Wattenmeer,
Februar 1649
D
ie Hochzeit sollte einfach sein. Alys und Richard würden vor der üblichen Sonntagmorgengemeinde in St. Wilfrid heiraten, Alys in ihrem besten Gewand mit ihrer neuen weißen Schürze und einer neuen weißen Leinenhaube. Richard würde seine beste Jacke tragen, und Ned würde die Braut zum Altar führen. Der Gottesdienst sollte nach der neuen Manier ablaufen, wie vom Parlament befohlen. Nach der Hochzeit in St. Wilfrid würden sie alle den Fluss überqueren, bei der Gezeitenmühle auf das Paar trinken und dann für die Hochzeitsfeier weiter zur Stoney-Farm fahren. Es würde gutes Essen geben, man würde auf die Gesundheit anstoßen, und schließlich würden die jungen Leute in dem großen Schlafzimmer unter dem reetgedeckten Dachvorsprung zu Bett gehen.
Alys schlief erst ein, als der krähende Hahn von der Scheune ihr verriet, dass die Nacht beinahe vorüber war. Da drehte sie sich auf die Seite, seufzte voller Vorfreude und schlief kurz darauf tief und fest.
Der Morgen ihres Hochzeitstags war eiskalt, aber klar. Das Eis auf dem Watt war so weiß, dass die darüber fliegenden Seemöwen vor dem blauen Himmel hell und im nächsten Moment vor der erbleichten Landschaft unsichtbar waren. Alys, die spät erwachte und die Treppe herunterpolterte, schwor, dass sie nicht ihren Umhang tragen, sondern in ihrem Kleid und der neuen Schürze und Haube in die Kirche gehen werde.
»Du wirst erfrieren«, sagte ihre Mutter. »Du musst deinen Umhang tragen, Alys.«
»Lass sie frieren«, riet Ned. »Es ist ihr Hochzeitstag.«
Alinor gewährte Alys die eine Freiheit, die ihr so am Herzen lag. »Also, na schön. Das hast du von deiner Winterhochzeit. Und keine Blumen zu bekommen, außer einem Strauß getrockneter Kräuter!«
»Solange ich meine Schürze tragen kann«, verlangte Alys.
»Oh, trag sie nur!«, sagte Alinor. »Aber du wirst deinen Umhang anlegen, wenn du im Wagen nach Hause zur Stoney-Farm fährst.«
»Mach ich! Mach ich!«
Rob kam vom Dachboden die Treppe herunter, in seiner neuen Jacke und den guten Festtagsschuhen.
»Wie fein siehst du denn aus, mein Junge?«, fragte Ned und klopfte ihm auf den Rücken. »Heute ist ein stolzer Tag für die Ferrymans.«
Die Kinder erwähnten nicht den Namen ihres Vaters, und Alinor, die ihren Umhang fester um ihre ausladende Taille schlang, überlegte, dass sie den Namen Zachary Reekie vielleicht nie wieder zu hören bekommen hätte, wenn sie keinen Namen für ihr Kind bräuchte.
»Alles in Ordnung, Ma?«, fragte Rob sanft.
Sie lächelte ihn an. »Mir geht es gut.«
»Sie vermisst Alys schon, bevor wir sie losgeworden sind«, erklärte Ned, doch Robs braune Augen waren unverwandt auf das blasse Gesicht seiner Mutter gerichtet.
»Ist wirklich alles in Ordnung?«
Alinor stockte der Atem. Von Kindesbeinen an hatte Rob die Fähigkeit besessen, unter die Oberfläche der Dinge zu sehen, bis hin zu Krankheit und Kummer. Sie fragte sich, ob er ihren großen Liebesschmerz sehen konnte, fragte sich, ob er ihr ungeborenes Kind, seinen Halbbruder, spüren konnte.
Lächelnd schüttelte sie den Kopf. »Es ist, wie dein Onkel sagt«, log sie. »Ich sehe mit an, wie du und Alys das Haus verlasst, beide in
derselben Woche, und komme mir wie eine Henne vor, der man alle Eier gestohlen hat.«
»Ich werde morgen mit dir in der Mühle arbeiten«, stellte Alys fest. »Du wirst mich beim ersten Licht sehen. Und Rob wird an Mariä Verkündigung nach Hause kommen.«
»Ich weiß, ich weiß«, sagte Alinor. »Und ich freue mich unbändig für euch. Nun komm schon, Rob, und frühstücke etwas. Alys, hast du gegessen?«
»Ich kann nicht«, sagte sie sofort. »Ich habe keinen Appetit.«
»Nicht, dass du uns vor dem Altar in Ohnmacht fällst«, warnte Ned.
»Nimm etwas Dünnbier und ein wenig Brot zu dir«, drängte Alinor sie. »Und ich habe auch Eier.«
Alys setzte sich wie befohlen an den Tisch, ihr Onkel auf der einen Seite und ihr Bruder auf der anderen, und lächelte ihrer Mutter zu. »Mein letztes Frühstück hier«, sagte sie. »Mein letztes Frühstück als Alys Reekie.«
»Hör auf«, riet Ned rasch. »Oder du bringst deine Mutter zum Weinen.«
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Familie Stoney auf ihrem Wagen läutete just in dem Moment nach der Fähre, als die Familie das Frühstück beendet hatte, und Ned ging hinaus, um sie über die Flut zu setzen. Sobald sie sich auf der Inselseite befanden, rollte Alinor die Fässer mit dem Hochzeitsale für sie hinaus, und die beiden Männer luden sie auf den Wagen. Alinor brachte zwei gewaltige runde Käse und zwei Brotlaibe, die sie im großen Ofen in der Mühle gebacken hatte.
»Seid Ihr bereit?«, fragte Mr Stoney Alys. »All Eure Habseligkeiten gepackt?«
»Ich bin bereit, ich bin bereit!«, sagte sie atemlos.
Richard sprang hinten vom Wagen herunter, sein Gesicht rosa vor
Kälte und Aufregung. Er nahm ihre Hände und küsste jede, und dann küsste er sie auf den Mund.
Mrs Stoney kletterte vom Sitz an der Vorderseite des Wagens herunter, und Alys machte einen Knicks vor ihr und küsste ihre Schwiegermutter. Während die Erwachsenen sich begrüßten, ließ sie ihre Hand in Richard Stoneys warmen Griff gleiten.
»Ich hole ihre Sachen«, sagte Ned zu Alinor. »Ist alles fertig?«
Alinor und Ned gingen ins Haus und brachten einen kleinen Stapel guter Leinenwäsche, die beste, die das Fährhaus hatte, und einen Beutel mit Alys’ persönlicher Habe. Mrs Stoneys Augen huschten über die kleine Tasche, aber sie sagte nichts. Richard reichte Alinor die Hand, um ihr hinten auf den Wagen zu helfen, und hob dann Alys hinein.
»Wir werden über den Sumpf laufen«, erklärte Ned für sich und Rob. »Wir sehen uns an der Kirchentür!«
»Trödelt nicht!«, warnte Alys ihn. »Und macht Eure Schuhe nicht dreckig – geht am Uferdamm entlang!«
»Wir werden noch vor euch da sein!«, neckte Rob sie.
Mr Stoney schnalzte dem Pferd zu, und sie fuhren los in Richtung Süden, während Ned die Abdeckung über das Feuer legte, die Hintertür schloss und mit Rob auf den kleinen Pfaden quer über das geflutete Watt zur Kirche ging.
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Die ganze Gemeinde hatte sich eingestellt, um der Hochzeit des hübschen Reekie-Mädchens mit dem reichen Bauernsohn beizuwohnen. Viele von ihnen freuten sich, dass Alinors Tochter eine derart gute Partie machte, ein paar murmelten, es sei schade, dass sie die Insel verließ. Aufgrund seines langen Dienstes auf der Fähre war Ned auf der ganzen Insel Sealsea bekannt, und sein Vater vor ihm, und die meisten Frauen hatten Alinor in Gesundheitsfragen oder für eine
Entbindung zurate gezogen. Die Heirat war ein außergewöhnlicher Sprung nach oben für die Familie, die seit Urzeiten die Fähre der Insel betrieben hatte, doch jeder räumte ein, wenn irgendein Mädchen aufgrund seines Aussehens eine gute Partie machen würde, dann Alys.
Es gab etliche Kommentare zu Rob, als er seinen Platz hinten in den Kirchenbänken der Männer einnahm. Manche Leute, die im Sommer mit angesehen hatten, wie er mit den Peacheys zum vorderen Teil der Kirche marschiert war, freuten sich, dass er wieder an seinen Platz zurückgekehrt war. Doch die jungen Leute, besonders die jungen Frauen, stellten einen Unterschied fest zwischen ihrem ehemaligen Spielgefährten Rob, Sohn des vermissten Fischers Zachary Reekie, und diesem neuen Rob mit seinen Lateinkenntnissen, seiner Lehre in Chichester und seiner gut geschnittenen Jacke.
Niemand sagte laut, dass das Glück der beiden Reekie-Kinder eigentlich nur von etwas anderem als ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten herrühren konnte. Niemand wiederholte die alte Geschichte, dass sie von Elfen abstammten, dass ihr eigener Vater es geschworen hatte und dass ihr gutes Aussehen und ihr Glück die Gaben ihrer Mutter waren – eines Lieblings der unsichtbaren Welt und von dieser geleitet. Doch fast jeder dachte: Wie bloß konnten die Reekie-Kinder so unverdient gesegnet sein? Wie sonst konnte ihre Mutter hocherhobenen Hauptes und ohne die geringsten Spuren aus einer Ehe voller Gewalt hervorgehen? Wie sonst war Zachary auf so praktische Weise verschwunden? Niemand würde dergleichen an Alys’ Hochzeitstag sagen, doch etliche Leute dachten es, sahen einander an und merkten, dass andere es ebenfalls dachten.
Alys stand im Begriff, in die Kirche zu gehen, und Alinor wollte ihr folgen, als Mrs Stoney sie vor dem Kirchenportal aufhielt. »Habt Ihr die Mitgift?«, fragte sie. »Ihr solltet sie mir hier aushändigen.«
Alinor blieb stehen und wandte sich zu ihrer Tochter. Alys errötete ein wenig und griff in die Tasche ihres Kleides unter ihre Schürze.
»Wenn was fehlt, sagt Ihr es mir besser jetzt«, sagte Mrs
Stoney schroff. »Bevor Ihr auch nur einen Schritt weiter geht.«
»Es fehlt nichts«, erwiderte Alys.
Alinor versuchte zu nicken, als sei sie zuversichtlich, dass Alys das ganze Geld hatte. Sie hatten rund um die Uhr in der Mühle gearbeitet und gesponnen, doch selbst mit dem Fährgeld und Robs Lohn ging sie davon aus, dass Richard sein gesamtes Erbe hatte opfern müssen.
Triumphierend reichte Alys Mrs Stoney den Geldbeutel, und diese wog ihn in der Hand, öffnete ihn dann und spähte hinein. Alys’ Gesicht war wie das einer steinernen Skulptur, während sie ihre Schwiegermutter betrachtete. Die Frau schüttete die Münzen in die Hand: Goldkronen, Silbershillings, keine kleinen Münzen, überhaupt keine Kupfermünzen: Es war ein Vermögen.
»Ihr habt sie«, sagte sie, als sei es einfach unfassbar.
»Natürlich«, sagte Alys.
»Natürlich«, wiederholte Alinor.
Mrs Stoney steckte den Geldbeutel in die Tasche ihres Umhangs. »Dann können wir reingehen«, sagte sie. »Ich werde das hier heute Abend in unsere Schatztruhe in der Stoney-Farm legen.«
Sie drehte sich um und ging in die Kirche, vorbei an den Stehplätzen der Arbeiter im hinteren Teil der Kirche, und nahm in einer Kirchenbank weit vorn Platz. Alys ergriff die Hand ihrer Mutter und stellte sich hinten in die Kirche, um zu warten, bis sie zum Altar gerufen wurde. Richard wartete vorn in der Kirche.
»Am nächsten Sonntag werde ich dort sein«, flüsterte Alys ihrer Mutter zu und nickte in Richtung von Mrs Stoneys entschlossener Inbesitznahme der angesehenen vorderen Reihe. »Und du sollst neben mir sitzen. Das war es wert, dafür unsere Pennys zusammenzukratzen, nicht wahr? Wir werden unsere eigene Kirchenbank haben.«
»Das waren keine Pennys«, sagte Alinor, immer noch verblüfft,
dass Alys einen Geldbeutel mit der vollständigen Mitgift hatte.
