Douai, Frankreich,
November 1648
J ames klopfte im Kolleg in Douai an die Tür des Besucherzimmers und machte sich bereit, als er die Stimme seiner Mutter hörte: »Herein! Kommt herein!«
Als er eintrat, drehte sie sich vom Fenster weg, das auf den Marktplatz hinausging, und eilte mit ausgebreiteten Armen auf ihn zu. »Mein Sohn!«, sagte sie herzlich. »Mein Sohn!«
James kniete für ihren Segen, spürte ihre Hand auf dem Kopf, erhob sich dann und küsste sie auf beide Wangen. Sie roch nach Parfüm und sauberer Seide. Sein Vater stand von seinem Stuhl am Tisch auf, wo er in den Seiten eines wunderschön kolorierten Manuskripts geblättert hatte, und James kniete auch vor ihm. Dann erhob er sich, und die drei standen da und sahen von einem zum anderen, als könnten sie ihre Wiedervereinigung kaum fassen.
»Ich habe gehört, Ihr seid zu Hause gewesen?«, fragte sein Vater knapp, und sein durchdringender Blick musterte das trostlose Erscheinungsbild seines Sohnes: von seinem bleichen Gesicht bis hin zu seinen Sandalen.
»Ja«, sagte James. Aus Gewohnheit warf er einen Blick hinter sich, um sich zu vergewissern, dass die Tür geschlossen war. »In England … nicht … in unserem eigenen Zuhause.«
»Wie ich gehört habe, hat es Probleme gegeben.«
Der junge Mann nickte, und sein Vater nahm am Kopf des dunklen Esstisches Platz und bedeutete seinem Sohn mit einer Geste, sich ebenfalls zu setzen. Seine Mutter nahm am Fuße des Tisches Platz. James dachte, dass es drei Jahre her war, seitdem sie an ihrer großen Tafel in ihrem eigenen Zuhause gesessen hatten, drei Jahre, die sie von der geschmälerten Pacht ihres englischen Guts gelebt hatten, drei Jahre des Exils von ihrem Zuhause.
»Wie hört Ihr das?«, fragte James. »Denn eigentlich sollte niemand auch nur das Geringste hören.«
»Es ist dieses verflixte Land«, sagte seine Mutter matt. »Jeder weiß alles. Nichts ist privat, niemand ist diskret. Jeder tratscht und denkt sich Dinge aus.«
»Es bringt mich in Gefahr«, stellte James fest. »Und jeden, der nach England fährt, um dem Glauben zu dienen oder dem König. Ist das den Leuten nicht klar? Und unsere Sache gefährdet es auch. Begreifen sie nicht, dass man im Geheimen dienen muss? Stillschweigen bewahren?«
»Seid Ihr in Gefahr gewesen, cheri? «, fragte seine Mutter.
»Ja«, sagte James tonlos. »Natürlich. Jeden Tag.«
Seine Mutter erbleichte. »Aber Ihr seid unversehrt?« Sie legte ihre weiße Hand über seine und musterte ihn, als sei möglicherweise eine verborgene tödliche Verletzung zu entdecken.
»Habt Ihr Seine Majestät gesehen?«, fragte ihn sein Vater.
»Ja, ich habe ihn gesehen. Ich hatte eine Fluchtmöglichkeit für ihn organisiert, wie Ihr wohl wissen werdet, da es der Hof der Königin und, wie ich vermute, ganz Paris weiß. Aber er ist nicht mitgekommen. Er wollte nicht mitkommen.«
»Er hat seine Rettung verweigert?«, fragte sein Vater fassungslos.
»Haben die Klatschmäuler Euch das nicht zugetragen?«
»Ich habe nur gehört, dass sie fehlgeschlagen ist. Es tut mir leid, ich dachte, dass …«
»Ich versagt habe?«, warf James verbittert ein. »Nein. Es trifft zu, dass meine Rettung fehlgeschlagen ist. Aber es lag daran, dass er nicht aus der weit offen stehenden Tür treten und zu dem Boot gehen wollte, das ich für ihn organisiert hatte, zu den Männern, die ihr Leben für ihn aufs Spiel gesetzt haben.«
»Ist es nicht sicher gewesen?«
»Selbstverständlich ist es so sicher gewesen, wie es nur sein konnte! Ich hätte ihn niemals in Gefahr gebracht«, erwiderte James zornig. »Ich hatte es in die Wege geleitet, aber er wollte nicht mitkommen. Er hat geglaubt, er könne das Parlament austricksen. Sie gegen die Armee ausspielen. Ihnen mit den Iren drohen, oder mit einer Invasion aus Frankreich.«
Sein Vater vollführte eine rasche Handbewegung. »Eine Invasion aus Frankreich wird es nicht geben. Es gibt kein Geld, und Gott weiß …«
James betrachtete seinen Vater. »Gott weiß …?«, fragte er.
