Wattenmeer,
Februar 1649
D
ie Eisenstange schepperte laut gegen das Hufeisen. Alys erhob sich vom Frühstückstisch, wischte sich mit dem Handrücken über den Mund und ging an die Tür. Die kalte Winterluft wirbelte herein, als sie die Tür hinter sich zuschlug. »Herrgott, bist du’s, Onkel Ned?«, hörte Alinor sie rufen. »Ich habe gedacht, du würdest nie mehr nach Hause kommen!«
Alinor riss die Haustür auf, um hinauszusehen, und schirmte ihre Augen gegen die grelle Wintersonne ab, die gerade über dem Watt aufging. Vor der gleißenden Helligkeit konnte sie nur den Umriss eines Mannes ausmachen, Rucksack auf dem Rücken, Hut auf dem Kopf, Soldatenstiefel, doch sie erkannte ihren Bruder wieder, als er nach unten in die Fähre stieg, seine Nichte küsste und sich von ihr hinüberziehen ließ, während er voller Ernst sein Fahrtgeld entrichtete.
»Willkommen in deinem Zuhause, Bruder«, sagte Alinor, als Ned an Land stieg. Sie fiel in die warme Umarmung seines Umhangs. Er roch nach London, nach fremden Ställen, nach feuchten Betten, nach Bier statt Ale, Feuerstellen mit Kohle, nicht Holz. »Du bist so lang fort gewesen. Wir hatten keine Nachricht. Was ist passiert? Haben sie den Prozess zu Ende geführt? Wir haben nur gehört, er habe begonnen.«
»Jawohl, haben sie«, erwiderte er, als er sich auf seinen Schemel setzte und die Stiefel auszog.
»Niemals!«, entfuhr es Alys. »Ich habe geschworen, dass sie es nicht wagen würden.«
»Sie haben noch viel mehr gewagt«, sagte Ned. »Den ganzen Heimweg habe ich darüber gerätselt. Aber sie haben mehr getan, als ihm nur Treuebruch vorzuwerfen, sie haben ihn des Verrats angeklagt, mit einem Todesurteil. Und es ist vollstreckt. Er ist tot, wir sind ein Königreich ohne König.«
Alinor stieß ein Keuchen aus und legte die Hand unten an ihren Hals, wo sie ihren Puls hämmern spürte. »Wirklich? Wahrhaftig? Er ist tot? Der König ist tot?
«
»Ja. Ihr seid wie alle anderen, denen ich es erzählt habe, den ganzen Weg auf der Straße von London. Jeder benimmt sich, als sei es ein Schock, dabei stand er angeklagt vor einem Gericht, vor den Augen des Volkes, und verdient hat er es seit Nottingham. Warum sollte irgendwer überrascht sein, wenn seine Zeit doch abgelaufen war?«
»Weil er der König ist«, sagte Alinor schlicht.
»Aber wie sich herausgestellt hat, steht er nicht über dem Gesetz, wie er glaubte.«
»Wie haben sie es getan?«, fragte Alys neugierig.
Alinor ging zum Fuß der Treppe und rief Rob zu, aufzuwachen und herunterzukommen, sein Onkel sei zu Hause. Sie goss ihrem Bruder einen Becher Ale ein und nahm neben ihm Platz. Sie ertrug es kaum, ihm zuzuhören, da sie wusste, was dies für James bedeuten würde. Ein Königreich ohne König war ein Rätsel, das das Volk Englands würde lösen müssen. Und wie würden so grundverschiedene Menschen wie der Pfarrer oder Mrs Wheatley oder der Apotheker von Chichester sich darauf einigen, wie sie regiert werden sollten? Oder würde das Ganze von Sir William und seinesgleichen entschieden werden und sich im Grunde überhaupt nichts ändern?
»Sie haben es völlig rechtmäßig getan«, antwortete Ned seiner
Nichte. »In einem Gerichtshof, auch wenn er ihn bis zum Schluss nicht anerkannt hat.«
»Ich meine die Hinrichtung? Wir haben gewusst, dass er vor Gericht stand. Aber niemand hat geglaubt, er werde hingerichtet. Wir haben nach dem ersten Tag ein Nachrichtenblatt zu Gesicht bekommen und dann nichts mehr.«
Er seufzte. »Ich war froh, dass es getan wurde, es musste getan werden, und es war gerecht, dass es getan wurde. Aber Gott weiß, es ist immer ein trauriger Anblick, wenn ein Mensch stirbt.«
Rob, der die Bänder an seiner Kniehose zuband, kam die Treppe herunter, schüttelte seinem Onkel die Hand und nahm am Tisch Platz, um zuzuhören.
»Wo ist Red?«, fragte Ned auf einmal und sah unter dem Tisch nach, eine Abwesenheit spürend, wo sein Hund sein sollte.
Alinor legte die Hand auf seine. »Es tut mir leid, Ned«, sagte sie. »Er ist gestorben. Schmerzen hat er keine gelitten. Eines Morgens war er einfach sehr müde, und am Abend war er eingeschlafen.«
Er schüttelte den Kopf ein wenig. »Ach«, sagte er. »Mein Hund.«
Einen Moment schwiegen sie, und Alinor schnitt Ned eine Scheibe vom Frühstückslaib ab und legte sie vor ihn auf einen Holzteller.
»Was ist mit dem König?«, drängte Rob.
»Sie haben ihn geköpft?«, bohrte Alys nach.
»Sie haben ihn geköpft. Schnell und gut, an einem kalten Morgen. Er trat aus einem gläsernen Fenster, das so hoch und so breit war, dass es wie eine Tür zu seinem Whitehall-Palast war. Er ist also nie in einer Zelle gewesen, obwohl sie ihn schuldig gesprochen haben. Er ist nie in Ketten gelegt worden, obwohl sie ihn einen Verbrecher genannt haben. Er hat kurz gesprochen, aber niemand konnte ihn hören – es waren Tausende von uns dort, auf der überfüllten Straße. Dann hat er sich hingelegt, und der Scharfrichter hat ihm den Kopf abgeschlagen. Ein Schlag. Er hat gesagt, er sei ein ›Märtyrer fürs Volk‹. So viel habe
ich gehört.« Ned hustete und spuckte ins Feuer. »Er ist mit einer Lüge im Mund gestorben, passenderweise. Wir waren es, die Märtyrer für ihn waren. Er hat bis ganz zum Schluss gelogen.«
»Gott, vergib ihm«, flüsterte Alinor.
»Ich werde es niemals tun«, sagte Ned standhaft. »Und genauso wenig wird es irgendein anderer Mann tun, der jemals gegen ihn gekämpft hat, immer wieder, nachdem er längst Frieden erklärt und seine Niederlage eingeräumt hatte. Vergesst das nie.«
»Gott, vergib ihm«, wiederholte Alinor.
»Was geschieht jetzt, Onkel?«, fragte Rob. »Wird sich alles für uns ändern?«
»Das ist die Frage«, sagte Ned. »Alles hat sich geändert, alles muss sich ändern. Aber wird es das? Und wie?«