Ihre Tochter lächelte zu ihr hoch. »Richard«, flüsterte sie. »Ich habe dir doch gesagt, er würde nicht riskieren, mich zu verlieren.«
Die Tür der Kirche hinter ihnen ging auf, und Sir William schlenderte den Mittelgang der Kirche entlang, wobei er seinen Pächtern zu seiner Linken und Rechten zunickte. In seinen Gesichtszügen spiegelte sich wie üblich gelassene Gleichgültigkeit wider. Seine Augen huschten über die Männer im rückwärtigen Teil der Kirche, und er ignorierte Ned und andere bekannte Anhänger des Parlaments. Hinter ihm kam, wie immer, in der Reihenfolge der Rangordnung sein Haushalt. Davor schritt sein Gast: James Summer.
Alinor, die bei Alys hinten in der Kirche stand, schloss die Augen. Sie spürte, wie sie erstarrte. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass sich James immer noch in der Propstei befand. Es war ihr nicht in den Sinn gekommen, dass er an Alys’ Hochzeitstag in die Kirche kommen würde. In einem Schwächeanfall umklammerte Alinor die Rücklehne der Kirchenbank. Sie biss sich auf die Lippe und hielt die Luft an.
Der Pfarrer verkündete die erste Hymne, die Gemeinde stolperte durch ein unvertrautes Lied, während die Musiker auf Einhandtrommel und Geige herumsägten. Alinor schlug die Augen wieder auf und bewegte den Mund, als sänge sie ebenfalls.
Ihr Herz hämmerte vor Erleichterung, dass sie sich Alys, die ohne Interesse zum Haushalt der Propstei blickte, nicht anvertraut hatte. Wenn ihre Tochter gewusst hätte, dass James der Vater des Kindes war, das sie unter dem Herzen trug, und mit angesehen hätte, wie er an ihr vorüberging, ohne ihr einen Blick zuzuwerfen, wären die Schmach und Erniedrigung unerträglich gewesen.
Alinor merkte, dass die Hymne zu Ende war, und sank für die Gebete auf die Knie. Sie konnte den Mann, der sie verraten hatte, nicht daran hindern, der Hochzeit ihrer Tochter beizuwohnen. Am besten versuchte sie, Alys’ Freude an diesem Tag zu teilen, ohne sich von
ihrem eigenen Kummer ablenken zu lassen. Sie schloss die Augen und neigte den Kopf. Doch sie fand keine Worte für ein Gebet, sondern konnte sich nur wünschen, dass der Tag zu Ende gehen würde, ohne dass sie sich verriet.
Vorn in der Kirche spürte James Alinors Gegenwart hinter sich und musste die Versuchung niederkämpfen, einen Blick nach hinten zu werfen, um zu sehen, ob sie nach ihm Ausschau hielt. Er hatte nicht geglaubt, dass er es ertrüge, an ihr vorüberzugehen; er glaubte nicht, den langen Kirchengottesdienst durchhalten zu können. Er hatte vergessen, dass es Alys’ Hochzeitstag war, und für Sir William war es nicht von Bedeutung. Die Köchin, Mrs Wheatley, hätte es ihm sagen können, und dass sie einen herrlichen Kuchen gebacken hatte, um ihn für die Hochzeitsfeier zur Stoney-Farm zu bringen, doch sie wusste nichts von seinem Interesse an Alinor. Während er niederkniete, den Kopf auf die Hände legte und zu Gott betete, zitterte er vor Verlangen.
Als der Gottesdienst endlich vorbei war, blieb der Pfarrer vorne stehen.
»Heute feiern wir eine Hochzeit«, verkündete er. »Diejenigen unter Euch, die nicht daran teilnehmen möchten, dürfen gehen. Bitte verweilt nicht auf dem Friedhof und erlaubt Euren Kindern nicht, um die Grabsteine herum zu spielen. Diejenigen unter Euch, die der Hochzeit beiwohnen, treten bitte näher«, sagte er.
James, der sich umsah, erhaschte aus dem Augenwinkel einen Blick auf Alinors blasses Gesicht. Er wartete darauf, dass Sir William endlich seinen Haushalt hinausführte, wurde allerdings im nächsten Moment angstvoll gewahr, dass Seine Lordschaft auf seinem prächtigen Stuhl sitzen blieb, um die Hochzeit mit seiner Gegenwart zu beehren.
Richard Stoney trat an seinen Platz am Fuß der Altarstufen gleich vor dem Abendmahlstisch, der jetzt schmucklos und kahl dastand.
Alinor konzentrierte sich auf die Hochzeit und löschte jegliche Gedanken an James aus ihrem Kopf. Liebevoll lächelte sie Alys an.
»Gott segne dich«, sagte sie. »Nun geh.«
Ned kam von der Männerseite der Kirche und bot Alys den Arm, so förmlich wie ein Lord. Alys, die ganz blass war, aber lächelte, glättete die Vorderseite ihrer neuen Schürze über der Rundung ihres Bauches und legte die Hand auf seinen Arm. Alinor, die Alys’ Umhang hielt, ging hinter den beiden her, während sie den Gang hinunter auf den Abendmahlstisch zuschritten. Ned und Alys blieben vor dem Pfarrer stehen, sodass sich Alinor, die hinter ihnen stand, direkt neben der Kirchenbank der Propstei mit James befand. Es war fast so, als stünden sie beide an ihrem eigenen Hochzeitstag vorn in der Kirche. James starrte unverwandt nach vorn, seine Augen blind für das hölzerne Pult vor ihm, auf dem die Bibel lag. Alinor betrachtete die Rückseite der Haube ihrer Tochter, wo die kleine Schleife zitterte.
Der Pfarrer verlas die frisch genehmigten Worte des Traugottesdienstes, und Richard und Alys wiederholten ihre Gelübde. Ned reichte Alys’ Hand an Richard, und dieser schob den Trauring an ihren Finger. Es war getan. Im Schutz von Alys’ Umhang, den Alinor vor dem Bauch hielt, löste sie ihre fest ineinander verkrallten Finger. Erleichterung durchströmte sie. Es war getan, und Alys war jetzt Mrs Stoney, eine verheiratete Frau. Was auch immer aus ihrer Mutter wurde, Alys’ guter Name war gesichert, ihre Zukunft war garantiert. Alinor spürte heiße Tränen hinter den Augenlidern: Alys war eine verheiratete Frau; sie war Mrs Stoney von der Stoney-Farm. Alys war in Sicherheit.
»Amen«, sagte Sir William laut, und jeder wiederholte es.
Richard küsste seine Braut, und alle strömten nach vorn, um dem jungen Paar zu gratulieren. Alys, rosig und lächelnd, küsste jeden. Richard bekam auf den Rücken geklopft, und man gratulierte ihm. Die beiden hielten vor Sir William inne, der die Braut küsste. James lächelte zum Glückwunsch und schüttelte Richards Hand. Dann teilte sich die Menge aus Gratulanten auf einmal, und James sah sich Alinor
gegenüber. Für sie fühlte es sich an, als wären sie auf einmal ganz allein, als würde alles plötzlich still um sie herum.
»Ich gratuliere Euch zum Glück Eurer Tochter, Mrs Reekie.« Er konnte kaum sprechen, wie er feststellen musste, als hätte er einen Schlag auf den Mund erhalten und als wäre sein Gesicht taub.
»Danke.«
Über dem Geplapper der Menschen, die dem jungen Paar gratulierten, dem Knarren der Kirchentür und Menschen, die nach draußen auf den eiskalten Kirchhof traten und angesichts der Kälte kleine Schreie ausstießen, konnte er sie kaum hören. Er versuchte, andere Worte des Wohlwollens zu äußern, doch seine Stimme versagte ihm den Dienst. Alinor warf ihm einen Blick zu und sah dann zu Boden.
»Wir werden beim Hochzeitsessen erscheinen«, verkündete Sir William jovial. »Wir reiten ohnehin nach Chichester.«
»Hocherfreut!«, sagte Mrs Stoney, die vortrat und vor Stolz errötete. »Wir würden uns so freuen.«
Alinor sah James nicht mehr an, machte einen Knicks vor dem Grundherrn und vor dem Vater ihres Kindes. Dann wandte sie sich ohne ein weiteres Wort ab und folgte Alys nach draußen in den kalten Wintersonnenschein.
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Ned und Rob waren bereits nach Hause zurückgekehrt, um für die vielen Leute, die zu Fuß zur Stoney-Farm gingen, die Fähre zu bedienen. Bauer Stoney wartete vor dem Friedhofstor auf dem Sitz seines Wagens.
»Das ist ein gutes Tagewerk gewesen, Mrs Reekie«, sagte er erfreut, als Alinor durch das Tor kam.
»Ja, in der Tat«, sagte Alinor lächelnd.
»Ich hätte nie gedacht, dass Ihr die Mitgift zusammenbekommen würdet«, sagte er mit einem Funkeln im Auge. »Ihr müsst den jungen
Rob nach Virginia verkauft haben, statt ihn in die Lehre zu schicken.«
Alinor versuchte zu lachen. »Sie ist ein braves Mädchen«, sagte sie. »Sie hat jeden Tag gearbeitet und die ganze Nacht gesponnen.«
»Trotzdem«, sagte er. »Ich weiß, das kann es nicht abgedeckt haben. Ich hoffe, Ihr habt Euch nicht verschuldet.«
»Alys hatte das Geschenk ihres Vaters, und mein Bruder hat uns geholfen«, sagte Alinor, indem sie Richards Anteil verheimlichte.
»Dann hoch mit Euch.« Er half ihr auf den Wagen. »Und hier ist unsere kleine Braut.«
Alys saß auf dem Ehrenplatz neben Mr Stoney auf der Sitzbank. Mrs Stoney quetschte sich neben sie, Alinor und Richard saßen hinten, und ein paar Nachbarn der Stoneys kletterten herauf, um sich den Fußmarsch zu sparen. Mrs Wheatley, die einen großen Früchtekuchen trug, kam mit Stuart, dem Lakaien aus der Propstei. Man half ihr auf den Wagen, und sie hielt den Kuchen auf den Knien.
»Alle an Bord?«, fragte Mr Stoney und schnalzte dem Pferd zu. Alinor, die den Blick nach hinten die Straße entlangschweifen ließ, sah, dass James bereits aufgesessen war, Sir William jedoch aufgehalten worden war. Er saß auf seinem Pferd und unterhielt sich mit einem seiner Pächter, der ernst etwas erläuterte, seine Mütze in der Hand. Nach der nächsten Straßenbiegung waren sie nicht mehr zu sehen. Sie hoffte inständig, dass Sir William und James aufgehalten wurden und sich daraufhin entscheiden würden, gar nicht mehr zu kommen. Sie wusste nicht, wie sie Alys’ Hochzeitsessen überstehen sollte, falls James dort sein würde, ohne sie anzusehen, ohne mit ihr zu sprechen – schlimmer als ein Fremder: ein Mann, der sich entschieden hatte, sie loszuwerden, und keinerlei Anzeichen von Reue zeigte.
An der Furt hatte die Ebbe eingesetzt, sodass Mr Stoney den Wagen durchs Wasser fahren konnte. Diejenigen, die zu Fuß unterwegs waren, setzten auf der Fähre über, während Ned am Seil zog. An Alys’
Hochzeitstag forderte er von niemandem Geld, und es gab viele Witze, dass er ihnen den doppelten Preis abnehmen würde, wenn sie wieder nach Hause wollten. Ned würde bei der Fähre bleiben, bis alle Gäste den Fluss überquert hatten, und dann wollten Rob und er der Hochzeitsgesellschaft zur Gezeitenmühle folgen.
»Bis gleich!«, rief Alys ihm zu. »Kommt nicht zu spät!«
Ned winkte und zog die Fähre zurück zur Insel, während der Wagen zur Mühle weiterfuhr. Mr Miller stand bereits am Hoftor mit den fünf Latten. »Herein! Herein! Lasst uns auf die Braut anstoßen!«, rief er. »Und wir haben einen Schinken für Euch für die Hochzeitsfeier.«
»Vielen Dank«, sagte Mr Stoney und lenkte das Pferd auf den Hof der Mühle.
»Lang können wir nicht bleiben«, warnte Mrs Stoney ihn, als sie von der Sitzbank herunterstieg. »Wir müssen vor Sir William zur Stoney-Farm zurückkehren. Sir William kommt zum Hochzeitsschmaus zu uns nach Hause.«
»Ihr werdet ihn vorbeireiten sehen«, versicherte Mr Miller ihr. »Er wird auch für ein Glas von meinem Ale anhalten, da hege ich keinen Zweifel. Ich habe noch nie erlebt, dass er an meiner Tür vorbeigeritten wäre.«
Richard Stoney reichte die Zügel des Pferdes seines Vaters dem Stallburschen. Mrs Wheatley stellte ihren Kuchen behutsam auf dem Boden des Wagens ab und kletterte hinten herunter.
»Ich wüsste nicht, dass ihr Ale so erlesen wäre«, sagte sie leise zu Alinor. »Ich glaube auch nicht, dass Sir William das Haus verlassen muss, um gutes Ale zu trinken.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Alinor loyal. »Aber ich bin froh, dass Mrs Miller auf Alys anstößt. Sie lässt sie so schwer arbeiten!«
»Eine verrauchte Küche«, flüsterte Mrs Wheatley die alte Beschreibung für eine zänkische Hausfrau.
