Wattenmeer,
Dezember 1648
A
linor und Alys gingen schweigend zum Fährhaus. Sie neigten ihre mit Tüchern bedeckten Köpfe gegen den eisigen Wind, der den Sumpf hinabwehte. Beide trugen einen großen Korb, der mit kleinen Ölfläschchen und getrockneten Kräutern gefüllt war. Beim Fährhaus öffnete Alinor die Seitentür, betrat die Vorratskammer und belud noch einen Korb mit Gläsern voll eingemachter Pflaumen, getrockneter Äpfel, getrockneter Schwarzer und Roter Johannisbeeren und Brombeeren.
Ned erschien im Türrahmen, Red bei Fuß. »Ich werde mit euch kommen«, sagte er schroff. »Diesen Kram werde ich für euch tragen. Ich bin auf dem Weg nach London.«
»Was?«, fragte Alinor. Ihr erster Gedanke war, dass er irgendwie von ihrer Schwangerschaft erfahren haben musste und sie für immer verließ. »Was? Ned? Was meinst du damit? Du kannst doch nicht fort?«
»Colonel Pride hat das House of Commons eingenommen«, stammelte er aufgeregt. »Gott segne ihn, er ist einer der besten Männer des Kommandanten, also muss es auf seinen Befehl hin sein. Auf jeden Fall. Jetzt heißt es, Krieg gegen das Parlament, wie zuvor Krieg gegen den König geherrscht hat.«
»Auf wessen Befehl?«
»Cromwells persönlich! Oliver Cromwell persönlich!«
»Was hat er jetzt getan?« Alys tauchte neben ihrer Mutter auf und
schob sich den Schal aus dem Gesicht.
»Die Parlamentshäuser eingenommen, als seien sie ein königlicher Palast – was sie ja auch waren! Die Armee hat den Posteninhabern des Königs den Zutritt versperrt, die Verräter unter den Abgeordneten hinausgeworfen. Sie werden keine Abmachung mit dem König über unsere Köpfe hinweg zulassen! Sie werden ihn nicht wieder mit irgendeinem zusammengeschusterten Eid, den er so bald wie möglich brechen wird, auf den Thron setzen. Wir Armeemänner haben seine Lügen von Anfang an durchschaut, wir, die wir dort waren bei der Schlacht von Marston Moor, bei der Schlacht von Naseby.«
Alinor stellte ihren Korb ab und nahm die kalten Hände ihres Bruders in ihre, um zu versuchen, ihn zu beruhigen. »Pst, Ned. Ich verstehe dich nicht. Du kannst nicht nach London gehen. Wer wird dann die Fähre übernehmen?«
»Das musst du machen«, sagte er schroff. »Hör mal, ich flehe dich an. Es tut mir leid, aber ich muss
dorthin. Ich kann mir das nicht entgehen lassen. Colonel Pride hat die Parlamentshäuser eingenommen, gottlob. Die Armee wird ihre eigenen Männer einsetzen, und sie werden gegen all diese leeren Vereinbarungen mit dem König stimmen! Ich muss dort sein. Wenn sie einen alten Soldaten brauchen, muss ich an ihrer Seite stehen. Ich muss es sehen. Ich kann nicht hier unten sein, am Rand des Sumpfes, Nachrichten drei Wochen zu spät bekommen und mich die ganze Zeit fragen, was gerade passiert. Ich kann nicht die letzten Tage meines Krieges in Foulmire feststecken wie ein im Schlamm eingefrorenes Schaf. Alinor! Dies ist die letzte Schlacht. Es waren die größten Tage meines Lebens. Nun brechen die letzten Tage des Königreiches an. Ich muss dort sein. Ich bin am Anfang dort gewesen, ich muss das Ende sehen.«
Alinor schloss die Augen, um sein gerötetes Gesicht nicht mehr ansehen zu müssen. »Ich kann die Fähre nicht übernehmen«, sagte sie. »Ich kann es nicht. Du weißt, dass ich es nicht kann.«
