Wattenmeer,
Januar 1649
A
n den ersten kalten Januartagen drang ein Fuchs nachts in die Scheune des Fährhauses ein und fiel drei Hühner an, bevor das aufgeregte Gackern der Schar Alinor weckte. Als sie barfuß in ihrem Hemd angelaufen kam und das Tor aufriss, flitzte ein rotbrauner Schatten an ihr vorbei. Ein Huhn lag tot am Boden, ein anderes war nicht mehr zu retten. Alinor hob es hoch und drehte ihm den Hals um. Das dritte war verletzt und blutverschmiert, und Alinor steckte es in einen Korb und nahm es mit ins Haus. Dort wusch sie die Bisswunde aus und ließ es in einem Korb neben der Feuerstelle stehen. In der kalten, dunklen Jahreszeit legten die Hühner ohnehin kaum Eier, aber für den Kleinbauernhof war es dennoch ein Verlust. Doch selbst wenn sie es sich hätten leisten können, drei Hühner zu verlieren, wäre Alinor bekümmert gewesen. Sie kannte jeden Vogel beim Namen und war stolz auf die glänzende Gesundheit ihres Federviehs.
»Ich weiß, dass es dumm ist, um ein Huhn zu weinen, aber ich kann diesem Fuchs nicht vergeben«, sagte sie zu Alys.
»Sag Peacheys Jägern, wo der Bau ist«, erwiderte Alys. »Sie würden sich über eine schöne Jagd freuen.«
»Oh, ich könnte kein Tier an die Jäger verraten.«
Alys lachte. »Dann wirst du bis zur Wiederauferstehung und bis zum ewigen Leben immer über etwas trauern, das von etwas anderem umgebracht worden ist. Ich kann es kaum erwarten, die Hühner zu
essen. Wirst du Hühnereintopf kochen?«
»Ja, natürlich«, sagte Alinor. »Ich bin nicht so närrisch, frisches Fleisch nicht zu essen, wenn es sich uns darbietet. Aber du bist Mrs Hoppy gegenüber sehr hartherzig.«
»Ich habe Hunger«, sagte Alys. »Ich habe ständig Hunger. Du nicht?«
»Doch«, sagte Alinor, der auffiel, dass ihre Tochter zum ersten Mal seit fünf Monaten bereit war, sich über ihre Schwangerschaft zu unterhalten. »Und ich muss ständig pinkeln.«
Das Mädchen lachte. »Ich wünschte, es wäre Sommer«, sagte sie. »Ich habe schon zu Richard gesagt, es würde mir nichts ausmachen, zum Misthaufen rauszugehen, wenn es nicht so kalt wäre.«
»Er weiß also Bescheid?«, fragte Alinor. »Du hast es ihm gesagt?«
»Ich habe es ihm gesagt, sobald ich mir sicher war«, erklärte die junge Frau. »Er freut sich.«
»Wird er es seiner Mutter und seinem Vater erzählen?«, fragte Alinor nervös und dachte an die Respekt einflößende Frau, die Alys’ Schwiegermutter werden würde.
»Er hat es ihnen schon erzählt«, sagte Alys selbstbewusst. »Und sein Vater geht ganz nach den alten Bräuchen.« Sie rümpfte ein wenig die Nase. »Er macht Witze darüber. Er mag eine fruchtbare Braut.«
Alinor lachte über Alys’ gekränkte Miene. »Nun, wenigstens haben sie keine Einwände.«
»Solange ich meine Mitgift habe. Das ist alles, was ihr wichtig ist.« Sie hielt inne. »Sie haben gesagt, du sollst kommen und bei mir bleiben, wenn die Zeit meiner Niederkunft naht. Du wirst bei mir sein müssen, Ma, wenn ich mein Kind bekomme.«
»Das hoffe ich«, sagte Alinor langsam. »Ich bete darum, Alys. Ich hoffe und bete für uns beide, die ganze Zeit.«
»Warum schickst du diesem Mann keine Botschaft? Warum kommt er nicht und bringt alles in Ordnung, wenn er dich liebt, wie du sagst?«
»Er wird kommen«, sagte Alinor mit fester Stimme. »Ich muss nicht nach ihm schicken. Er wird so schnell wie möglich herkommen.«
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Am Morgen kam Red, der Hund des Fährhauses, nicht wie gewöhnlich aus seiner Ecke und setzte sich auf den Landungssteg, um der Fähre zuzusehen.