Alinor lächelte. Sie spürte, wie sich das Kind in ihrem Bauch
bewegte, und einen Moment lehnte sie sich an den Torrahmen und überlegte, wie erschöpft sie bereits war und was für ein langer Tag noch vor ihr lag.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Mrs Wheatley.
»Oh, ja«, erwiderte Alinor heiter. »Ich freue mich für Alys, aber es ist anstrengend gewesen, wisst Ihr?«
Die beiden gingen in die Küche und weiter in die Wohnstube, wo Alinor bisher immer nur zum Putzen und Polieren gewesen war. Doch heute stand die Wohnstube offen, und die Mitglieder der Hochzeitsgesellschaft waren geladene Gäste. Der runde Holztisch war mit Gläsern und Keksen gedeckt, und Mrs Miller trug ihre beste Schürze und weiße Haube. Mr Miller erhitzte das Ale am Feuer, und Jane schenkte jedem einen kleinen Becher ein.
»Wo ist Peter?«, fragte Alinor Jane.
»Zum Spielen bei den Smith-Jungen«, sagte sie.
»Auf die Gesundheit der Braut, der neuen Mrs Stoney!«, sagte Mr Miller und hielt seinen Zinnbecher hoch. »Und auf das Glück des jungen Paares!«
»Auf die Gesundheit!«, erwiderten alle und hoben die Gläser. »Gesundheit und Glück!«
Alys, die Hand auf Richards Arm, lächelte in die Runde. »Danke«, sagte sie.
»Gott segne uns alle«, fügte Richard hinzu.
Mr Miller, freudig erregt, das Wort zu haben, weil Mrs Miller in die Küche hinausging, stand im Begriff, mehr zu sagen. »Ich erinnere mich noch gut an meinen eigenen Hochzeitstag …«, setzte er an, als auf einmal ein lauter Schrei aus der Küche drang.
»Diebe, Diebe!«, rief Mrs Miller. »Diebe in meiner …«
Sie stürzte in die Stube, den roten Ledergeldbeutel für Janes Mitgift in der Hand, rußverschmierte Finger von den Kaminziegeln, das Gesicht vor Entsetzen kreidebleich.
»Gott bewahre uns«, sagte Mrs Wheatley. »Setzt Euch, Mrs
Miller. Setzt Euch. Was ist los?«
Mrs Miller stieß sie beiseite. »Seht nur!« Sie hielt den Geldbeutel von sich gestreckt. »Seht nur!«
»Was ist das, meine Liebe?«, fragte Mr Miller. »Gewiss nicht …«
»Mein Geldbeutel mit den Ersparnissen«, schnatterte Mrs Miller. »Janes Geld für ihre Mitgift. Ich habe es gerade eben herausgeholt, um dem Mädchen ein Halbkronenstück zu seinem Hochzeitstag zu schenken. Nicht, dass ich ihr einen Penny schulde. Aber ich wollte ihr etwas schenken, an ihrem Hochzeitstag … und …«
»Sag bloß nicht, dass du bestohlen worden bist!«, wollte ihr Ehemann wissen.
Zur Antwort schüttelte sie den Geldbeutel vor seinen Augen. Es erklang ein beruhigendes Klirren von Münzen, der Geldbeutel war schwer. Offensichtlich steckte er voller Münzen.
»Dir fehlt nichts«, widersprach er. Er nahm ihn aus ihrer Hand und wog ihn. »Da werden vierzig, vielleicht fünfzig Pfund drin sein«, sagte er. »Das merke ich am Gewicht und am Klirren der Münzen. Man lernt das …«
»Ich bin nicht bestohlen worden«, sagte sie wütend. »Nicht bestohlen. Ich wäre lieber bestohlen worden als das hier … Ich bin verhext worden.«
Die abergläubische Angst der Anwesenden in der Stube tat sich in einem Zischen kund.
»Was?«, fragte Mr Miller.
»Was?«, erklang es jetzt auch von Mrs Wheatley. »Hier, Mrs Miller, setzt Euch. Ihr wisst ja nicht, was Ihr da sagt.«
Mrs Wheatley half Mrs Miller auf einen Stuhl. Alinor trat vor und betastete ihre Stirn nach Fieber. Sie warf einen Seitenblick auf Alys. Die Braut war so weiß, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Sie wandte sich zu ihrer Mutter, als wolle sie ihr etwas sagen, gab aber keinen Ton
von sich.
Alinor spürte, wie ihr schrecklich kalt wurde. Sie ließ die Hand von Mrs Millers Stirn sinken. »Was ist geschehen?«, fragte sie leise. »Was ist geschehen, Mrs Miller?«
»Ma …«, flüsterte Alys.
Ohne ein weiteres Wort schnappte Mrs Miller ihrem Ehemann den Geldbeutel weg und öffnete ihn. »Seht Ihr das? Schaut, was hier drin ist! Schaut es Euch an. Ich werde es Euch zeigen!« Sie wies auf Alinor, die unwillkürlich mit den Händen eine Schale bildete. Mrs Miller schüttete den Inhalt des Geldbeutels hinein. Die Münzen waren heiß von ihrem Versteck und seltsam leicht. Alinor hielt zwei Hände voll Elfengold, die abgeschabten und angeschlagenen Münzen, die sie gern sammelte, die verlorene Währung der Alten, die uralten Münzen der angelsächsischen Küste. Im Innern des Geldbeutels hatten sie wie Münzen geklirrt, wie Münzen gewogen, aber hier, in Alinors Hände geschüttet, waren sie offensichtlich unecht. Die Hände voll mit ihren eigenen Münzen, betrachtete Alinor das blanke Entsetzen auf dem Gesicht ihrer Tochter und wusste sofort, was diese getan hatte.
»Elfengold«, sagte Mrs Miller angstvoll. »In meinem Haus. Ein untergeschobener Schatz. Ich hatte hier einen Geldbeutel voll von gutem Gold und Silber, Janes Mitgift. Ich rühre sie kaum je an. Ich habe ihn sicher in meinem Versteck verwahrt. Aber irgendeine Hexe hat meine Ersparnisse durch Elfengold ersetzt. Damit ich nicht merke, dass etwas fehlte! Sollte ich es herausnehmen und in meinen Händen wiegen, würde ich glauben, alles sei in Ordnung. Ich bin verzaubert worden und habe es noch nicht einmal bemerkt. Irgendeine Hexe hat alles genommen. Mein ganzes Geld!«
»Ich habe es schon hundert Mal gesagt: Es war ein dummes Versteck«, setzte Mr Miller an.
»Und was ist mit der Kiste?«, fuhr sie ihn an. »Die Kiste unter dem Bett?«
Er erbleichte, wirbelte auf dem Absatz herum und stürzte aus dem Zimmer. Sie hörten, wie seine schweren Füße die Treppe zum Schlafzimmer hinaufstampften, das Knarren der Schlafzimmertür, die beiden raschen Schritte über den Holzboden, und dann das Geräusch der Kiste, die unter dem Bett hervorgezogen wurde.
Alinor, die Hände voller Elfengold, stand so reglos wie alle anderen da und lauschte.
»Gott schütze uns, Gott bewahre uns«, flüsterte Mrs Miller in das stille Zimmer. »Das ist alles, was wir auf der Welt besitzen. Wir sind ruiniert, wenn das auch verhext ist.«
Sie hörten, wie er mit den Schlüsseln herumhantierte, und dann das Knarzen des Deckels. Es folgten sein erleichtertes Aufseufzen und das Klimpern von Münzen, in denen gerührt wurde. Dann hörten sie ihn den Deckel zuknallen, absperren und langsam die Treppe herunterkommen, während er die Schlüssel in seine Westentasche steckte.
»Gott sei Dank ist es da«, sagte er, aschfahl im Türrahmen. »Das Geld der Gezeitenmühle ist in Sicherheit. Es sind deine Ersparnisse, die verschwunden sind. Janes Mitgift. Wie viel ist es gewesen?«
Selbst in den Klauen dieses schrecklichen Verlustes wollte Mrs Miller ihrem Ehemann nicht verraten, wie viel sie über die Jahre beiseitegelegt hatte. »Pfundstücke hatte ich«, sagte Mrs Miller boshaft. »Über vierzig Pfund. Wie werde ich es von einer Hexe zurückbekommen?«
»Es könnte ein Gelegenheitsdieb gewesen sein«, versuchte es Mrs Wheatley. »Jemand, der vom Hof hereingekommen ist?«
»Welcher Dieb lässt Hände voller Elfengold zurück? Niemand ist hier hereingekommen, niemand weiß, wo ich mein Geld verstecke. Es ist eine Hexe. Es muss eine Hexe sein. Sie hat meine Ersparnisse weggezaubert und mir dafür ihre dagelassen. Das hier ist Hexengeld. Das hier ist Hexenwerk.«
Der ganze Raum schwieg. Das Schweigen verdichtete sich, geronn. Langsam, so langsam wie ein dämmernder Gedanke, drehten sich alle herum zu Alinor. Jeder sah Alinor an, die seit ihrer Kindheit für Mrs Miller gearbeitet hatte, die als weise Frau mit Fähigkeiten bekannt war, die nicht von dieser Welt waren. Alinor, die Gold für die Mitgift ihrer Tochter brauchte, für die Lehrstelle ihres Sohnes, Alinor, über die ihr eigener Ehemann gesagt hatte, sie sei eine Hure des Elfenlords. Langsam sahen alle zu Alinor, die dastand, ihr Gesicht ganz blass, ihre Hände voller Elfengold.
»Ihr habt gesehen, wie ich den Geldbeutel an dem Tag, als Ihr für mich zum Markt gefahren seid und mir meinen Spitzenkragen gekauft habt, aus dem Kamin geholt habe«, sagte Mrs Miller.
Alinor erinnerte sich daran, wie sie den Kopf abgewandt und das Spiegelbild von Mrs Miller beim Hervorholen des Geldbeutels in dem glänzenden silbernen Tranchierteller gesehen hatte.
Sie schluckte. »Das ist vor Monaten gewesen«, sagte sie. »Im Herbst. Letztes Jahr.«
»Aber Ihr habt von ihrem Versteck gewusst?«, fragte Mrs Wheatley.
Alinor wandte sich zu ihrer Freundin um. »Ja. Das haben viele, möchte ich meinen.«
»Aber Ihr habt es gekannt, Alinor?«
»Und Ihr habt Geld gebraucht«, stellte Mrs Stoney fest. »Ich hätte niemals gedacht, dass Ihr die Mitgift zusammenbekommen würdet.«
»Wir haben gearbeitet«, meldete Alys sich vehement zu Wort. »Jeder hat uns gesehen. Wir haben beide gearbeitet. Hier in der Mühle, jeder hat uns hier arbeiten gesehen, und wir haben gesponnen, und ich habe die Fähre betrieben. Und mein Vater hat mir Geld gegeben … und mein Onkel hat uns etwas geliehen …«
»Ich hätte nie geglaubt, dass es reichen würde«, warf Mr Stoney ein. »Ich habe gedacht, Ihr müsst Euch etwas von jemandem geliehen
haben.«
»Nein!«, sagte Alinor stolz, und überlegte dann, dass sie »Ja« hätte sagen sollen.
»Ich habe Alys geholfen«, mischte Richard sich ein und erntete einen wütenden Blick von seiner Mutter.
»Das war nicht deine Angelegenheit«, sagte sie scharf.
»Und dennoch«, sagte Mr Stoney, »du hattest nur deinen Lohn.«
»Seine Erbschaft?«, fragte Alinor. In ihren zitternden Händen glitzerte das Elfengold.
»Welche Erbschaft? Er hat keine Erbschaft«, widersprach Mr Stoney.
Alys sah ihre Mutter an, die Augen riesengroß in ihrem blassen Gesicht, und schüttelte wortlos den Kopf. Es gab keine Erbschaft.
»Mrs Reekie, sagt, dass es nicht wahr ist!«, wandte Mr Miller sich leise an sie. »Ich kenne Euch seit Jahren. Sagt, dass es nicht wahr ist.«
»Natürlich ist es nicht wahr!«, wiederholte Alinor. Selbst in ihren eigenen Ohren klang ihre Stimme schwach, das Leugnen nicht überzeugend. Sie streckte die Hände zu Mr Millers beruhigender Leibesfülle hin aus, als wolle sie ihm das Elfengold geben.
»Nein, ich will es nicht!« Er trat zurück und zog die Hände schnell hinter den Rücken. »Ich will es nicht in meinem Haus.«
»Dann lasst es mich aus der Tür werfen!« Alinor wandte sich zur Küche und der offenen Tür in den Hof. Doch Mrs Miller versperrte ihr auf einmal den Weg.
»Nicht so schnell«, sagte sie. »Ihr werdet hierfür Rechenschaft ablegen müssen. Kein Davonlaufen. Ihr haltet das gefälligst, bis Ihr bewiesen habt, dass es nicht Euch gehört!«
»Und wo ist meine Mitgift?«, wollte Jane wissen.