Jetzt war es an dem älteren Mann, einen Blick zur Tür zu werfen, um nachzusehen, ob sie fest geschlossen war. »Keine Führung«, sagte er leise. »Kein gesunder Menschenverstand am Hof der Königin, keine Disziplin am Hof des Prinzen. Niemand, dem man auch nur einen Spaniel anvertrauen würde, ganz zu schweigen von einer Armee. Ein Hof voller Favoriten und Geläster und endlosem Klatsch, Streitereien über Nichtigkeiten, Skandale. Gute Männer, die das, was von ihrem Vermögen übrig ist, für verzweifelte Pläne hinauswerfen. Leute, die von einer Zukunft träumen und schwören, sie würden sich rächen. Nichts Zuverlässiges. Niemand, auf den man sich verlassen kann.«
James’ Mutter erhob sich vom Tisch und sah wieder aus dem Fenster, als hätte der kleine Marktplatz in dem Provinzstädtchen ihr irgendetwas Interessantes zu bieten. »Sprecht nicht so«, sagte sie leise. »Nicht, während James sein Leben aufs Spiel setzt.«
»Ist er entkommen?«, fragte James seinen Vater kaum hörbar. »Mir ist zu Ohren gekommen, er sollte wegreiten und dass ein Schiff auf ihn gewartet hat. Befindet er sich in Sicherheit?«
Sein Vater schüttelte den Kopf. »Die Verschwörung ist entdeckt worden.«
»Kaum verwunderlich«, sagte James missmutig.
Seine Mutter drehte sich vom Fenster um. »Seid nicht verbittert«, sagte sie leise. »Lasst Euch nicht von diesen Zeiten verderben.«
»Sie haben mich verdorben«, gestand James. »Ich habe meinen Glauben verloren. Meinen Glauben an die Sache, und auch meinen Glauben an Gott. Aber das wisst Ihr wohl? Ich gehe davon aus, dass Doctor Sean nach Euch geschickt hat? Deshalb seid Ihr hier?«
Sein Vater war ein zu ehrlicher Mann, um seinen einzigen Sohn anzulügen. »Sie haben in dem Moment, in dem Ihr eingetroffen seid, nach uns geschickt«, sagte er. »Sie haben gesagt, Ihr wärt sehr niedergeschlagen. Ist es Euer Glaube an den König und an Gott, der Euch bekümmert? Oder geht es da auch um eine Frau?«
James zögerte, da seine Mutter an den Tisch kam und ihre Hand darauflegte, sodass sich die schöne Spitze ihrer Manschette in dem polierten Holz spiegelte. »Ihr könnt vor mir sprechen«, sagte sie. »Ich bin mir ganz sicher, dass ich in den letzten Jahren Schlimmeres gehört habe. Wir sind lang genug im Exil an einem Hof aus gemeinem Pöbel mit den Moralvorstellungen von Stallkatzen gewesen, ich habe längst alles gehört.«
»Seid Ihr verdorben?«, fragte James sie mit einem schiefen Lächeln.
»Ich bin verhärtet«, räumte sie ein. »Ihr könnt mir alle Neuigkeiten erzählen.«
»Es gibt eine Frau«, gestand er. »Eine Arbeiterin, keine Dame, aber sie ist sehr schön und sehr tapfer und sehr …« Er versuchte, sich eine Beschreibung einfallen zu lassen, die Alinor gerecht werden würde. »Interessant«, sagte er. »Sie ist interessant. Sie ist eine Kräuterfrau, ohne richtige Bildung. Eine einfache Frau, aber sie hat ihren eigenen Kopf, ihre eigenen Gedanken. Sie lebt …« Er brach ab, da er dachte, dass er nicht die Hütte am Rand von Foulmire beschreiben konnte oder das Fährhaus und den Bruder aus der Armee. »Sie lebt sehr einfach«, sagte er, um eine Beschreibung ihrer Armut zu vermeiden. »Aber sie hat mir in der Nacht, als sie mir zum ersten Mal begegnet ist, das Leben gerettet und hat mich versteckt.«
»Ihre Familie?«, hakte seine Mutter nach.
»Sie hat zwei Kinder: einen Jungen und ein Mädchen.«
Ihr entgeistertes Gesicht verriet ihm, dass er einen Fehler begangen hatte.
»Das habe ich nicht gemeint! Ich wollte fragen: Entstammt sie einer guten Familie?«
»Sie hat Kinder? Sie ist Witwe?«, erkundigte sich sein Vater.