»Und wir hatten einen Fuchs«, schalt Alinor ihn. »Wirst du allmählich faul?«
Der Hund sah sie mit seinen braunen Augen an und drehte sich weg. Alinor legte ihm eine Hand auf den Kopf. »Oh, nein, Red«, sagte sie leise. »Was fehlt dir?«
Er seufzte, als wolle er ihr etwas sagen. Alinor nahm seinen breiten Kopf in beide Hände und betrachtete ihn, als wäre er einer ihrer Patienten.
»Willst du nicht warten, bis Ned nach Hause kommt?«, flüsterte sie.
Er bewegte den fedrigen Schwanz, drehte sich dann dreimal im Kreis und legte sich hin. Alinor streichelte seine weiche Stirn und ließ ihn in seinem Korb liegen.
Während Alys sich um die Fähre kümmerte, überquerte Alinor bei Ebbe den Sumpf, um in der Mühle zu arbeiten. Es war bitterkalt, der Boden rutschig vom Frost. Die Sandbänke im Sumpf waren schneeweiß.
Alinor fing in der Scheune an, wo die Kühe geduldig in ihren Verschlägen warteten. Sie holte einen dreibeinigen Schemel vom Haken und stellte ihn neben die erste Kuh, lehnte die Stirn an die warme Flanke, redete leise mit ihr, während sie abwechselnd mit den Händen an den Zitzen zog und die Milch zischend in den Eimer floss. Es war so kalt in der Scheune, dass die Milch dampfte. Als Alinor den satten Sahnegeruch einatmete, sehnte sie sich danach, sie zu trinken. Sie trug den schweren Eimer in die Molkerei und goss die Milch in eine
Schüssel, um sie später zu Butter zu verrühren.
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr im Taubenschlag nach Eiern sehen würdet.« Mrs Miller steckte den Kopf in die eiskalte Molkerei. »Und anschließend könnt Ihr nach Hause gehen. Heute Nachmittag brauche ich Euch nicht.«
Alinor zog sich wieder ihr Tuch über den Kopf, griff nach dem schweren Korb und ging hinaus auf den Hof.
Richard Stoney, der Weizen in die herabhängende Schale des Wiegebalkens in der Scheune schaufelte, sah sie durchs Scheunentor, als sie vorsichtig über den gefrorenen Hof ging. »Ich werde etwas Stroh ausstreuen, damit Ihr nicht ausrutscht.« Er eilte zu ihr ins Freie.
Sie drehte sich zu ihm. Das Tuch über ihrem Kopf war vom Frost ihres gefrorenen Atems ganz steif. »Das geht nicht«, sagte sie rasch. »Sie streuen den Hof nie. Nur wenn die Kühe herauskommen.«
»Damit die Kühe nicht hinfallen, aber Ihr schon!«, rief er. »Dann nehmt wenigstens meinen Arm.«
Sie schüttelte den Kopf. »Sie wird vom Fenster aus zusehen. Lasst mich meine Arbeit machen, Richard. Ich werde nicht erfrieren, und ich werde nicht hinfallen.«
»Ihr steigt auf keinen Fall die Leiter hoch!«
Bevor Alinor antworten konnte, ging die Küchentür des Bauernhauses auf, und Mrs Miller rief in den Hof: »Richard Stoney, wiegst du Korn oder machst du einen Spaziergang?«
»Los«, sagte Alinor. »Zurück an die Arbeit.«
»Kann ich auf meinem Heimweg zum Fährhaus kommen? Geht es Alys heute gut?«, flüsterte er eindringlich, während er eine Hand hob, um Mrs Miller ein Zeichen zu geben.
»Es geht ihr gut. Natürlich könnt Ihr kommen!«, rief Alinor auf dem Weg zum Taubenschlag. In dem runden Turm griff sie unter ihre Schaffelljacke und rollte ihren Rocksaum hoch, damit er über die Knie geschürzt war und sie beim Erklimmen der Leiter nicht über den Saum
strauchelte.