Alinor versuchte zu lachen, ihre Hände klebrig von Elfenmünzen. »Mrs Miller, ich bin schon mein ganzes Leben lang Eure Nachbarin gewesen. Meine Mutter hat Euch entbunden …«
»Und alle haben gesagt, dass auch sie eine Hexe war.«
»Nein, haben sie nicht.«
»Sie hat Zaubermittel hergestellt. Sie ist eine weise Frau gewesen. Sie konnte Dinge finden. Sie konnte Dinge wegnehmen«, rief Mrs Miller ihr in Erinnerung. »Sie konnte verhexen …«
»Aber ich nicht. Ihr wisst, dass ich so etwas nicht mache.«
»Eure Hände sind voller Elfengold! Woher stammt es denn sonst?«
»Ich habe Euer Geld nicht genommen!«, rief Alinor. »Ich habe es niemals hiermit vertauscht!«
»Packt sie!«, sagte Mrs Miller mit Nachdruck, als ändere Alinors erhobene Stimme alles. »Sie verflucht uns. Und du …«, befahl sie ihrem Ehemann, »… hol du den anderen Gemeindevorsteher oder den Pfarrer. Sie wird angeklagt werden müssen.«
»Zurück zur Kirche?«
»Willst du mit mir streiten?«, schrie Mrs Miller ihn an. »Eine Hexe ist in unserem Haus mit ihren Händen voller Elfengold, und du stehst rum und streitest mit mir?«
Mr Miller warf Alinor einen fassungslosen Blick zu und ging durch die Stube in die Küche, wo er seinen Winterumhang anzog. Er stieß die Tür zum Hof auf, und alle Anwesenden vernahmen das Geräusch eines Pferdes. »Sir William«, sagte Mr Miller mit offenkundiger Erleichterung. »Seine Lordschaft kommt gerade. Er ist ein Magistrat. Er kann entscheiden, was zu tun ist.«
Alle in der Wohnstube drängten sich um Alinor und führten sie durch die Küche nach draußen auf den Hof der Mühle, um den einzelnen Reiter zu begrüßen. Doch es war nicht Sir William. Es war James Summer.
»Seine Lordschaft ist auf dem Weg.« Er lächelte, doch dann verstummte er, als er Alinor erblickte, ihre Hände voller Münzen, umringt von verängstigten Menschen. »Was ist los? Was geht hier vor sich?«
»Es geht um Mrs
Reekie, die für eine Hexe gehalten wird«, sagte Mrs Wheatley nüchtern, während sie an den Kopf des Pferdes trat und zu James hochsah. »Mrs Miller hier sind ihre Ersparnisse in Elfengold verwandelt worden, und sie beschuldigt Alinor Reekie, die keine Verteidigung vorbringen kann.«
»Was?«, wollte James fassungslos wissen.
Alinor brachte es nicht über sich, ihm gegenüberzutreten.
»Es stimmt nicht«, sagte Alys, die sich vordrängte. »Natürlich stimmt es nicht.«
»Wie sind dann meine Ersparnisse in Elfengold verwandelt worden und die echten Münzen verschwunden?«, wollte Mrs Miller wissen. »Wer würde das tun, wenn nicht eine Hexe? Wer könnte so etwas tun? Und weiß nicht ein jeder, dass Alinor das Elfengold schon immer geliebt hat? Selbst als Mädchen hat sie es gesammelt und aufgehoben!«
»Ich habe Euer Geld nicht gestohlen! Natürlich habe ich gewusst, wo Ihr es versteckt hattet. Ich habe es seit Monaten gewusst – wahrscheinlich tut das jeder. Aber ich habe es nicht gestohlen. Ich würde nicht von Euch stehlen oder von sonst jemandem! Ich bin mein ganzes Leben in Eurem Haus und auf Eurem Hof ein und aus gegangen. Es gibt nicht viele Häuser auf der Insel Sealsea, denen ich keinen Besuch abgestattet habe, und ich habe noch niemals etwas an mich genommen. Ich bin eine zugelassene Hebamme …«
»Jetzt hat sie keine Genehmigung mehr«, stellte ein Mann fest, woraufhin Alinor abbrach und ihn ansah.
»Das ist nicht meine Schuld!«, erwiderte sie. »Wie könnt Ihr das gegen mich vorbringen?«
»Was ist mit der Frau von Ned und ihrem Kind?«
Alinor keuchte auf. »Sie hat ihr Kind verloren. Ich habe alles getan, was ich konnte …«
Weitere Hochzeitsgäste waren James auf den Hof gefolgt. Alinor ließ
den Blick in die Runde ihrer Nachbarn schweifen und sah verwirrte und ängstliche Gesichter.
»Ihr kennt mich doch. Ihr alle kennt mich. Ich würde niemals …« Alinor konnte kaum sprechen, noch nicht einmal zu ihrer eigenen Verteidigung.
»Nun, jemand hat es getan«, sagte Mr Miller schwer und sah zu James auf, der immer noch auf dem Pferd saß, vor Unschlüssigkeit erstarrt, während sich alle zu ihm wandten, um zu hören, was zu tun sei. »Was meint Ihr, Sir?«
»Mrs Reekie wird vor einen Magistrat treten müssen, um ihren Namen reinzuwaschen«, sagte James zögerlich.
»Folgt Sir William Euch?«, fragte Mr Stoney.
»Ja«, sagte James. »Er ist auf dem Weg.«
»Er ist Magistrat. Das reicht. Er kann sich den Fall anhören, sobald er kommt«, sagte Mr Miller, der Gemeindevorsteher war und das Gesetz kannte. Er trat ein wenig näher an James heran und griff nach den Zügeln seines Pferdes. »Wir wollen nicht, dass sie ins Gefängnis in Chichester gebracht wird«, murmelte er rasch. »Sie ist eine brave Frau. Wir wollen nicht, dass ihr als Diebin der Prozess gemacht wird. Sie wird gehängt werden, wenn mehr als drei Pfund fehlen, und in dem Geldbeutel waren vierzig Pfund. Am besten halten wir die Sache hier, im Dorf. Am besten richtet Seine Lordschaft hier, wo es unter uns bleiben kann. Wir fangen besser an, Sir, damit keinem Chichester als Gerichtsort in den Sinn kommt.«
Vor Schreck wurde James bleich. Er stieg von seinem Pferd ab, und der Stallbursche brachte es in die Scheune. »Ich werde die Zeugen hier vernehmen«, sagte er laut genug, dass es jeder hörte. »Sir William und ich werden uns bei seinem Eintreffen beraten.«
Er versuchte, einen Blick mit Alinor zu wechseln, doch sie sah von ihm weg, zu ihrer Tochter. Alys war weiß. Sie klammerte sich an Richards Arm, ihren Blick starr auf das Gesicht ihrer Mutter gerichtet.
»Wo ist der Bruder der Angeklagten?«, fragte James, der glaubte, Ned werde eine starke Stimme in dieser verängstigten Gemeinde haben.
»Wir brauchen ihn nicht«, fiel ihm Mrs Miller ins Wort. »Er hat überhaupt keine Kontrolle über sie. Sie macht, was sie will. Er konnte noch nicht einmal seine eigene Ehefrau retten. Sie hat keinen Vater, und jetzt behauptet sie, sie hätte keinen Ehemann, obwohl Zachary Reekie kein Grab hat.«
»Einfach verschwunden«, sagte jemand hinten in der Menge. »Hat eines Tages etwas gegen sie gesagt, und am nächsten Tag war er verschwunden.«
»Mr Ferryman ist ein wichtiger Zeuge«, wies James ihren Einspruch zurück. »Schickt nach ihm.«
James’ ruhige Stimme und sein Respekt einflößender Tonfall hielten die allgemeine Panik in Schach. Mr Miller, der den Blick über die Menschen schweifen ließ, die sich auf seinem Hof drängten, spürte, dass die Aufregung, das Verlangen nach Gewalt nachließ.
»Ja, das ist das Beste. Geh und hol ihn, Bursche«, sagte er zum Stalljungen. Dann wandte er sich wieder an James. »Ihr werdet einen Tisch wollen, und Papiere, Sir«, sagte er mit leisem Respekt. »Am besten setzt Ihr Euch in die Küche, wenn es Euch beliebt. Es ist das größte Zimmer, und wir haben dort den Tisch und den großen Stuhl.«
James nickte, und Mr Miller ging voraus in die Küche. Er befahl, dass der große Küchentisch in den rückwärtigen Teil des Raumes geschoben wurde, stellte den Stuhl mit der hohen Lehne dahinter und bedeutete James, den Richterplatz einzunehmen, während Mr Miller als behelfsmäßiger Gerichtsschreiber neben ihm stand.
»Ich besitze keine Amtsgewalt«, murmelte James, als er Platz nahm.
»Könnt Ihr Latein?«
»Ja, selbstverständlich.«
»Das wird reichen.«
James setzte sich gerade auf seinem Stuhl zurecht und legte die Hände vor sich auf den Tisch, während sich alle in das Zimmer drängten und Alinor, die immer noch die alten Münzen hielt, mit sich schoben. Mrs Miller legte ein Blatt Papier vor James, und Jane stellte ein Tintenfass und eine Feder vor ihn. Als sähen die Hochzeitsgäste einem Mysterienspiel zu, strömten sie in das Zimmer, schubsten Alinor vorwärts, bis sie allein vor dem Tisch stand. Alys wäre zu ihr gegangen, doch Richard ergriff ihre Hand und zog sie sanft zu seinem Vater und seiner Mutter an die Seite des Zimmers.
»Ich will …«, flüsterte sie ihm zu.
»Warte besser hier«, flüsterte er zurück. »Schau, wie es läuft. Warum hat sie geglaubt, ich hätte eine Erbschaft?«
»Oh, ich weiß nicht«, sagte Alys und verstummte.
James tauchte die Feder in die Tinte und hoffte, dass Ned und Sir William bald kommen würden. Jetzt lag ihm einzig und allein daran, Zeit zu schinden.
»Name«, sagte er wie zu einer Fremden.
Es ertönte ein leises, zufriedenes Seufzen. Der tiefe Schrecken der Hexerei befand sich unter der Kontrolle einer Autorität. Die Leute mussten sich nicht mehr abmühen, um sich gegen die unbekannten Mächte der anderen Welt zu verteidigen: Ein Gentleman, der Latein konnte, übernahm nun die Verantwortung.
»Ihr kennt meinen Namen«, erwiderte Alinor verdrossen.
Ihre Aufsässigkeit rief ein Murmeln hervor.
»Sie heißt Mrs Alinor Reekie«, mischte sich Mrs Miller ein. »Schwester von Edward Ferryman vom Fährhaus.«
James senkte den Blick und schrieb den Namen seiner Geliebten oben auf das Blatt Papier.
»Alter?«, fragte er.
»Ich bin siebenundzwanzig«, erwiderte Alinor.
»Beruf?«
»Ich bin zugelassene Hebamme und Heilerin.«
»Sie hat keine bischöfliche Genehmigung«, rief jemand hinten im Zimmer noch einmal allen ins Gedächtnis.
Alinor hob den Kopf. »Ich bin Hebamme und Heilerin«, änderte sie ab. »Von unbescholtenem Ruf.«
»Und die Beschuldigung?«
Mrs Miller trat vor Zorn bebend vor, ihre Stimme tief und leidenschaftlich. »Ich bin Mrs Miller von der Mill-Farm, Sidlesham. Ich verwahre meine Ersparnisse, die Mitgift meiner Tochter Jane, in einem Versteck in meiner Küche.« Theatralisch deutete sie auf die Feuerstelle. »Da! Genau da! Hinter einem losen Backstein im Kamin.«
Sämtliche Blicke huschten zu der Stelle, wo der Backstein am Kaminvorsprung fehlte, und zurück zu Alinors weißem Gesicht.
»Vor Monaten, im Herbst, im September war’s, hat sie auf dem Freitagsmarkt in Chichester etwas für mich erledigt. Ich habe ihr vertraut, dass sie etwas für mich einkauft. Ich habe ihr vertraut!«
Gedämpft wurde Mrs Millers berüchtigt misstrauisches Wesen kommentiert. Sie fuhr fort: »Ich habe von ihr verlangt, mir den Rücken zuzukehren, als ich meinen Geldbeutel mit den Ersparnissen aus meinem Versteck holte. Mein Geheimversteck. Doch sie hat mich gesehen. Sie hatte mir den Rücken zugekehrt, aber trotzdem hat sie mich gesehen!«
Erstauntes Raunen ging durch die Menge.
»Wie war das möglich?«, fragte James skeptisch, die Feder bereit.