James antwortete zuerst seiner Mutter. »Sie hat ein wenig Ansehen in ihrem Dorf, bei den Nachbarn. Es gibt Klatschgeschichten – aber es gibt immer Klatschgeschichten in diesen ärmlichen kleinen Orten, das wisst Ihr! Ihr Ehemann ist fort. Wahrscheinlich ist er tot. Es sind arme Leute.« Zögernd wanderte sein Blick zwischen den beiden hin und her. »Ich erkläre das nicht gut. Sie besitzen kein Land oder eine Familie oder einen Namen.«
Er blickte seine Mutter an, als wolle er sie dazu bringen, den Sumpf so zu sehen, wie er ihn sah, als einen Ort von gespenstischer Schönheit, und Alinor als eine Frau dieses Ortes, ebenfalls fremdartig und schön. »Sie sind nicht wie wir«, versuchte er zu erklären.
»Aber sie hatte zumindest einen Ehemann? Sie war einmal verheiratet? Sie ist keine …«
»Nein! Ihre Eltern sind tot, aber sie hat einen Bruder. Er ist ein guter Mann.«
»Ist ihr Ehemann im Krieg gestorben?«, fragte seine Mutter. »Auf unserer Seite?«
»Ähm, nein …«, sagte James betreten. »Er wird nur vermisst.«
»Sie ist eine verlassene Frau?«, wollte seine Mutter wissen. »Sitzen gelassen?«
»Von freien Bauern abstammend?«, fragte sein Vater hoffnungsvoll. »Dieser Bruder? Hat er eigenes Land? Oder ist er Pachtbauer?«
James schüttelte den Kopf und zwang sich zur Aufrichtigkeit. »Er betreibt die Fähre. Sie haben die Pacht auf die Fähre und das Fährhaus, und sie bauen Gemüse an und Obstbäume und halten Hühner auf einem Acker hinter dem Haus. Sie verkaufen Ale. Es sind arme Leute, Sir, auf schlechtem Boden, ganz am Rand von England, wo es zum Meer wird. Es ist Marschland, Gezeitenland, nichts Halbes und nichts Ganzes. Und es ist wahr, dass sie beinahe nichts besitzt. Man hat ihr ein paar Shilling dafür gegeben, dass sie mich in Sicherheit gebracht hat, und sie hat sich damit ein Boot gekauft.«
Er wusste nicht, dass er beim Gedanken an das Boot und den Mut der Frau, die er liebte, lächelte. »Es hat ihr alles bedeutet. Sie fischt mit dem Boot und verkauft ihren Fang. Sie hat gesagt …« Er brach ab, als ihm klar wurde, dass er ihnen nicht ihren Scherz erzählen konnte, ihn zu retten sei genauso rentabel gewesen wie der Fang eines fetten Lachses. »Sie baut Kräuter an und stellt Arznei her. Sie ist Heilerin und Hebamme in dem kleinen Dorf. Es ist ein kleines Fischerdorf, sehr arm.«
Seine Mutter war vor Entsetzen bleich. »Eine Fischerin?«, wiederholte sie. »Eine Hebamme? Im Sinne einer weisen Frau?«
»Ja«, sagte er mit fester Stimme. »Bedeutender ist sie nicht.« Er wandte sich an seinen Vater. »Aber sie hat mich gerettet, als ich nirgendwohin gehen konnte. Und dann, später, hat sie mich gepflegt, als ich an der Schwelle des Todes war, wenn jeder andere aus Angst vor der Pest die Türen versperrt und mich im Stich gelassen hätte. Doch sie hat sich entschieden, bei mir zu bleiben und sich mit mir einsperren zu lassen. Und ich habe um ihre Hand angehalten.«
Seine Mutter stieß ein unterdrücktes Ächzen aus und legte die Hand über den Mund, während sie die Augen schloss.
Das Gesicht seines Vaters war düster. »Das ist nicht, was wir für Euch geplant haben«, sagte er kurz angebunden.
»Sir, das weiß ich. Aber wir haben keine solche Welt geplant.«
»Wir sind Exilanten und fast mittellos. In dieser Welt sind wir geschlagen, aber wir sind nicht so tief gesunken, dass Ihr Eure Gelübde gegenüber der Kirche brechen und eine Dorfhebamme mit einem Paar Kinder von niedriger Geburt heiraten könnt.«
»Es tut mir leid, Sir. Es tut mir leid, Lady Mutter.«
Sie schüttelte den Kopf, die Augen mit der Hand abgeschirmt, als ertrüge sie seinen Anblick nicht.
