten beherrscht werden sollen, die über ihnen stehen. Aber passiert ist nur, dass du einen schrecklichen Fehler gemacht hast und wir schlimmer leiden werden als zuvor. Denn eigentlich hat sich nichts geändert. Vielleicht sind wir den König losgeworden, aber nicht die Herrschaft der Männer. Du bist immer noch ruiniert, und diesem Mann steht es frei, nach Lust und Laune zu kommen und zu gehen. Und wenn er nicht zu dir zurückkommt, niemals?«
Alinor schüttelte den Kopf, als wolle sie das blanke Elend im Gesicht ihrer Tochter loswerden. »Der Mann, den ich liebe, wird zurückkommen, um mir zu helfen«, versprach sie. »Er wird mich heiraten, sobald er es kann. Ich werde nicht in Schande leben, und du auch nicht. Wir bringen deine Hochzeit hinter uns, und wenn du sicher verheiratet bist, werde ich fortgehen, mein Kind zur Welt bringen, und in sechs Jahren werde auch ich sicher verheiratet sein.«
»Da steckt viel Hoffnung drin«, sagte Alys verbittert. »Und wir sind keine Familie, die mit Hoffnung gut gefahren ist. Wenn ich diejenige wäre, die dir dies erzählte, würdest du mich verprügeln.«
Zum ersten Mal lächelte Alinor ihre geliebte Tochter an. »Ich würde dich niemals verprügeln.«
»Du wärst unglaublich wütend auf mich.«
»Bist du denn nicht unglaublich wütend auf mich?«
Alys erwiderte das Lächeln nicht. Sie wandte den Kopf ab.