»Mit ihrem Zweiten Gesicht hat sie mich gesehen, obwohl ihr Kopf weggedreht war. Als sie sich umgedreht hat, konnte ich an ihrem Gesicht ablesen, dass sie mein Geheimnis herausgefunden hatte. Ich habe es einfach gewusst. Sie hat mich gesehen mit ihren Hexenaugen.«
Es wurde gemurmelt. Alle außer Mrs Wheatley und der Familie Stoney stimmten überein, dass dies der Beweis sein müsse. Mr Miller
schüttelte den Kopf.
»Ihr dürft sie nicht Hexe nennen, bis es erwiesen ist«, rügte James sie, und seine ruhige Stimme durchschnitt das Gerede. Er wandte sich an Alinor. »Habt Ihr dieses Versteck gesehen?«
»Ich habe ihr Spiegelbild im Tranchierteller gesehen«, erwiderte sie knapp. Sie wies auf den silbernen Teller, der protzig auf der großen hölzernen Anrichte ausgestellt stand. »Sie hat mir befohlen, mich dem großen Servierteller zuzuwenden, und ich konnte sie sehen wie in einem Spiegel. Ich habe nicht nach ihr Ausschau gehalten, aber gesehen habe ich sie, genauso, wie sie mich gesehen hat. Allerdings wissen viele Leute, dass sie ihre Ersparnisse hier aufbewahrt hat. Manchmal hat sie mit heißen Münzen bezahlt, und ihre Finger sind rußverschmiert gewesen. Es war wirklich kein Geheimnis.«
Zwei Ährenleserinnen der Millers murmelten, sie seien tatsächlich schon mit warmen Münzen bezahlt worden.
»Ist das der Fall?«, fragte James ein wenig zu eifrig. »Das Versteck ist allgemein bekannt gewesen?«
»Nur eine Hexe hätte dieses Spiegelbild sehen können«, sagte Mrs Miller standhaft. »Niemand sonst hätte mich erkennen können.«
Mrs Wheatley schob sich durch das volle Zimmer zur Anrichte und blickte in den silbernen Servierteller. »Man kann darin sehen«, berichtete sie James. »Man kann deutlich darin sehen.«
»Warum habt Ihr Euer Versteck nicht gewechselt?«, fragte James. »Wenn Ihr geglaubt habt, es sei entdeckt worden?«
Mrs Miller zögerte. »Ich habe es nicht getan«, räumte sie ein. »Ich habe es eben nicht getan.«
Ihre Worte klangen ein wenig hohl, und es fiel ihr schwer, ihre Glaubwürdigkeit wiederzuerlangen. »Weil sie mich verhext hat!«, erklärte sie. »Ich hatte es bis jetzt völlig vergessen. Ich hatte es einfach bis jetzt vergessen, und ich habe ihr immer wieder vertraut, weil ich vergessen habe, dass sie mich gesehen hatte. Was ist das,
wenn nicht Zauberei?«
»Streitet Ihr das ab?«, drängte James Alinor, doch sie sah ihn nicht an. Sie blickte durch den Raum auf Alys’ weißes Gesicht, sah, dass Richard Stoney sie umklammerte, sie von ihr fernhielt. Alinor hörte James kaum, sie betrachtete ihre Tochter, ihre geliebte Tochter. Sie überlegte, wozu sie vielleicht gezwungen sein würde, um Alys zu beschützen.
»Ihr müsst mir antworten«, hakte James nach.
Sie drehte den Kopf und sah ihn gleichgültig an. »Ja, ich habe ihr Spiegelbild gesehen«, bestätigte sie. »Aber ich habe deswegen nichts unternommen. Ich bin kein Dieb. Es ist mir einerlei, wo sie ihr Eiergeld aufbewahrt.«
»Eiergeld! Da waren über vierzig Pfund drin!«, schrie Mrs Miller.
»Meine Mitgift!«, rief Jane allen in Erinnerung.
Alinor zuckte die Schultern, so verächtlich wie eine Hofdame. »Ich weiß es nicht. Ich habe nie gesehen, was in dem Geldbeutel war. Ich habe den Geldbeutel nie in Händen gehalten. Ich weiß nicht, wie viel Euer Zusammengespartes wog. Ich habe den Geldbeutel nur einmal in Eurer Hand gesehen, als Ihr mir Geld gegeben habt, damit ich Eure Spitze kaufe. Ich habe ihn noch nicht einmal berührt, nicht wahr?«
Alinors Verachtung war mehr, als Mrs Miller ertragen konnte. »Ich bezweifle nicht, dass Ihr das Geld in Elfengold umgetauscht habt, ohne es zu berühren! Ohne den Geldbeutel aus seinem Versteck zu holen!«, rief sie. »Ich zweifle keine Minute daran! Ich zweifle nicht, dass Ihr ihn nie berührt habt, sondern denke, dass Ihr es um Mitternacht vom Sumpf aus getan habt, wo Ihr immer allein seid, im Mondschein herumlauft, auf Pfaden, denen sonst niemand folgt, und mit wem auch immer redet.«
Die Gehässigkeit in der Stimme der Frau ließ Alinor ein Stück zurücktaumeln.
»Sie hat es nicht genommen!«, ergriff auf einmal Alys das Wort,
indem sie durch den anschwellenden Lärm rief, vortrat und sich ihrem neuen Ehemann entzog. »Ich weiß, dass sie es nicht getan hat!«
Alinor hob den Kopf und sah ihrer Tochter in die Augen. »Alys, sag jetzt nichts«, befahl sie. Sie blickte an ihr vorbei zu Richards angespanntem Gesicht. »Bringt sie fort«, sagte sie leise. »Es ist ihr Hochzeitstag. Sie sollte nicht hier sein. Bringt sie nach Hause. Bringt sie in ihr neues Zuhause.«
Er nickte, sein junges Gesicht verzerrt vor Schreck, und versuchte, Alys zur Tür zu führen, doch sie widersetzte sich ihm.
»Ich werde nicht gehen«, erklärte sie ihm.
»Dann schweig«, sagte Richard. »Wie deine Mutter es dir befiehlt.«
Alys drehte sich zu ihrer Mutter. »Ma«, sagte sie verzweifelt. »Du weißt …«
»Ja, ich weiß.« Alinor nickte. »Ich weiß. Geh einfach, Alys.«
»Ränkeschmiede!«, rief Mrs Miller. »Es sind also zwei!«
Zu seiner Erleichterung erblickte James Ned, der die Küche betrat und sich verwirrt umsah. Rob trat hinter ihm ein. »Was soll das alles?«, fragte Ned. »Was ist hier los?«
»Mrs Reekie ist angeklagt worden, Mrs Millers Ersparnisse durch Hexerei gestohlen und an ihrer statt Elfengold zurückgelassen zu haben«, erklärte James.
Ned schob sich durch die Menge zu dem Tisch. »Himmelherrgott, Leute«, sagte er verächtlich. »Könnt ihr noch nicht einmal auf eine Hochzeitsfeier gehen, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen?« Er trat an die Seite seiner Schwester, und sie drehte sich zu ihm, die Hände voller Münzen. Sofort hielt er inne, bei dem Anblick vollkommen erstarrt. »Was ist das?«, fragte er mit ganz anderer Stimme. »Was machst du da mit deinen Münzen, Alinor?«
»Sind das ihre Münzen? Ihre eigenen Münzen? Kennt Ihr sie?«, wollte Mrs Miller wissen, ihre Stimme scharf vor freudiger Erregung.
»Erkennt Ihr sie wieder?«, fragte Mr Miller.
»Ja«, sagte Ned schlicht. »Ich glaube schon. Aber für mich sieht eine wie die andere aus. Ich interessiere mich nicht dafür. Alinor – was geht hier vor?«
Rob trat an die Seite seiner Mutter, und sie versuchte, aufmunternd zu lächeln, ihre Hände voll von den erdrückenden Beweisen.
Alle wandten sich James zu. Niemand hegte jetzt noch Zweifel an den Anschuldigungen. Ned hatte die Schuld seiner Schwester voll und ganz bestätigt.
»Mrs Reekie, wie sind Eure Münzen in Mrs Millers Geldbeutel gelangt?«, fragte James leise.
Stumm schüttelte Alinor den Kopf. Ned nahm den Hut vom Kopf, und sie schüttete die Münzen hinein. Bei zweien handelte es sich um so dünne Silberreste, dass sie an ihren verschwitzten Handflächen klebten und sie sie abwischen musste. Es erklang ein entsetztes Aufkeuchen, weil sie scheinbar Elfengold von ihrer eigenen Haut schälte. Ned legte den Hut auf den Tisch vor James, als handele es sich um ein Beweisstück, das er nicht berühren wollte.
»Ich weiß es nicht«, sagte Alinor ruhig. »Ich habe keine Ahnung.«
»Ich denke, wir sollten auf Sir Williams Eintreffen warten«, sagte James.
Alys warf ihm einen verzweifelten Blick zu. »Ihr sitzt dort, Ihr entscheidet«, sagte sie. »Das hier ist offensichtlich ein Irrtum. Lasst meine Mutter nach Hause gehen. Lasst uns alle auf die Hochzeit gehen.«
»Still, Alys«, flüsterte Alinor ihr zu.
»Meine Mutter ist völlig unschuldig, Sir«, sagte Rob betreten. »Bitte wascht ihren Namen rein.«
»Oh, um Himmels willen«, sagte Mrs Wheatley leise. »Die armen Kinder.«
»Es ist ihr eigenes Elfengold«, sagte Mrs Miller tonlos. »Wie ihr Bruder sagt. Verwandelt aus meinen guten Münzen. Wie Alchemie.
Gold zu Schrott. Was könnte das anderes sein als Zauberei? Sie muss eine Hexe sein.«
»Macht die Nadelprobe«, sagte jemand aus dem hinteren Teil des Zimmers, und sofort redeten alle durcheinander.
»Und sucht sie nach Malen ab.«
»Zieht sie aus.«
»Lasst die Frauen nachsehen …«
»Teufelszitzen …«
»Stellt sie mit einer Bibel auf die Probe!«
»Muttermale auf der Haut …«
»Der Teufel hinterlässt seine Spuren …«
Alinor war so weiß wie ihr Kragen, reglos erstarrt.
»Sir«, sagte Rob eindringlich zu seinem Tutor, »sie haben kein Recht. Lasst nicht zu, dass sie sie ergreifen. Lasst sie nicht …«
James versuchte, sich über dem anschwellenden Lärm Gehör zu verschaffen. »Ich nehme hier immer noch Beweise auf«, behauptete er. »Und ich werde eine Entscheidung fällen.«
»Schriftlich«, unterstützte ihn Mr Miller. »Eine schriftliche Entscheidung.«
»Lasst sie schwimmen!«, sagte jemand und erntete auf der Stelle Zustimmung. »Lasst sie schwimmen.«
»Anders geht’s nicht!«
»Sucht sie ab, und dann lasst sie schwimmen.«
Zum ersten Mal blickte Alinor zu James. Ihre Augen waren vor Entsetzen schwarz. »Ich kann nicht schwimmen«, sagte sie tonlos. »Das kann ich nicht.«
»Sie hat große Angst vor Wasser.« Ned redete hastig auf James ein. »Sehr große. Sie hat sogar auf meiner Fähre Angst. Man kann sie nicht schwimmen lassen.«
»Aufhören!«, verlangte Alys, ihre Stimme schrill vor Panik. »Aufhören!«
»Sir?« Robs junges Gesicht war gepeinigt. »Mr
Summer?«
James erhob sich. »Dies ist weder der rechte Zeitpunkt noch der Ort«, bestimmte er. »Ich werde ihre Verhaftung anordnen …«
»Sie ist bereits verhaftet!«, rief jemand von hinten. »Sie soll auf die Probe gestellt werden!«
»Jetzt auf die Probe gestellt!«
»Im Wasser!«
Die Menge strömte vorwärts, und Ned und Rob mussten sich gegen zugreifende Hände und eine Mauer von Leibern stemmen. Ned versuchte, die Arme um Alinor zu legen und sie zu sich zu ziehen, und Rob stand nach außen zu den Menschen gewandt, die sich immer näher um sie drängten. Er schlug ihre Hände von seiner Mutter weg und versuchte, zwischen sie und die anderen zu kommen, doch sie drängten von allen Seiten des Zimmers heran, und er konnte sie nicht alle abwehren. Richard Stoney hielt Alys gepackt, zog sie von ihrer Mutter fort, schleifte sie weg, folgte seiner eigenen Mutter und seinem Vater, die sich voller Sorge über die Ereignisse einen Weg durch die Menge bahnten, nach draußen auf den Hof zum Hochzeitswagen.