»Niemand wird in den Tagen vor Weihnachten mit der Fähre fahren wollen«, log er. »Nach dem Weihnachtsmarkt in Chichester wird niemand mehr die Insel Sealsea verlassen. Gott weiß, es wird niemand herkommen. Sie werden alle über die Feiertage zu Hause bleiben.«
»Doch! Doch!« Alinors Bedrängnis wuchs. »Keiner will im Winter durch die Furt laufen. Sie werden alle mit der Fähre fahren wollen, selbst bei Ebbe, und bei Flut werden sie Pferde aufladen. Ich kann es nicht tun, Bruder. Nicht auf kaltem Wasser. Nicht bei den Gezeiten im Winter. Zwing mich nicht dazu! Ich kann es nicht – ich schwöre, dass ich es nicht kann.«
»Aber ich kann«, meldete sich auf einmal Alys hinter ihr zu Wort. »Ich werde die Fähre für dich übernehmen, Onkel Ned.«
»Du?«
»Ja, aber du musst mich bezahlen. Du weißt doch, dass ich noch nicht meine ganze Mitgift beisammenhabe. Ich werde die Fähre für fünf Shilling übernehmen. Ich meine, fünf Shilling zusätzlich zu dem Geld, das du mir als Geschenk versprochen hast. Fünf Shilling, und die Fährgebühren behalte ich.«
»Das kannst du nicht.« Alinor drehte sich zu ihrer Tochter um. »Du kannst nicht auf dem Wasser sein. Es wäre mir unerträglich. Du bist nicht stark genug, wenn die Flut hoch ist …«
»Doch, das kann sie«, widersprach Ned. »Was soll ihr schon passieren? Und Rob kann von der Propstei zurückkommen und ihr helfen.«
Alinor schloss gequält die Augen, als sie sich ihre Kinder auf den dunklen Wassern des winterlichen Sumpfes vorstellte. »Bitte«, sagte sie leise. »Bitte tu’s nicht. Du weißt, dass ich sie nicht entbehren kann.«
»Fünf Shilling für meine Hochzeit«, feilschte Alys. »Und ich behalte sämtliche Einnahmen.«
Ned streckte die Hand aus. »Abgemacht.« Zu seiner Schwester
sagte er: »Es tut mir leid. Ich muss gehen. Ich weiß, dass die Armee den König nach London bringen wird. Ich bete darum, dass sie ihn wegen Verrats an uns, dem Volk, anklagen werden. Er ist schuldig, und ich möchte sehen, wie er für seine Verbrechen geradesteht. Er hat den Frieden Englands zerstört und Tausenden braven Männer den Tod gebracht – es ist alles umsonst gewesen, es sei denn, wir ringen ihm unsere Freiheit ab. Und er hat eine Bestrafung genauso verdient wie eine Hexe das Ertränken. Dies ist das Ende der Tyrannen in England und der Beginn unseres neuen Landes. Ich muss dort sein, um zu sehen, wie er erniedrigt wird. Schwester, ich muss dort sein.«
Mit einem sorglosen Strahlen reichte Alys ihrem Onkel den Korb mit den Ölen. »Die kannst du für Ma tragen«, sagte sie, »da ihr gemeinsam nach Chichester geht. Und ich werde hierbleiben. Ich fange gleich heute an.«
Er grinste wie ein Schuljunge. »Dann zieh uns hinüber.«
»Einen halben Penny für euch beide«, sagte sie, streckte die Hand aus und ließ die Münze, die er ihr gab, in die Tasche ihres Kleids gleiten. Ned nahm Alinors Arm und half ihr auf die Fähre. Sie umklammerte das Holzgeländer mit ihren narbigen Händen.
»Keine Angst«, sagte er zu ihr. »Ihr wird auf dem Wasser nichts zustoßen. Wie denn auch? Es gibt nichts zu befürchten außer deinen Ängsten vorm Ertrinken. Und ich werde bald wieder da sein.«
»Wann?«, wollte sie wissen.
