Wattenmeer,
Dezember 1648
I n den kalten, dunklen Dezembertagen betrieb Alys die Fähre, zog sie hinüber zur Nordseite, sobald sie das Scheppern der Eisenstange am Hufeisen hörte, und reagierte auf jedes Klopfen an der Tür oder Rufen von der Straße. Sie war den Reisenden gegenüber höflich und stets gut gelaunt, und mehr als ein Fuhrmann bezahlte ihr zusätzlich zu seiner Gebühr von drei Pennys einen halben Penny Trinkgeld für ihr hübsches Lächeln.
Die beiden Frauen zogen umgehend ins Fährhaus. Es war die einzige Möglichkeit, wie Alys sich in der Dunkelheit um die Fähre kümmern konnte, und sie waren beide froh, in dem größeren, wärmeren Haus zu sein, als der Ostwind Frost über das Watt brachte und sich der Regen in Eis verwandelte.
Alinor, die in ihrem Bett aus Kindertagen aufwachte und wieder einmal die vertrauten gestrichenen Balken an der getünchten Decke sah, hatte das Gefühl, als wäre sie nie verheiratet gewesen und hätte nie ihr Zuhause verlassen, um mit Zachary in der kleinen Hütte zu leben. Manchmal glaubte sie beim Erwachen, ihre Mutter sei noch da und ihr Bruder Ned schnarche im Bett neben ihrem, doch dann spürte sie, wie sich das Kind in ihrem Bauch bewegte, und ihr fiel wieder ein, dass sie kein junges Mädchen mehr war. Sie hatte zwei Kinder zur Welt gebracht und war jetzt mit einem dritten schwanger.
Die beiden Frauen arbeiteten den Großteil des Tages Seite an Seite, jäteten Unkraut im winterlichen Garten, brauten Ale und verkauften es durchs Küchenfenster an Leute, die auf der Fähre übersetzten, buken Brot mit der Bierhefe aus dem Ale-Schaum, tauchten Binsen in Bienenwachs, um Kerzen herzustellen, und sortierten Samen fürs Frühjahr. Dass sie beide schwanger waren, ließ sich leicht verbergen. Die zunehmende Wölbung von Alinors Bauch wurde von ihrem weiten Winterrock und den Schürzen kaschiert, und Alys war den ganzen Tag in den Segeltuchumhang ihres Onkels Ned gewickelt, um sich auf dem Wasser warm und trocken zu halten.
In den Wintermonaten gab es auf der Mill-Farm wenig anstrengende körperliche Arbeit. Die Männer übernahmen den Großteil der Arbeit an den Hecken und Gräben. Das Pflügen und Eggen würde erst wieder im Frühling beginnen. Alinor übernahm die Stelle ihrer Tochter in der Mühle und arbeitete in der Küche und der Molkerei: Brotbacken, Brauen und Käseherstellung.
Vor Sonnenaufgang am Morgen und bei Sonnenuntergang kam Richard Stoney den Weg von der Mühle hergelaufen, um mit Alys in der Küche des Fährhauses zu sitzen oder um die Fähre für sie zu ziehen, damit sie im Haus bleiben und spinnen konnte. Alinor traf die beiden eng umschlungen an, wenn es an der Zeit war, dass Richard nach Hause aufbrach.
»Bald werdet ihr nicht mehr getrennt werden«, sagte sie.
»Und dann werden wir nie wieder getrennt werden«, versprach Richard.
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Alinor kochte gerade zum Abendessen einen Fischeintopf aus Alys’ Fang aus dem Broad Rife, da erklang ein scharfes Bellen von Red, dem ein lautes Klopfen an der Hintertür des Fährhauses folgte. Ihr erster Gedanke galt James, doch als sie die Tür aufriss, war es einer der Bauern von der Insel Sealsea, der da auf der Türschwelle stand.
»Es ist meine Mutter«, sagte er. »Großmütterchen Hebden. Es geht rapide bergab mit ihr.«
»Gott segne sie«, sagte Alinor sofort.
»Wir möchten, dass Ihr bei ihr sitzt, und dann … alles andere.«
»Ist sie krank?«, wollte Alys über die Schulter ihrer Mutter wissen. »Hat sie Fieber?«
»Ich komme«, sagte Alinor. Zu ihrer Tochter sagte sie: »Es ist die falsche Jahreszeit für die Pest, aber ich muss hingehen und es mir ansehen. Sie ist eine alte Frau. Wahrscheinlich geht es mit ihr nur zu Ende.«
»Ich kann nicht erlauben, dass du hier Krankheiten einschleppst«, sagte Alys stur. »Du weißt, warum.«
»Ich würde es um meinetwillen nicht riskieren«, erwiderte Alinor mit einem matten Lächeln. »Du weißt, warum!«
»Ich hole deinen Korb«, sagte Alys, und während ihre Mutter sich ein Tuch umlegte und den Umhang um die Schultern zog, holte das Mädchen Alinors Korb mit ihren Kräutern und Ölen. »Ich werde dir etwas von dem Eintopf übrig lassen.«
»Vielleicht komme ich heute Nacht nicht zurück«, warnte Alinor sie. »Willst du zur Propstei gehen und Rob holen?«
»Richard wird bei mir bleiben«, sagte Alys zuversichtlich.