»Aufhören!«, rief James, doch seine Autorität schmolz in der ansteigenden Hitze der Menschenmenge dahin. »Ich befehle Euch, Euch nicht mehr zu rühren!«
Ned bekam Alinor um die Taille zu fassen und zog sie von der Menge in der Küche fort in Richtung der Tür zur Wohnstube. Alinor, umgeben von Leuten, die an ihrem Gewand zogen, an ihrer Schürze zerrten, ihr die Haube herunterrissen, sodass ihr Haar um ihr verängstigtes Gesicht fiel, kämpfte, um mit ihm zu gehen, schubste, so fest sie konnte, um in seinen Armen zu bleiben und in die Wohnstube zu gelangen. James, der sah, was die beiden taten, trat hinter dem Tisch hervor und öffnete die Tür zur Stube, packte Neds Jacke und riss ihn nach hinten, die drei dicht beieinander, als er spürte, wie Ned auf einmal zusammenzuckte und zurückwich: »Du hast einen dicken
Bauch!«
Alinor, weiß wie entrahmte Milch, die Jacke von den Schultern gerissen, ihre Haube verloren, ihre Schürze beiseitegezerrt, sodass jeder die schwellende Rundung ihres schwangeren Leibes sehen konnte, blickte ihrem Bruder inmitten des ganzen Lärms ins Gesicht und sagte: »Ja, Gott vergebe mir.«
»Ein dicker Bauch?«
»Nicht jetzt«, sagte James rasch, doch es war zu spät: Jemand vorn in der Menge hatte es mit angehört.
»Die Hexe ist trächtig!«
»Nein!«, rief Mrs Wheatley. Sie drängte sich durch die Menge an Alinors Seite. Ein Blick auf ihr erbleichtes Gesicht und ihren schwellenden Leib bestätigte ihre Schuld. »Oh! Alinor! Gott vergebe Euch. Was habt Ihr nur getan?«
»Schwanger?«, fragte Mr Miller ungläubig. »Alinor Reekie?«
Vor Verblüffung schwiegen alle und standen reglos da. Alinor stellte sich den entsetzten und feindseligen Blicken. Rob sah seine Mutter völlig verdutzt an. »Was? Ma?«
»Wessen Kind ist es?«, wollte Mrs Miller wissen, ihre Stimme scharf. »Das will ich wissen! Wer ist der Vater? Was ist der Vater? Was hat sie jetzt wieder getan?«
In der furchtsamen Stille hörten sie Sir William auf den Hof reiten und das Klappern, als er abstieg und zur Küchentür kam.
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Er erfasste die Szene mit einem kurzen Blick: Alinor zwischen ihrem Bruder und James Summer festgehalten, ihre Haube fort, das herabfallende Haar, die zerrissene Schürze, und ihr runder Bauch, der unter ihrem Kleid spannte. Niemand sagte etwas.
»Mr Summer«, befahl Seine Lordschaft eisig. »Kommt hier heraus und erklärt mir, was zum Teufel vor sich geht.«
Alle sprachen durcheinander, doch Sir William ließ eine Hand hochschnellen, um sie zum Schweigen zu bringen. »Mr Summer, wenn ich bitten darf.«
James warf einen gequälten Blick auf Alinor, ließ sie los und ging nach draußen, während die Menge sich schweigend teilte, um ihn gehen zu lassen. Ned stand zwischen seiner Schwester und ihren Nachbarn, aber jetzt bestand keine Notwendigkeit mehr, sie zu schützen. Niemand wollte sie mehr anrühren. Niemand bewegte sich oder sagte auch nur einen Ton. Alle spitzten die Ohren, um die gedämpfte Unterhaltung zwischen den beiden Männern an der Türschwelle zu hören, dann das Schnippen von Sir Williams Fingern, das den Müllersburschen herbeirief, und das Getrappel von Sir Williams Pferd, als es zu einem Stall weggeführt wurde. Alinor blickte starr zu Boden. Lange Momente verstrichen, eine für die Jahreszeit ungewöhnliche Biene summte am Fenster der Wohnstube. Von dem Geräusch abgelenkt, drehte Alinor den Kopf und machte Anstalten, sie hinauszulassen.
»Lass das«, befahl Ned knapp.
Sir William erschien in der Tür. »Gute Leute, nun zerquetscht Euch nicht. Kein Grund, sich hier drinnen zu drängen. Am besten kommt Ihr alle raus auf den Hof«, sagte er zu niemand Bestimmtem.
Alles drängte in den grellen Wintersonnenschein des Hofes. Es herrschte Ebbe, und über dem Sumpf schrien Möwen. Durch den Druck des tiefen Wassers im Mühlteich schlugen die Torflügel geschlossen zusammen. Ein Rinnsal floss oben über das Tor.
»Mrs Reekie, diese braven Frauen werden Euch untersuchen müssen, das wisst Ihr«, bestimmte Sir William.
Alinor verneigte den Kopf vor ihrem Pachtherrn.
»Mrs Wheatley, würdet Ihr drei Frauen auswählen, die Mrs Reekie vertraulich ins Haus bringen und sie gründlich nach Hexenmalen untersuchen, sie auffordern, den Vater ihres Kindes zu benennen, und
wann sie damit rechnet, das Wochenbett zu hüten.«
Mrs Wheatley blickte mit zusammengepressten Lippen zu der Menge aus Nachbarn, alten Freunden und ein paar alten Feinden. Mrs Stoney wich zu ihrem Wagen zurück. Höflich überging Mrs Wheatley sie. »Mrs Jaden, Mrs Smith, Mrs Huntley«, sagte sie, indem sie ihre Cousine, ihre Freundin und eine Frau benannte, die als Hebamme im Süden der Insel arbeitete. Sir William winkte die vier Frauen in Richtung des Hauses, und sie gingen wieder hinein. Alinor schritt langsam zwischen ihnen.
»Ich will sie nicht in meinem Haus haben!«, sagte Mrs Miller zornentbrannt. »Ihr solltet es im Hof machen. Zieht sie hier draußen nackt aus!«
»Ihr werdet mir den Gefallen tun, Mrs Miller, da bin ich mir sicher«, sagte Seine Lordschaft. »Wir sind keine vollkommenen Heiden.« Er drehte sich beiseite und sprach leise mit James. Alys versuchte, näher heranzukommen, um etwas zu hören, doch Richard hielt sie fest gepackt. Er umklammerte sie, als wolle er sie vor dem Ertrinken retten, während seine Mutter und sein Vater ein Stück abseitsstanden und das weiße Gesicht der Schwiegertochter betrachteten, die sie nie für gut genug gehalten hatten.
Mrs Stoney wandte sich an ihren Ehemann, den Mund an seinem Ohr. »Die Mitgift«, sagte sie leise. »Ich habe sie in meiner Tasche. Sollten wir …«
»Sei still«, flüsterte er. »Wir sehen sie uns an, sobald wir nach Hause kommen und das hier alles vorüber ist. Sie sind getraut, es ist die Mitgift, die sie mitgebracht hat. Du hast sie gesehen, es waren gute Münzen. Lass es vorerst auf sich beruhen.«
Sie nickte und wartete schweigend wie all die anderen Nachbarn. Nach einer Viertelstunde kamen die Hexenbeschauerinnen wieder aus dem Haus, Alinor bei ihnen, ohne Haube, das goldene Haar zerzaust, als seien die Frauen auf der Suche nach Zeichen mit den Fingern
hindurchgefahren. Seitlich an Alinors Hals waren ein schmaler wunder Kratzer und ein Rinnsal aus Blut von ihrem Ohr zu ihrem weißen Kragen, der eingerissen war. Rob rief: »Ma!«, und sie warf ihm einen müden Blick zu. »Es ist nichts«, versuchte sie, ihn zu beruhigen. »Nichts.«
Mrs Wheatley ging zu ihrem Arbeitgeber und stellte sich vor ihn.
»Habt Ihr Mrs Reekie untersucht?«, fragte er sie.
»Das haben wir.«
»Ist sie schwanger?«
»Ja, Sir. Sie glaubt, dass ihr Wochenbett im Monat Mai sein wird.«
Von den Stoneys erhob sich ein gemurmelter Ausruf. Richard sah Alys an, als wollte er sie etwas fragen, erntete jedoch einen derart zornigen Blick aus ihren blauen Augen, dass er nichts sagte.
»Gezeugt wurde das Kind also …?«
»Im August oder im September, Sir.«
»Hat sie den Vater ihres Kindes benannt?«
James räusperte sich, wie um zu sprechen, doch Mrs Wheatley fuhr mit ihrem Bericht fort. »Nein, Sir, sie ist unverbesserlich. Als wir sie angefleht haben, um Gottes willen und für ihren eigenen guten Ruf seinen Namen preiszugeben, hat sie nichts gesagt.«
Sir William nickte. »Ist es das Kind ihres vermissten Ehemanns?«, schlug er vor.
Mrs Wheatley antwortete rasch. »Niemand hat Zachary, den Fischer, seit über einem Jahr gesehen, Sir. Aber natürlich hätte er heimlich zurückkommen und ihr einen Besuch abstatten können.«
»Ist es so gewesen?«, fragte Sir William Alinor, indem er ihr einen Weg eröffnete, der sie vor der Anschuldigung der Hurerei bewahren würde. »Denkt nach, bevor Ihr sprecht, Mrs Reekie. Denkt sehr sorgfältig nach. Ist es so gewesen?«
»Nein«, sagte sie kurz angebunden.
Seine Lordschaft betrachtete sie einen Moment. »Seid Ihr Euch
sicher?«
Alys flüsterte: »Ma!«
Alinor sah in ihre Richtung. »Nein«, sagte sie abermals.
Sir William wandte seine Aufmerksamkeit wieder den Hexenbeschauerinnen zu. »Habt Ihr sie der Nadelprobe unterzogen?«
»Das haben wir«, antwortete Mrs Wheatley. »Mit der Stopfnadel, die wir im Nähkästchen in der Wohnstube gefunden haben.« Sie wandte sich höflich an Mrs Miller. »Wir haben sie auf dem Tisch liegen lassen, falls Ihr sie wegwerfen wollt.«
Mrs Miller erschauderte übertrieben. »Nehmt Ihr sie mit. Sie wird verflucht sein.«
»Und hat sie geblutet?«, fuhr Sir William mit seiner Befragung fort.
»Sie hat wie eine Sterbliche geblutet, und sie hat den Schmerz gespürt. Nicht sehr viel, aber rotes Blut, wie jede andere Frau auch.« Sie wies auf den Kratzer an Alinors Hals. Alinor stand wie eine Statue da, den Blick zu Boden gerichtet.
»Und habt Ihr sie nach Hexenmalen untersucht?«
»Das haben wir«, erwiderte Mrs Smith. »Zusätzliche Zitzen haben wir keine sehen können, aber sie hat ein Muttermal in der Form eines Mondes, sehr ungewöhnlich und sehr verdächtig, an den Rippen.«
»In Form eines Mondes?«
»Eine Mondsichel. Ein Hexenmond.«
Es kam ein tiefes, zufriedenes Seufzen von der Zuhörerschaft, und Sir William schwieg angesichts dieses belastenden Beweises. Die Menge, die Alinor anstarrte, wartete darauf, dass er das Wort erhob, zufrieden damit, seiner Entscheidung zu harren, da es nur eine einzige Entscheidung von ihm geben konnte. Es war, als genössen sie die Pause vor dem letzten Akt eines Mysterienspiels, die Gelegenheit, das gewiss kommende Urteil auszukosten, auf die Gewalt wartend, die gleich losbrechen würde.
»Der Geldbeutel«, sagte Sir William zu Alinor. »Habt Ihr das Geld gestohlen? Habt Ihr die alten Münzen anstelle von Mrs
Millers Ersparnissen hineingelegt?«
»Das habe ich nicht«, sagte Alinor.
»Diese alten Münzen und Bruchstücke von Münzen. Gehören sie Euch?«
Alinor sah zum Hut ihres Bruders, den eine der Hexenbeschauerinnen Mr Miller reichte. Er hielt ihn eine Armeslänge von sich weg, als versengten ihn die kleinen Silbermünzen.
»Sie sehen wie meine Münzen aus.«
»Ihr bewahrt sie im Fährhaus auf?«
Alinor warf Ned einen Blick zu.
»Das tut sie«, sagte er unglücklich.
»Wie sind sie dann von dort hierhergelangt?«
Alinor erstickte an ihrer Antwort. Sie blickte zum Himmel über Sir Williams hartherzigem Gesicht auf, betrachtete den Boden unter seinen polierten Stiefeln. Es herrschte langes Schweigen.
»Sir William …«, setzte Alys an, ihre Stimme dünn und bebend. »Eure Lordschaft …« Sie löste sich aus Richards Griff und trat einen Schritt vor.
»Ich habe es getan«, unterbrach Alinor ihre Tochter.
»Hexerei!«, rief Mrs Miller. »Genau wie ich gesagt habe. Hexerei.«
»Oh, Alinor, Gott vergebe Euch!«, fiel Mr Miller mit ein.
»Wollte sie ihr Kind als unseres ausgeben?« Mit glühendem Blick zog Richard Alys fest an seine Seite. »Bist du wirklich schwanger? Mit unserem Kind? Wolltet ihr mich zu einem zweifachen Hahnrei machen – ein Elfenkind in meine Krippe legen, und meine Ehefrau ist gar nicht die Mutter?«
»Was?«, wollte Mr Stoney wissen.