»Wenn es vorüber ist«, sagte er mit strahlendem Gesicht. »Wenn der König beim Volk von England um Verzeihung gebeten hat.«
֍
Alinor und Ned trennten sich am Markt Chichester, wo das steinerne Kreuz die Straßen markierte, die von Nord nach Süd, von Ost nach West verliefen. Ned wollte nach London laufen, zuversichtlich, dass ihn jemand unterwegs mitnehmen würde, da die Wagen auf den
gefrorenen Straßen problemlos rollten.
»Es wird viele von unseren Soldaten geben, die aufgrund der Neuigkeiten nach London gehen«, sagte er vertrauensvoll. »Viele von uns warten hierauf nun schon seit Jahren.«
»Aber du wirst zurückkommen, wenn alles vorbei ist?«, fragte Alinor und legte die Hand auf seinen Arm. »Du wirst nicht wieder in die Armee eintreten? Noch nicht einmal, wenn sich die Iren gegen uns erheben oder die Schotten wieder einfallen? Du wirst nicht mit Cromwells Armee davonziehen?«
»Das ist vorüber«, sagte er voller Überzeugung. »Es wird keine Kriege mehr geben, es wird keine Aufstände mehr geben. Der König wird bei seinem Leben schwören müssen, in Frieden zu leben, und all die armen Männer, die auf der einen oder der anderen Seite marschiert sind, werden nach Hause gehen können, und die tapferen Frauen, die die Häuser gegen ihre Feinde gehalten haben, werden endlich in Frieden leben können.«
»Ich frage dich, weil ich Schwierigkeiten habe, von denen ich dir nichts erzählt habe.« Alinor wählte ihre Worte sorgfältig. »Ich werde dich zu Hause brauchen, Bruder. Ich werde deine Hilfe brauchen.«
Sofort horchte er auf. »Ist Zachary wieder da? Hast du von ihm gehört?«
»Nein, gottlob nicht«, erwiderte sie rasch. »Aber ich muss dafür sorgen, dass Alys heiratet und Rob mit seiner Arbeit anfängt, und ich habe ein Problem, ein persönliches Problem. Ich werde deine Hilfe benötigen.«
Er legte seine breiten, rauen Hände auf ihre. »Alys verdient in diesem Moment ihre Mitgift«, beruhigte er sie. »Kein Grund, dir Sorgen um sie zu machen. Und Rob ist seine Stelle versprochen worden, die Peacheys bezahlen sein Lehrgeld. Ich werde zurückkommen, aber du hast auch so nichts zu befürchten. Bist du krank? Ist es das?«
Sie zwang sich, ihn anzulächeln. »Ich werde es dir sagen, wenn du wieder da bist«, antwortete sie. »Das reicht.«
Allein seiner Aufregung war es geschuldet, dass er ihre Blässe nicht bemerkte. »Ihr solltet besser im Fährhaus wohnen, während Alys die Fähre betreibt.«
»Ja, das machen wir.«
»Kümmert euch um den Hund. Er wird allmählich alt. Er spürt die Kälte.«
»Ich lasse ihn neben dem Feuer schlafen.«
»Und wenn ich nach Hause komme, kannst du bleiben. Es ist sinnlos, dass du allein in deine Hütte zurückkehrst, wenn Alys verheiratet ist und Rob fort. Wir werden allen sagen, dass Zachary nie mehr nach Hause kommt, und du kannst mir den Haushalt führen. Du kannst in dein altes Zuhause zurückkehren.«
Wie eine Vision sah Alinor vor ihren Augen ihr Elternhaus wieder als ihr eigenes Zuhause, und den Mann, den sie liebte, wie er die Straße zur Fähre heruntergeritten kam, genau wie er es schon einmal getan hatte. Er würde sie am Gartentor des Fährhauses stehen sehen, und er würde wissen, dass sie eine freie Frau war, die auf ihn wartete. Wenn er auf der Fähre übersetzte und ihre Hände ergriff, so dachte sie, würde sie ihm sagen, dass sie sein Kind unter dem Herzen trug.
»Ja«, sagte sie. »Sehr gut.«