»Wir haben Euch gestattet, Euch der Kirche zu verschreiben«, sagte sein Vater widerwillig. »Das ist uns nicht leichtgefallen. Wir haben damals all unsere Hoffnungen auf Enkelkinder und eine Schwiegertochter aufgegeben. Es ist Eure Wahl gewesen. Ihr habt erklärt, Ihr würdet eine Berufung verspüren, und wir haben Euch geglaubt. Das war das Schwerste, was ich je getan habe – meinen einzigen Sohn der Kirche zu überlassen. Und jetzt sagt Ihr uns, das war umsonst? Und wir sollen Euch abermals aufgeben? Aber diesmal für etwas ohne den geringsten Wert? Für eine Frau, die – nach Eurer eigenen Beschreibung – ein Nichts ist?«
James vernahm den immer lauter werdenden Zorn seines Vaters. »Ich weiß. Ich weiß. Es war gut von Euch, mich zur Kirche gehen zu lassen. Damals habe ich mich danach gesehnt, in der Kirche zu sein. Ich war mir sicher. Aber … nach England zurückzukehren und die Niederlage von allem, woran wir glauben, zu erleben, und der König so …«
»Der König so was?«, fuhr seine Mutter ihn in kalter Wut an. »Ist all dies – all dies! –, weil Ihr herausgefunden habt, dass der König ein Narr ist? Das hätte ich Euch vor zehn Jahren sagen können!«
Ihr Ehemann machte eine Handbewegung, um sie zum Schweigen zu bringen, doch sie fuhr fort: »Nein! Ich werde sprechen. Der Junge sollte Bescheid wissen. Er weiß es bereits! Ja! Der König ist ein Narr und eine Marionette, und sein Sohn ist durch und durch ein Schurke. Aber trotzdem ist er der König. Das ändert sich nie! Und Ihr seid Priester, und auch das ändert sich nie. Ob er nun ein guter König ist oder ein schlechter, das ändert sich nie. Ob Ihr nun ein guter Priester seid oder ein schlechter, das ändert sich nie! Genau wie Euer Vater Sir Roger Avery von Northside Manor, Northallerton, ist und immer sein wird. Es ändert sich nie. Ob wir nun dort leben, in unserem Haus, oder nicht, ob es nun von Lumpengesindel überlaufen wird oder nicht, ob Ihr dort lebt oder nicht. Es ist trotzdem unser Name, es ist trotzdem unser Haus. England ändert sich nie, und Ihr auch nicht.«
In dem kleinen Zimmer trat Schweigen ein. Sir Roger blickte von seinem Sohn zu seiner Gattin.
»Hat die Frau Euren Antrag angenommen?«, fragte er.
»Warum in aller Welt sollte sie nicht?«, wollte Lady Avery wütend wissen. »Glaubt Ihr, sie zieht es vor, zu bleiben, wo sie ist? Im Nirgendwo? Halb ertrunken im Wattenmeer?«
James hob den Kopf. »Nein, hat sie nicht. Sie hat gesagt, es zieme sich nicht.«
»Sie hat recht!«
»Hat sie das wirklich gesagt?«, fragte sein Vater interessiert.
James nickte. »Ja, ich habe Euch doch gesagt, dass sie ungewöhnlich ist. Aber ich habe ihr erklärt, dass ich von meinem Orden freigegeben werden würde, dass ich Euch fragen würde, ob wir möglicherweise dem Parlament die Strafe bezahlen und nach Northside zurückkehren könnten, und dass ich um Eure Erlaubnis bitten würde, sie zu heiraten und als meine Frau in unser Haus zu bringen. Sie muss warten, bis man sie zur Witwe erklären kann.«
»Dem Parlament die Strafe entrichten und unter seiner Herrschaft leben? Dem König unseren Dienst verweigern?«
»Ja«, sagte James ruhig. »Er will meinen Dienst nicht. Ich möchte mich ihm nie wieder zur Verfügung stellen.«
»Euren Treueschwur ihm gegenüber verraten?«
»Ihn brechen.«
Lady Avery zog ein besticktes Taschentuch aus ihrem spitzenbesetzten Ärmel und betupfte sich die Augen. Ihr Gatte betrachtete unverwandt das gesenkte Gesicht seines Sohnes.
»Kennt sie überhaupt Euren Namen?«, fragte er.
Der junge Mann blickte auf, und zum ersten Mal sah sein Vater sein jungenhaftes Lächeln.
»Nein«, sagte er. »Sie kennt mich als Pater James. Ich gebe mich als Tutor namens Mr Summer aus. Sie hat alles für mich aufs Spiel gesetzt, dabei kennt sie noch nicht einmal meinen Namen.«