Alinor trat hinaus in die Dunkelheit. Der junge Mann hatte eine Laterne aus Horn, und er hielt sie vor sich gestreckt. Während sie die Tür schloss, schlüpfte der Hund hindurch, entschlossen, sie zu begleiten.
Mit Red bei Fuß, den Pfad von dem schaukelnden Licht erhellt, eilten Alinor und der Bauer in Richtung Süden. Die Straße war gefroren, die Spurrillen vom Frost weiß, der Wintermond am wolkenlosen Himmel von einem gelben Dunst umgeben. Der Weg war gut sichtbar, und sie gingen raschen Schrittes, ihre Atemzüge als neblige Rauchwolken vor ihren Mündern, bis sie ein Tor erreichten und der Bauer sagte: »Da sind wir.« Alinor folgte ihm durch den Obstgarten zu dem kleinen Haus.
Er öffnete die Tür, und sie betraten die Diele des Bauernhauses. Auf Alinors Befehl legte der Hund sich vor die Schwelle.
Alinor ging auf die Kaminecke zu, wo eine Greisin, vom Alter ganz gekrümmt, auf einem Schemel neben dem Feuer saß. Die Bäuerin erhob sich von der anderen Seite der steinernen Feuerstelle.
»Wie geht es ihr?«, fragte der Bauer seine Frau.
»Unverändert.«
»Hier ist Mrs Reekie, um dich zu sehen.«
»Ich glaube nicht, dass sie sie erkennen wird.«
»Ich werde mit ihr reden«, sagte Alinor sanft. »Lasst mich mit ihr reden.«
Sie kniete sich auf den Steinboden vor die alte Frau und wartete, während sich die milchigen Augen auf sie richteten und die Alte lächelte. »Oh, Alinor, meine Liebe. Warum haben sie nach Euch geschickt?«
»Hallo, Großmütterchen Hebden. Sie sagen, es gehe Euch nicht so gut?«
Die alte Frau streckte die Hände aus. »Oh, nein, meine Liebe, sie täuschen sich gewaltig. Mir geht es ausgezeichnet: Ich bin nur am Sterben.«
»Ach ja?«
»Ja. Aber ich möchte hier ableben, vor dem Feuer, im Warmen. Ich habe über achtzig Jahre in diesem Haus gelebt, müsst Ihr wissen.«
»Tatsächlich?«, fragte Alinor behutsam. Sie konnte sehen, dass die alte Frau kein Fieber hatte: Ihr Gesicht war blass, ihre Hände kühl. Doch ihr Atem ging schwer, bei jedem keuchenden Zug geriet er ins Stocken.
»Oder länger. Die haben ja keine Ahnung.«
»Natürlich haben sie das nicht«, flüsterte Alinor. »Ich weiß noch, wie ich mit meiner Mutter hergekommen bin, um Euch zu besuchen, als ich noch ein ganz kleines Mädchen war.«
»Und mit Eurer Großmutter. Sie hat Euch mitgebracht, als ich mir bei einem Sturz vom Apfelbaum das Bein gebrochen habe. Drei Generationen weiser Frauen in Eurer Familie, und Elfenblut gewiss auch. Hat Eure Tochter das Zweite Gesicht?«
»Heutzutage sprechen wir nicht darüber.«
Eine Grimasse zeigte, was die alte Frau von der jüngeren Generation hielt. »Es ist großartig, Elfenkünste in der Familie zu haben. Aber heutzutage – nun, da ist alles verboten, nicht wahr?«
»Der Pfarrer muss uns lenken«, sagte Alinor taktvoll.
Die alte Frau zuckte verärgert mit den Schultern. »Was weiß der denn schon?«, fragte sie. »Es ist ja nicht so, als wenn er ein richtiger Priester wäre. Er hält noch nicht einmal die Messe ab.«
»Pst, Großmütterchen«, sagte Alinor eindringlich. »Ihr wisst doch, dass er der Pfarrer ist, der dazu ernannt wurde, uns zu führen. Alles andere verstößt gegen das Gesetz.«
»Ich denke, mit meinen letzten Atemzügen kann ich sagen, was ich will.«
»Schmerzt Euch das Atmen?«, fragte Alinor.
»Mich drückt schon seit Jahren etwas im Bauch«, sagte die alte Frau. »Es hat mir das Leben aus dem Leib gepresst.«
»Warum habt Ihr nicht schon früher nach mir geschickt?«
»Was hättet Ihr schon tun können, meine Liebe?«
Alinor nickte. Wenn die Frau eine Geschwulst im Bauch hatte, dann ließ sich nichts machen. Ein Arzt wagte vielleicht, einen tapferen Mann oder eine tapfere Frau wegen eines Gallensteins aufzuschneiden, ein Wundarzt würde vielleicht eine Zungenverwachsung durchtrennen oder das Zahnfleisch aufschneiden, um einen verfaulten Zahn herauszuziehen. Alinor selbst hatte einst ein lebendes Kind aus dem Bauch seiner toten Mutter geschnitten. Doch ein Geschwulst tief im Bauch einer lebendigen Patientin war etwas ganz anderes.