Sir William und James wechselten entsetzte Blicke, doch die Ereignisse entfalteten sich zu schnell für sie.
»Nein, nein!« Alys drehte die Hand in seinem Griff, doch er hielt sie
fest. »Um Himmels willen, nein!«
»Aber du hast gewusst, dass deine Mutter auch ein Kind erwartet? Zur gleichen Zeit gezeugt? Wie ist das möglich?«
Alys blickte verzweifelt zu ihrer bleichen Mutter. »Es hat nichts mit uns zu tun, Richard. Und das Geld …«
»Sei bloß still«, sagte Alinor entschlossen zu ihrer Tochter. Sie war jetzt gelassen, als hätte das Kratzen mit der Nadel sämtliche Scham ausbluten lassen. Sie nickte Richard zu. »Bringt sie weg«, sagte sie. »Ich habe es Euch vorhin schon gesagt. Bringt sie zu Euch nach Hause. Ich will sie hier nicht.«
»Ma! Ich muss es ihnen sagen …«
»Auf keinen Fall«, sagte Alinor mit Nachdruck. »Du hast nichts zu sagen, was mir helfen kann. Geh einfach.«
»Wir müssen Euch nicht Folge leisten!«, polterte Mr Stoney.
»Um Himmels willen, schafft sie fort«, bat Alinor schlicht, und Richard nickte, und teils zog er, teils hob er Alys in Richtung Wagen. Sein Vater und seine Mutter folgten, hin- und hergerissen zwischen ihrem Verlangen, zusammen mit ihren Nachbarn einem Hexenprozess beizuwohnen, und dem Grauen, weil die Hexe nun Teil ihrer Familie war.
Sie kletterten in den Wagen und trieben gerade das Pferd an, als jemand hinten aus der Menge das Wort ergriff: »Macht die Wasserprobe mit ihr!«
»Ich habe es nicht mithilfe von Hexenkunst getan, es ist ein Tausch gewesen«, sagte Alinor hastig zu Sir William. »Es ist ein Darlehen gewesen. Deshalb habe ich alles, was ich besitze, dort gelassen zum Zeichen, dass ich es zurückzahlen würde. Als Zeichen, dass ich es gewesen bin und dass ich es zurückzahlen würde.«
»Elfengold«, sagte jemand. »Es würde sich in Luft auflösen, wenn ein anderer als sie es hielte.«
»Und wer ist der Vater ihres Kindes?«, wollte ein anderer wissen.
»Wir sollten sie zum Henker nach Chichester bringen!«, schlug jemand vor.
»Es ist Satans Kind«, kam ein tiefes Zischen aus dem hinteren Teil der Menschenmenge. »Ein von den Elfen gezeugter Junge.«
»Ihr Ehemann hat immer gesagt, dass Rob nicht von ihm stammt«, erinnerte sich jemand.
Rob sah seine Mutter entsetzt an.
»So ist es nicht!«, rief Alinor aus. »So ist es nicht! Rob ist ein guter Junge von einem schlechten Vater!« Sie wandte sich an Sir William und plapperte in ihrer Not drauflos: »Eure Lordschaft, lasst sie nicht schlecht von Rob sprechen! Ihr wisst, was für ein braver Junge er ist.« Sie drehte sich zu Ned. »Bring ihn weg«, flehte sie ihn an. »Schaff ihn fort.«
»Genug!«, rief Sir William durch die lauter werdenden Schreie, Alinor solle nach Chichester gebracht und gehängt werden. »Wir werden die Wasserprobe machen«, entschied er, in die jähe, begeisterte Stille hinein. »Im Mühlteich. Wenn sie lebendig hochkommt, ist sie in allen Anklagepunkten unschuldig, und niemand sagt je wieder etwas gegen sie. Sie zahlt Mrs Miller das Geld zurück, wie sie sagt, dass sie es vorgehabt hat. Ja? Wir unterziehen sie der Wasserprobe, um Gottes Willen zu erkennen! Das ist mein Urteilsspruch und meine Entscheidung!«
»Wasserprobe«, stimmte ein halbes Dutzend Stimmen zu.
»Ganz recht«, wurde gesagt. »Taucht sie ein.«
Ausdruckslos vor Entsetzen drehte Alinor sich zu ihrem Bruder Ned, doch der blickte zu Boden, sich vor aller Welt schämend.
»Ned, bring Rob fort«, flüsterte sie ihm zu. »Ned!«
Bei ihrem eindringlichen Tonfall fuhr sein Kopf hoch.
»Bring Rob fort!«
Ihr Flüstern weckte ihn aus seinem Elend. »Ja«, murmelte er. »Komm, Rob. Verschwinden wir von hier. Es wird alles gleich vorüber
sein.«
»Sie sollen sie nicht anrühren!«, rief Rob, der sich zwischen seine Mutter und die Menschenmenge schob, obwohl die Hexenbeschauerinnen sie packten und nicht zuließen, dass er nach ihr griff.
James fasste ihn am Arm. »Besser das, als wenn sie des Diebstahls angeklagt wird«, sagte er eindringlich. »Das hier wird gleich vorüber sein. Aber wenn man sie nach Chichester bringt, wird man sie wegen Diebstahls an den Galgen knüpfen.«
»Sir, sie kann das nicht! Der Teich ist tief. Sie kann das nicht! Ihr wisst doch …«
»Doch, ich kann es«, unterbrach Alinor ihn. Ihr Gesicht war kalkweiß, ihre Augen vor Angst riesengroß in dem aschfahlen Gesicht. »Aber geh du, Rob. Ich ertrage es nicht, dass du das hier mit ansiehst.«
Leute gingen bereits zum Mühlteich, um Seile zu holen und sie zu fesseln, voller Angst, sie zu berühren, aber sie wurden von weiteren Leuten hinter ihnen vorwärtsgedrängt. Sir William beobachtete sie finster und nickte Ned zu. »Bringt den Burschen fort«, sagte er. »Das ist ein Befehl. Er sollte es nicht mit ansehen.«
Ned packte Rob an der Schulter und zwang ihn durch das Hoftor in Richtung der Fähre, die während der Ebbe auf und ab schaukelte. »Wir werden einfach hier warten, neben der Fähre«, sagte Ned mit schroffer Stimme. »Dann werden wir zurückgehen und sie holen, wenn es vorbei ist.«
»Wie kann sie nur schwanger sein?«, flüsterte Rob seinem Onkel zu.
Ned schüttelte den Kopf. »In Schande«, war alles, was er kurz angebunden sagte.
»Aber wie kann sie es sein?«
Ned umarmte den Jungen und schob das junge Gesicht an den rauen Stoff seiner Jacke. »Bete«, riet er ihm. »Und frag mich nicht, ich
ertrage es nicht. Meine eigene Schwester! Unter meinem Dach!«
James sah den beiden nach. »Wie können wir das hier verhindern?«, wollte er eindringlich wissen.
»Das können wir nicht«, erwiderte Sir William. »Lasst sie machen. Es über die Bühne bringen.«
Alinor sah keinen der beiden Männer an, als die Menschenmenge sie umzingelte und ihre Hände hinter ihrem Rücken zusammenband. Dann trieben die Leute sie auf die Mühle zu. Sie ließ sich ohne Widerstand führen, ihr Gesicht so grünlich, dass sie bereits halb ertrunken aussah. Mrs Wheatley folgte ihnen kopfschüttelnd, Mrs Miller stürmte wütend voran.
Sie erreichten das Ufer des Mühlteiches und blickten in die grünen, unkrautbewachsenen Tiefen. Der Teich war voll, das Tidentor geschlossen; es hielt das Wasser vom Sumpf zurück, wo das Meer abfloss. Die Torflügel rieben unter dem Druck der tiefen Wassermassen aneinander, und das feuchte Holz quietschte. Der Teich war klar, wie eine tiefe Schüssel, die man neben das schlammige Watt gestellt hatte. Die alten Mauern waren glitschig und grün, am Wassertor hing Seetang, als wäre es Haar. Doch es gab keine Stufen, um in den Teich zu gelangen, und er war zu breit, um sie mit einem Seil von einer Seite zur anderen zu ziehen. Niemand wagte sich in die Nähe des Randes: Das Wasser allein war bedrohlich, seine dunklen Tiefen jetzt, im Winter, tödlich kalt.
»Wir brauchen mehr Seil!«, sagte jemand.
»Werft sie einfach so, wie sie ist, vom Ufer aus rein«, schlug jemand vor. »Und schaut, ob sie allein herauskommen kann?«
»Das Mühlrad.« Mrs Miller hatte eine boshafte Eingebung. »Bindet sie ans Mühlrad.«
Fassungslos blickte ihr Ehemann sie an. »An mein Rad?«, wollte er wissen.
»Zwei Umdrehungen!«, sagte jemand hinten in der Menge. »Bindet
sie fest und dreht es zweimal im Mühlbach. Das ist eine gerechte Probe.«
»Mein Rad?«, sagte Mr Miller abermals. Entsetzt blickte er Sir William an.
»Es dreht sich schnell?«, fragte Seine Lordschaft leise. »Ihr könnt sie eintauchen und wieder herausholen?«
»Es kann sich schnell drehen, wenn nicht gemahlen wird«, sagte der Mann. »Wenn der Stein nicht angeschlossen ist, dreht es sich so schnell, wie das Wasser hineinströmt.«
»Zwei Umdrehungen«, bestimmte Seine Lordschaft, indem er die Stimme über das aufgeregte Gemurmel erhob. »Und wenn sie lebendig hochkommt, ist sie keine Hexe. Sie zahlt das Geld zurück und wird freigelassen. Einverstanden?«
»Jawohl. In Ordnung, ja. Einverstanden«, riefen die Leute, aufgeregt angesichts der Aussicht auf eine Hexenprobe, und blickten von der schmalen Frau zu dem gewaltigen Rad, das reglos stand, die unteren Schaufeln tief im Mühlbach, die oberen Schaufeln weiß vor Frost in der eiskalten Luft.
Alinors Knie gaben nach, und sie schwankte, halb ohnmächtig vor Angst, auf den Beinen. Ihre Stimme versagte. Sie wusste kaum, wo sie war. James konnte nicht zu ihr hinsehen, während zwei der Hexenbeschauerinnen ihre gebundenen Arme an den Ellbogen ergriffen und sie vom Ufer des Mühlteiches wegschleiften, hin zur Rampe an der Seite des Rads. Die Frauen umwickelten ihre Brüste und ihren schwellenden Leib immer wieder mit einem Seil, banden ihre Röcke unten an ihren Beinen fest und fesselten sie abschließend an den Fußknöcheln.
»Es ist besser als Erhängen«, rief Sir William James in Erinnerung, als sie die Rampe neben dem Rad betraten.
»Sie hat eine Heidenangst vor Wasser«, flüsterte James.
»Trotzdem ist es besser als Erhängen.«
Mit völlig erschlafftem Körper musste sie von den Männern ans Mühlrad gehoben werden.
»Legt sie auf die Schaufeln des Rads«, schlug Mrs Miller an der Spitze der Menge vor. »Und bindet sie schön fest, damit sie nicht runterrutscht.«
Mr Miller gab dem Müllersburschen ein Zeichen, und der hielt das Rad still, indem er mit beiden Füßen darauf stieg, sich an den grünen Schaufeln festhielt und sich als Gegengewicht zurücklehnte, während man Alinor an Schultern und Beinen hochhob und sie auf eine der Schaufeln des Rads legte. Mit einem weiteren Seil wurde sie daran festgebunden.
»Stellt sicher, dass sie richtig festgebunden ist«, befahl Sir William. Zu James gewandt, sagte er: »Wir wollen nicht, dass sie herunterfällt und unter dem Rad eingeklemmt wird.«
James konnte ihren gewölbten Bauch sehen, da sie nun mit dem Rücken auf eine Schaufel gelegt worden war, die zweite Schaufel nur Zentimeter über ihrem Gesicht, ihre goldenen, zerzausten Haare lose über dem Grün der unkrautüberwucherten Holzschaufeln. Sie schrie nicht oder rief um Hilfe. Seit sie Rob fortgeschickt hatte, hatte sie überhaupt keinen Ton mehr von sich gegeben. Ihm wurde bewusst, dass ihr der Schrecken die Sprache verschlagen hatte.
»Los«, sagte Sir William zu Mr Miller. »Dann macht mal.«
Der Müller drehte sich ruckartig um. »Ich öffne jetzt die Hauptschleuse«, sagte er laut, um Alinor vor dem jähen Donnern des Wassers zu warnen, als er den großen Metallschlüssel drehte, der das Tor vom Teich zum Mühlbach unter dem Rad anhob.
