69. Tag der Erntezeit, 17. Jahr der Kuppel
Rami verschloss den Deckel des Kupfertopfs mit einem Bolzen und trat vom Ofen zurück. Das Herz klopfte ihm aus zweierlei Gründen bis zum Hals: Erstens würde sich gleich zeigen, ob seine Berechnungen von Erfolg gekrönt waren, und zweitens hoffte er, den richtigen Moment abgepasst zu haben. Die alte Lörna von nebenan hatte das Haus mit einem Korb unter dem Arm verlassen, was darauf hindeutete, dass sie zum Einkaufen auf den Markt gegangen war. Und Pengin, der Säufer vom Stockwerk über ihm, hatte eine neue Lieferung Starkbier von einem befreundeten Grauwarenhändler erhalten. Im besten Fall lag er schon im Delirium und bekam nicht mehr mit, was um ihn herum geschah.
Angespannt tunkte Rami die Finger in das kleine Aschebecken, das neben seiner Wohnungstür an der Wand hing, und rieb sie über sein kahles Haupt. Alle Vertreter seines Volkes besaßen eine solche Schale in der Nähe der Eingangstür, damit andere Aschlinge gleich nach dem Betreten Stirn und Kopf beaschen konnten. Rami verabscheute diese Tradition, weil sie im Grunde an Selbstverachtung grenzte, doch in einem Moment wie diesem besann er sich vorsichtshalber auf die Bräuche seiner Vorfahren. Und das, obgleich er als aufmüpfig verrufen war. »Zündfunke« hatte der oberste Priester Dulgam ihn vor kurzem genannt, was unter seinesgleichen als schlimmstmögliche Beleidigung galt, da niemand außer ihrer Gottheit mit Feuer experimentieren durfte. Ein Aschling, der nicht bescheiden war, sondern von Abenteuern und Fortschritt träumte, würde sich eines Tages von innen heraus selbst entzünden, behauptete der Priester.
Das trockene Holz im Herd steckte die Extraladung Kohlen in Brand. Rami liebte das Geräusch: dieses gierige Prasseln, das den Eindruck erweckte, als wolle es die ganze Stadt verzehren, jeden Dachstuhl zum Einsturz und jeden Umhang, egal welcher Farbe, zum Lodern bringen. Das Lied des Feuers war eine göttliche Melodie, zu erhaben für die Ohren einfacher Aschlinge, weshalb es nicht gern gesehen war, dass einer der Ihren ein so großes Feuer entfachte. Eine Handvoll glühender Kohlen wurde geduldet – alles andere galt als unschicklich.
Der Kupfertopf fing den Rhythmus auf und begann, sich im Takt zu wiegen. Klappernd tanzte er auf dem Ofen, blies feine Schwaden Rauch an den Seiten heraus. Die Mischung aus Teer und Bienenwachs zwischen Topf und Deckel dichtete offenbar immer noch nicht gut genug ab. Aber zumindest saß der Bolzen fest, und der Inhalt brodelte hörbar. Blei, Öl, Felsensalz und Schwefel. Das waren die Zutaten, mit denen Rami am liebsten kochte. Sein Ziel: flüssiges Feuer erschaffen. In seinen Träumen war er selbst der Vulkan, der dieses Wunder vollbrachte. Dabei ging es ihm weder darum, Macht und Geld anzuhäufen, noch wollte er Kriegsgeräte entwickeln. Nein, dieser namenlose Drang, der seine Studien befeuerte wie Funken den Zunder, entsprang der hintersten Kammer seines Herzens.
Das Prasseln schwoll an, das Lied des Feuers steuerte auf seinen Höhepunkt zu. Der Topf hüpfte. Rami duckte sich in seine Ecke.
O großer Zünder, steh mir bei!
Der markerschütternde Knall, der einen Herzschlag später durch die Wohnung fegte, brachte sein Trommelfell zum Vibrieren. Durchdringendes Pfeifen machte sich in seinen Ohren breit. Rami spürte einen Windzug an seiner Schläfe, die Wand vibrierte, und der Aschebehälter fiel zu Boden. Als er den Kopf zur Seite wandte, bemerkte er, dass der Bolzen seines Kupfertopfes nur einen Fingerbreit neben ihm eingeschlagen hatte. Er steckte bis zum Anschlag im Mauerwerk.
Weißer Rauch flutete den Raum. Hustend, den Ärmel seiner grauen Kutte vor Mund und Nase gepresst, lief Rami zum einzigen Fenster und riss es auf. Noch während er dort stand und den abziehenden Rauchschwaden nachsah, fiel ihm die dürre Gestalt auf, die direkt neben dem Fenster stehen geblieben war und mit einer Hand den Qualm beiseitewedelte. In der anderen hielt sie einen Korb.
»Lörna … schönen guten Abend!«, rang Rami sich ab. Wolltest du nicht auf den Markt gehen?
Seine Nachbarin kam einen Schritt näher und starrte auf ihn herab. Aus gutem Grund lag seine Behausung im Keller, denn nur dieser bestand aus feuerfestem Gestein. Darüber war das Haus aus Fachwerk erbaut, dessen Bestandteile – Holz, Lehm und Stroh – nichts anderes als ein natürliches Zundernest darstellten. Es geschah öfter, dass er Rauchschwaden wie diese loswerden musste. Kamen sie aus dem Untergrund, so hielten Unbeteiligte sie für die Abluft einer Waschküche oder eines Räucherkellers. In einer so zwielichtigen Gegend wie dem überwiegend von Aschlingen bevölkerten Kehrrichtviertel auf dem Staubring scherten die meisten Bewohner sich nicht um eine gelegentliche Rauchbelästigung aus einem Kellerfenster.