»Ich hätte Euch etwas gegen die Schmerzen geben können.«
»Ich nehme ein wenig Brandy«, sagte die alte Frau mit schlichter Würde. »Und dann nehme ich manchmal ein Schlückchen von dem schottischen Whisky. Und manchmal – an schlechten Tagen – nehme ich beides zusammen.«
Alinor lächelte sie an. »Hättet Ihr jetzt gern ein paar Kräuter, um die Schmerzen zu lindern?«
»Ich werde ein wenig Brandy zu mir nehmen«, antwortete die Greisin. »In heißem Wasser. Mit Euren Kräutern. Und Ihr könnt das Mädchen – wie heißt sie gleich? – fragen, ob der Pfarrer dieser Tage Hausbesuche macht, und ob es Gebete für die Sterbenden gibt, denn ich glaube, ich bin bereit.«
»Ich werde Mrs Hebden, Eure Schwiegertochter, fragen«, rief Alinor ihr ins Gedächtnis.
»Ja, so heißt sie.« Die alte Frau nickte. »Fragt sie, was der Pfarrer für die Sterbenden tut, ob er heutzutage irgendetwas tut? Oder ob sich das auch alles geändert hat?«
Alinor erhob sich und stellte fest, dass William Hebden an der Tür zur Waschküche wartete. »Sie möchte etwas Brandy in heißem Wasser«, sagte sie.
»Wir haben ein Fässchen Brandy«, erwiderte er. »Es ist ein Geschenk gewesen.«
Alinor begriff sofort, worum es sich handelte: um geschmuggelten Brandy. »Mir egal«, versicherte sie ihm. »Und sie möchte wissen, ob der Pfarrer kommen wird, um die Sterbegebete zu sprechen?«
»Nicht zu unsereinem«, sagte er kurz angebunden. »Wir sind ihm nicht vornehm genug. Wir zahlen beim Zehnten nicht genug, als dass er bei uns Hausbesuche machen würde. Der Kaplan der Propstei, dieser Mr Summer, der wäre auf Anfrage gekommen. Er ist sogar ohne Bezahlung hergekommen, ist zweimal da gewesen.«
Bei seinem Namen lief Alinor tiefrot an. »Ach ja?«, fragte sie. Sie glaubte, dass die Liebe in ihrer Stimme für jedermann zu hören sein müsse. »Hat er Leute kostenlos zu Hause besucht?«
»Er ist hergekommen und hat mit ihr gebetet.« William trat von einem Fuß auf den anderen. »Alte Gebete«, sagte er. »Diejenigen, die sie mag. Jetzt sind sie wahrscheinlich nicht mehr erlaubt. Aber sie war so krank …«
»Wie dem auch sei, Mr Summer ist fort«, sagte Alinor.
»Ja. Aber er hat sein Gebetbuch hiergelassen. Er hat gesagt, sie kann es in der Hand halten, wenn es niemanden geben sollte, der ihr daraus vorlesen kann. Er hat gesagt, wir sollen es verstecken, aber dass sie es halten kann, wenn es ihr Trost spendet.«
»Ach ja?« Alinor wurde von dem Verlangen gepackt, alles zu sehen, was einmal James gehört hatte.
»Er hat gesagt, jeder kann ihr die Gebete vorlesen. Ihr seid eine Hebamme, Ihr könntet sie aufsagen, nicht wahr? Es wäre so gut wie ein Pfarrer.«
»Ich kann sie aufsagen«, bot Alinor an. »Ich könnte sie auch aus seinem Buch vorlesen. So gut wie von ihm wäre es nicht, aber es sind seine Gebete.«
Sie kehrte mit etwas Brandy in einem irdenen Becher an die Feuerstelle zurück, fügte eine Fencheltinktur hinzu und goss aus dem Topf, der auf einem Dreifuß neben dem Feuer stand, heißes Wasser darauf.
Begierig nahm die alte Frau den Becher in die Hände und schlang ihre kalten Finger darum. »Jetzt«, sagte sie. »Jetzt bin ich bereit.«
Alinor griff nach James’ Messbuch und fing an, die schönen alten Worte auf Latein zu entziffern, ohne zu wissen, was sie bedeuteten. Doch beim Klang der Gebete, wissend, dass er sie auswendig gekannt hätte, dass dies seine Religion und sein Gott waren und dass sein Kind in ihrem Bauch die Laute vielleicht hören konnte, fühlte sie sich ihm jetzt, da sie einer alten Frau das Totengebet vorlas, näher, als sie es in den langen Wochen seiner Abwesenheit je getan hatte.