Sie legte die Hände auf die Sprosse und blickte die Innenwand des Taubenschlags nach oben. Es wirkte hoch, und die Leiter war alt und wacklig, aber sie konnte eine Taube auf einem Nest hocken sehen. Alinor schob die Leiter zu der nistenden Taube, überprüfte ihren festen Stand, hängte sich den Korb an den Arm und begann hochzuklettern. Jede Sprosse fühlte sich eiskalt an und war vom Frost rutschig. Immer weiter stieg sie nach oben, einen Schritt nach dem anderen, ohne hinunterzublicken und dem unheilvollen Knarren des alten Holzes Beachtung zu schenken. In einem Teil ihres Hirns dachte sie, dass ein Sturz und eine Fehlgeburt all ihre Probleme lösen würde. Dann lächelte sie über sich selbst, als sie gewahr wurde, dass sie beim Gedanken an den Verlust des Kindes die Leiter sofort fester packte und die Füße vorsichtig auf die Sprossen stellte.
Eine Taube nistete in ihrem Loch. Sie rührte sich nicht, als Alinor in Reichweite hochgeklettert kam. Sanft schob Alinor die Hand unter die warme, weiche Brust. »Es tut mir leid, Frau Taube«, sagte sie leise. »Aber man hat mich geschickt, damit ich die hier hole. Leg du mehr für dich selbst.«
Ohne auf die Schnabelhiebe des Vogels an ihren kalten Händen zu achten, hob sie alle Eier außer einem aus dem Nest und legte sie vorsichtig in den Korb. Es waren kleine weiße Eier, warm vom Brustgefieder der Mutter. Alinor stieg vorsichtig die Leiter hinunter und blickte nach oben, um zu sehen, ob noch ein Vogel nistete. Viermal verrückte sie die Leiter und stieg für Eier nach oben und wieder herunter, und dann kehrte sie vorsichtig mit einem Dutzend Eier im Korb zum Haus zurück. Mrs Miller öffnete ihr die Tür und brachte ein schmales Lächeln zustande.
»Ich hätte gedacht, Ihr würdet Alys schicken, damit sie an einem so kalten Tag die Arbeit erledigt«, sagte sie. »Mittlerweile zu fein für Taubeneier, was? Da sie nun vorhat, so gut zu heiraten? Spielt sie die
große Dame?«
»Oh, nein«, sagte Alinor freundlich. »Aber sie betreibt immer noch die Fähre für Ned.«
»Wer wird denn schon bei diesem kalten Wetter übersetzen? Wie ich höre, ist der Fluss in London gefroren, und sie laufen von einer Seite zur anderen. Ihr werdet keine Gebühren einnehmen, wenn das hier passieren sollte!«
»Es fühlt sich kalt genug an, dass es gefrieren könnte«, stimmte Alinor ihr zu. »Und das Süßwasser im Fluss ist hart gefroren, aber die Flut kommt weiterhin rein.«
»Und Ned ist noch immer nicht zu Hause? Es überrascht mich, dass er die Zeit und das Geld für einen Ausflug nach London hat.«
»Es ist ihm sehr wichtig.«
Mrs Millers gute Laune wurde ein Stück weit wiederhergestellt, als sie die Eier aus dem Korb holte und in den Tontopf legte. » Möchtet Ihr zwei Eier für Euer Abendessen?«
»Danke«, erwiderte Alinor. »Vielen Dank für die Eier.«
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Als sie, in ein freundschaftliches Gespräch mit einer Bauersfrau von der Insel Sealsea vertieft, zum Fluss kam, wartete die Fähre auf sie.
»Red ist verschwunden«, sagte Alys, als Alinor vorsichtig an Bord kletterte, während die Fähre auf der zurückweichenden Flut schaukelte. »Er ist heute Morgen nicht zum Landungssteg rausgekommen, und zur Mittagszeit war er nicht in seiner Ecke.«
»Ja, ich weiß«, sagte Alinor unüberlegt. »Armer Red. Ich habe mich heute Morgen von ihm verabschiedet.«
»Ihr habt gewusst, dass der Hund verschwinden würde?«, wollte die Bauersfrau wissen. »Woher habt Ihr das gewusst?«
»Sie hat es nicht gewusst«, unterbrach Alys sie unwirsch. »Er ist bloß ein alter Hund, und heute Morgen war er zu faul zum Aufstehen.
Sie hat es nicht gewusst.«
Alys’ schroffer Tonfall ließ Alinor überrascht aufblicken.
»Niemand könnte so etwas wissen«, entschied Alys.