Die Wasserkaskade, die in den Bach stürzte, entrang Alinor ein leises Schluchzen, doch niemand außer James hörte sie. Jetzt konnte sie das eisige Wasser riechen, das rasch unter dem Rad anstieg, den grünen Unkrautgeruch des Sumpfes, den kriechenden kalten Atem der heranstürzenden eiskalten Wassermassen. Sie spürte, wie das Wasser
unter ihr immer höher anstieg. Bald schon würde der Mühlbach voll sein, und dann würde der Müller den Abfluss zum Sumpf öffnen und die Bremse des Rads lösen. Das Wasser würde durch den Mühlbach hinaus in den Sumpf strömen, und das Mühlrad würde sich drehen und sie nach unten ins Wasser mitnehmen.
»Bereit!«, rief Mr Miller aus dem Innern der Mühle.
Der Müllersbursche nahm sein Gegengewicht vom Rad, und es bewegte sich ein wenig, ließ Alinor in Richtung des Wassers absacken. Die Menge stieß aus lauter Vorfreude ein leises Raunen aus.
»Macht schon«, sagte jemand.
»Dreht das Rad!«, rief Sir William Mr Miller in der Mühle zu.
Sie vernahmen seine gerufene Antwort. »Ich drehe jetzt!«
»Nein!«, sagte James. Er trat auf die Schaufel des Rads zu, wo sich ihr helles Haar im Wind hob. »Alinor!«, rief er ihr zu.
Zum ersten Mal an dem Tag drehte sie den Kopf und sah ihn direkt an, doch er erkannte an ihrem gequälten Gesicht, dass sie ihn nicht hören, ihn nicht sehen konnte. An das Mühlrad gefesselt und mit der größten Angst ihres Lebens konfrontiert, war sie blind für ihn und hörte weder die Kaskade hereinströmenden Wassers noch das Knarren des Rads, als es sich zu drehen begann und sie nach oben hob.
Gelähmt beobachtete James ihre unaufhaltsame Fahrt zum Scheitel des Rads und dann ihren Abstieg auf der anderen Seite. Er ging zwei Schritte zur Rückseite und sah ihren verängstigten Blick, als sie auf das strömende Wasser unter sich zusteuerte. Dann fuhr sie nach unten, in den schmalen, schäumenden Mühlbach, und er sah, wie sich ihr Haar um ihr weißes Gesicht schlängelte, während sie immer weiter nach unten absank. Dann knarrte das Rad auf grauenhafte Weise und blieb stehen. Es drehte sich nicht mehr, sondern hielt sie unter Wasser. Für einen langen Moment trat Schweigen ein.
»Gottes Wille«, flüsterte jemand ehrfürchtig. »Gott hat das Rad angehalten, um die Hexe zu ertränken.«
»Nein! Nein! Es ist das Gewicht!«, rief der Müller aus dem Innern der Mühle. »Es ist ihr Gewicht unten am Rad.« Er kam aus der Mühle gesprungen, während sich alle drängten, um einen Blick auf ihre goldenen Haare in dem strömenden Wasser zu erhaschen, das an dem Rad vorbei nach draußen ins Meer floss.
James begriff und stürzte sich hinten auf das Rad, hielt sich mit den Händen fest, während seine Füße abrutschten. Er klammerte sich verzweifelt an die Schaufeln, die es kreisen ließen. Er spürte, wie das Rad nachgab, und dann drehte es sich langsam wieder, im steten herumwirbelnden Strom des Wassers, und hob dann eine Schaufel nach der anderen. Langsam stieg die ertrinkende Frau aus den Tiefen empor.
Er trat zurück. Jetzt gewann das Rad an Fahrt. Sie passierte die Oberseite des Rads und fuhr wieder an ihm vorbei, und er sah kurz ihr weißes, von der Wasserpest gestreiftes Gesicht, das Wasser, das aus ihrer Kleidung, ihren Stiefeln, ihrem offenen Mund strömte. Über dem schrecklichen Brüllen des Rads vernahm er ihr würgendes Husten und ihr verzweifeltes Japsen, und dann wurde sie wieder unter Wasser getaucht und verschwand.
Das sich im schäumenden Wasser schneller drehende Rad riss sie auf der anderen Seite hoch, der Müllersbursche schloss die Schleuse, um das Wasser zurückzuhalten, und Mr Miller, im Innern der Mühle, klemmte den Mahlstein fest, um das Rad mit Alinor auf halber Umdrehung zum Stillstand zu bringen. In ihrem Haar war Seetang, Meereswasser strömte aus ihrem offenen Mund, ihre Augen waren schwarz vor Entsetzen, ihr Kleid an ihren spannenden Bauch geklatscht. Mr Miller kam aus der Mühle, sein Gesicht düster vor Zorn. Er zog ein kräftiges Arbeitsmesser aus seinem Stiefel und durchschnitt die Stränge, die sie an die Schaufel des Rads fesselten. Wie ein Sack Mehl zog er sie zu sich, warf sie sich über die Schultern und trat von dem Rad zurück. Die in Ehrfurcht erstarrte Menge teilte sich, um ihm
Platz zu machen, als er sie von dem Rad zum Hof der Mühle wegtrug und wie einen durchnässten Sack mit dem Gesicht nach unten auf die Kopfsteine fallen ließ.
Mrs Wheatley schlang eine Stalldecke um Alinor, während diese würgte und dreckiges Wasser erbrach, immer wieder würgte, zu ersticken drohte und um Luft rang.
»Sie ist also keine Hexe.« Sir William kletterte von der Mühlenrampe, um über der würgenden Frau zu stehen. In seinem herrischsten Tonfall wandte er sich an seine Pächter. »Sie hat die Probe überlebt. Was den Diebstahl betrifft: Ich bestimme, dass sie Mrs Millers Ersparnisse geliehen hat, in der Absicht, sie zurückzuzahlen, und ihr zum Pfand Münzen dagelassen hat. Dies wird sie tun, und ich werde es garantieren. Es ist bewiesen worden, dass Mrs Reekie der Hexerei unschuldig ist. Wir haben sie einer gerechten Probe unterzogen, sie ist keine Hexe.«
»Amen«, sagten die Leute, so fromm, wie sie zuvor verängstigt gewesen waren.
»Was ist mit dem Kind?«, wollte Mrs Miller wissen. »Sie ist zweifellos eine Hure.«
»Kirchengericht«, bestimmte Sir William rasch. »Nächsten Sonntag.«
Das Geräusch eines Wagens lenkte alle ab. Es war der Wagen der Stoneys mit Alys auf der Sitzbank, ihr Bruder Rob neben ihr, Ned hinten. Alys fuhr den Wagen auf den Hof zu der Stelle, wo ihre Mutter lag, zusammengeschnürt auf den Kopfsteinen, in die Pferdedecke gewickelt, klitschnass und umgeben von Nachbarn, die sie nicht anfassen wollten. Alys reichte die Zügel Rob, sprang vom Wagen und stürmte an Sir William vorbei, als wäre er ein Niemand. Sie kniete sich an die Seite ihrer Mutter und hob sie an. Alinor konnte nicht stehen, aber Mr Miller ergriff einen Arm, und Alys nahm den anderen. Niemand sonst regte sich. Zusammen schleiften sie sie, während sie
immer noch würgte und grünes Wasser erbrach, zu dem wartenden Wagen hinüber, wo Ned die Hände nach ihr ausstreckte und sie wie einen gestrandeten Fisch hinten hochlud und auf die Seite legte, damit sie Wasser ausspucken konnte.
»Mrs Reekie ist von der Hexerei freigesprochen«, erklärte Sir William laut. »Sie ist unschuldig.«
Alys sah ihn und James mit ihren vor Wut lodernden blauen Augen an. »Einverstanden«, zischte sie durch die Zähne, dann schnalzte sie dem Pferd zu, und sie fuhren vom Hof.
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Als James in der frühen winterlichen Dämmerung zurück zur Propstei ritt, erspähte er einen schmalen Streifen Feuerschein durch die geschlossenen Fensterläden des Fährhauses. Er hielt sein Pferd an, band die Zügel ans Tor und klopfte an die Küchentür. Alys machte auf, eine Hornlaterne in der Hand.
»Ihr«, sagte sie kurz angebunden.
»Wie geht es Eurer Mutter?«
»Sie hat aufgehört, Wasser zu erbrechen. Aber sie stirbt vielleicht an Vergiftung durch das dreckige Wasser, oder sie wird möglicherweise eine Fehlgeburt erleiden und verbluten.«
»Alys, es tut mir so leid, dass …«
Der hasserfüllte Blick, den sie ihm zuwarf, hätte jeden Mann zum Schweigen gebracht. Zuerst sagte er nichts, dann: »Bitte richtet Ihr meine guten Wünsche für ihre Genesung aus. Ich werde morgen kommen und …«
»Das werdet Ihr nicht. Ihr werdet mir einen Geldbeutel mit Gold für sie geben«, sagte sie leise. »Sie wird von hier fortgehen. Ich gehe mit ihr. Wir gehen nach London und werden ein Fuhrgeschäft eröffnen. Ihr kauft uns ein Lagerhaus mit einer Wohnmöglichkeit. Ich habe den Wagen und das Pferd von der Familie meines Ehemannes genommen.
Morgen in der Dämmerung werden wir aufbrechen, wir werden ein Geschäft gründen und unseren Lebensunterhalt selbst bestreiten.«
Die Autorität der jungen Frau verblüffte ihn. »Ihr verlasst Euren Ehemann?«
»Das ist eine Sache zwischen ihm und mir. Ich bin Euch keine Erklärungen schuldig. Wir werden nie wieder zurückkommen. Ihr werdet sie nie mehr wiedersehen.«
»Ihr wisst, dass es mein Kind ist.«
Sie schüttelte den Kopf. »Eure Rechte habt Ihr verwirkt, als Ihr zugelassen habt, dass man die Mutter Eures Kindes ans Mühlrad bindet und sie unter Wasser taucht.«
»Ich muss ihr sagen …«
»Nichts. Ihr habt ihr nichts zu sagen. Ihr habt zugesehen, wie Eure Geliebte der Hurerei angeklagt und wegen Hexerei der Wasserprobe unterzogen wurde. Euch bleibt nichts zu tun, als mir das Geld zu geben, das ich verlange, oder ich werde der ganzen Welt sagen, dass Ihr der Mann seid, der ihr Gewalt angetan hat. Ich werde Euch als Schänder von Frauen bezeichnen, und Ihr werdet in Ungnade fallen, genau wie sie in Ungnade gefallen ist. Ich werde bekannt geben, dass Ihr ein papistischer Spion seid, und ich werde dafür sorgen, dass Ihr vor der Kathedrale von Chichester verbrannt werdet.«
»Es war besser, dass sie einer Wasserprobe als Hexe unterzogen wurde, als als Diebin gehängt zu werden!«
»Ich bin diejenige, die als Diebin hätte erhängt werden sollen!«, fuhr sie ihn zornig an. »Ich schulde ihr mein Leben, genau wie Ihr ihr Eure Ehre schuldet. Sie hat mein Geheimnis und Eures bewahrt, und es hat sie beinahe das Leben gekostet.«
Bei dem Gedanken, welche Geheimnisse sie für ihn bewahrt hatte, atmete er tief durch.
»Aus Liebe zu uns«, sagte Alys durch die Zähne. »Weil sie Euch und mich so sehr liebt, hat sie sich für uns ihrer größten Angst gestellt, und
sie ist beinahe für uns gestorben. Ich werde es ihr mit meiner Liebe vergelten. Und Ihr werdet auch bezahlen. Ihr werdet für das Kind bezahlen, dass sie aus Liebe zu Euch unter dem Herzen trägt, Ihr werdet für Euren Verrat bezahlen, und Ihr werdet für unser Schweigen bezahlen. Das ist einen Beutel Gold wert. Und Ihr werdet jetzt gehen und es auf der Stelle herbringen.«
»Ich muss sie wiedersehen«, sagte er verzweifelt.
Das Mädchen war wie eine Furie. »Ich würde Euch eher die Augen ausstechen und Euch blenden, als dass Ihr sie wiedersähet«, versprach sie. »Geht und holt das Geld! Legt es vor die Tür und verschwindet!«
»So viel Geld habe ich nicht.«
»Dann stehlt es«, fuhr sie ihn an. »Das habe ich auch getan.«
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Es war eine kalte Morgendämmerung im Watt, die Flut kam rasch über die verschneiten Schilfgräser und vereisten Pfützen herein, die Möwen schrien weiß vor dem grauen Licht. Eine Schleiereule im Pirschflug zeichnete sich hell vor der dunklen Hecke ab und wurde dann unsichtbar vor dem gefrorenen Uferdamm. Ein paar Schneeflocken rieselten aus den zinnfarbenen Wolken, als Alys ihrer Mutter auf den Sitz des Wagens half und neben sie kletterte.
Alinor zitterte vor Kälte, und sie hustete ununterbrochen in den Saum ihres Umhangs. Auf ein Schnalzen von Alys setzte sich das Pferd in Bewegung, und sie brachen nach London auf.