Die Bauersfrau erklärte, dass sie selbst manchmal Vorahnungen habe und ihre Mutter schrecklich von Träumen heimgesucht worden sei. »Und natürlich hat Eure Großmutter das Zweite Gesicht gehabt«, rief sie Alys in Erinnerung.
»Aber wir nicht«, erklärte diese mit Nachdruck. Während Alinor ausstieg, brachte Alys die Fähre an den Landungssteg und drehte sich um, um der Frau an Land zu helfen. »Wir glauben nicht an solches Zeug. Gute Nacht!«, rief sie. »Bis morgen.«
»Ich habe sehr wohl über Red Bescheid gewusst«, stellte Alinor sanft fest, als Alys die Fähre vertäute und die Stufen hochkam.
»Das weiß ich, aber wir können so etwas nicht sagen«, erwiderte Alys barsch. »Noch nicht einmal zu Mrs Bellman. Wie dem auch sei, ich schätze mal, er ist irgendwo unter einer Hecke«, sagte sie.
»Wir suchen nach ihm«, versprach Alinor ihr. »Und ich habe ein Ei für dein Abendessen. Ein Taubenei.«
»Herrgott, sie übertrifft sich selbst!«, entfuhr es Alys. »Was sind wir nur für Glückspilze! Zwei winzige Eier! Sie verwöhnt uns. Geh du da entlang, ich gehe hier lang. Wir werden ihn finden.«
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Der Hund war nicht weit vom Haus entfernt. Er hatte sich leise fortgeschlichen, wie es weise alte Hunde tun, um allein zu sterben. Alinor fand ihn zusammengerollt, als schliefe er. Doch sein Körper war kalt, und seine Augen waren geschlossen.
»Der Boden ist zu hart, als dass wir ihn begraben könnten«, sagte Alys. »Was sollen wir machen? Es scheint mir nicht richtig, ihn zu verbrennen oder ihn auf den Misthaufen zu werfen.«
»Ich werde ein Loch im weichen Schlamm im Sumpf graben«, sagte
Alinor. »Geh du und kümmere dich ums Abendessen. Lang werde ich nicht brauchen.«
Sie holte eine Schaufel aus dem Schuppen im Obstgarten und ging einen der kleinen Kiespfade entlang, die in den tiefen Sumpf hinausführten. Bei Flut stünde er unter Wasser, aber jetzt, während der Mond aufging und der kalte Wind quer übers Wasser blies, war er so trocken, dass sie darauf gehen und am Rand des Pfades ein tiefes Loch in den weichen Schlamm graben konnte.
Als die Grube breit und tief genug war, hob sie den immer steifer werdenden Körper hoch und legte ihn auf den Boden des Lochs. Sie wusste, dass Ned fragen würde, ob sein Hund anständig begraben worden war, und dass er ihr vertrauen würde. Dann füllte sie das Grab mit Kies vom Pfad, um die Hundeleiche tief unter dem sich bewegenden Schlick des Hafenbodens zu halten. »Auf Wiedersehen, Red«, sagte sie zärtlich. »Du warst ein sehr guter Hund.«
Sie schaufelte einen Haufen Schlick auf und wollte ihn festdrücken, da erregte ein silbernes Glitzern ihre Aufmerksamkeit, hell wie ein Stern am dunklen Nachthimmel. Sie kniete nieder und fand eine winzige Münze, abgehobelt und dünn, aber im Schlamm hell funkelnd. Es war Elfengold, eine Münze von den alten Menschen, aus den alten Zeiten, mit einem Wappen auf der einen Seite und einer Krone auf der anderen, zu abgerieben und mitgenommen, um sich entziffern zu lassen, zu alt, um noch gültig, und zu leicht, um von Wert zu sein.
»Danke«, sagte Alinor zu Red. Unwillkürlich akzeptierte sie, dass dies seine Bezahlung für die Beerdigung war, die er ihr aus dem Jenseits, einem Land, so weit entfernt und neblig wie die andere Seite des Sumpfes, geschickt hatte. »Vergelt’s Gott, guter Hund. Geh mit Gott.«
Sie steckte die Münze in ihre Tasche, legte die Schaufel über die Schulter und ging schweren Herzens den gefrorenen Kiespfad nach oben, wo die Lichter des Fährhauses über dem kalten Wasser
schimmerten.