Lörna jedoch war zwar alt und gebrechlich, aber nicht auf den Kopf gefallen. Ihre Nasenflügel kräuselten sich, sie sog tief Luft ein. »Was hast du wieder angestellt, Rami Verglimm? Es stinkt nach faulen Eiern!«
Er lachte so ungezwungen wie möglich. »Ach, du weißt doch, wie wir Junggesellen sind! Vergessen, den Topf vom Herd zu nehmen, geben nicht genug Wasser hinein … und schon ist das Abendessen im Eimer.«
»Du lässt aber auch alles anbrennen!«, keifte die Alte. »Und wieso kochst du überhaupt dauernd? Das ist unschicklich. Ein ehrenhafter Aschling isst kalt.« Wie es sich für ihr Volk geziemte, trug sie Asche auf dem Haupt, doch bei Lörna waren es nicht nur zwei artige Striche über Scheitel und Stirn, sondern es sah aus, als hätte sie ihre Hände vollständig in Ruß getaucht und sich dann eine Kopfbedeckung damit gemalt – oder Haare, wie die meisten Menschen sie hatten. Diese Art der Beaschung wählten nur die gläubigsten und bescheidensten Vertreter ihrer Rasse. In der Regel steckte irgendeine Form von Wichtigtuerei dahinter.
»Tja, so ist das wohl, leider. Ich sollte mir ein Weib suchen, damit sie mir die Flausen austreibt.« Er schnappte sich einen Lappen vom Fenstersims und wedelte weiteren Rauch nach draußen.
Lörna hob ihr spitzes Kinn an. »Das solltest du wohl. Bist langsam über der Zeit, nicht wahr?«
»Nun ja, ich bin zarte hundertdreiunddreißig. Manch einer hat seine große Liebe erst in seinen Zweihunderten getroffen.«
»Pah, das sagst du nur, weil du keine findest, die sich an einen wie dich binden will. Wie hat der Priester dich neulich genannt?« Sie verdrehte die Augen und gab vor zu grübeln, dabei war ihnen beiden klar, welches Wort ihr auf der Zunge lag. Sie wollte es lediglich noch eine Weile auskosten, bevor sie es über ihre schmalen Lippen spuckte. »Zündfunke, das war’s!« Lörnas runzeliges Gesicht legte sich in hämische Lachfalten. »Weil du mit einem Messer an der Anbetungsfigur herumgekratzt hast. Wieso hast du so etwas Lästerliches getan?«
Rami seufzte. Die Wahrheit zu sagen kam nicht in Frage, denn sonst würde jeder wissen, dass er in seinem als Wohnstatt getarnten Laboratorium mit Felsensalz experimentierte. Und genau dieses seltene Material entsprang der Statue des Gottes im Tempel. In zahlreichen einsamen Nächten lag Rami wach und dachte darüber nach, wer wohl jener unbekannte Bildhauer gewesen war, der den Zünder einst geschaffen hatte, und wie viele erregende Funken sein Meißel geschlagen haben musste, als er auf den Stein getroffen war. Tatsache war: Dieser Stein sonderte weiße Ablagerungen ab, die – in der passenden Mischung mit anderen Substanzen – ein immens großes Feuer erzeugten.
In Ermangelung einer besseren Ausrede benutzte er dieselbe wie gegenüber dem Priester, nachdem dieser ihn erwischt hatte: »Ich wollte die Statue nur reinigen. Es ist unwürdig für einen Gott, wenn seine Füße von weißem Staub beschmutzt sind, findest du nicht?«
Lörna rümpfte die Nase, die beinahe ebenso spitz auslief wie ihre Ohren. Alle Aschlinge wiesen diese Merkmale auf, die sie – neben ihrer Kleinwüchsigkeit und der gräulichen Hautfarbe – von den Menschen unterschieden. Es war kein Zufall, dass ein Volk wie das ihre, das nicht nur klein und fahl aussah, sondern sich auch noch freiwillig in Demut und Bescheidenheit übte, in Grubenstedt als Bücklinge missbraucht wurde. Beinahe jeder Aschling war Bediensteter auf einem der höher gelegenen Ringe. Auch in diesem Fall bildete Rami eine Ausnahme.
»Gib doch zu, dass du das Zeug auf dem Graumarkt verkaufen wolltest«, stichelte Lörna. »Ich weiß genau, dass du frevelhafte Dinge tust, um an Geld zu kommen.«
Mit dieser Annahme lag sie nicht ganz falsch, aber um seiner eigenen Unversehrtheit willen würde Rami ihr das nicht auf die Nase binden. Seufzend zuckte er mit den Schultern. »Du weißt doch, dass ich meinen Lebensunterhalt als Heiler bestreite.«
»Pah!« Sie wedelte mit einem knochigen Finger. »Die paar Hungerleider, die zu dir kommen! Ich weiß, dass du die meisten umsonst behandelst, weil sie keinen einzigen Kupferpfennig in den Taschen haben.«
Das Gespräch nahm eine Richtung, die Rami nicht behagte. Eines Tages würde er wegen dieser geschwätzigen Nachbarin, die ihre Augen und Ohren überall zu haben schien, sein Laboratorium aufgeben und sich eine neue Bleibe suchen müssen. Ein Jammer, denn das heruntergekommene Häuschen in der hintersten Reihe des Staubrings war so wunderbar unauffällig.
Er fächelte die letzten Rauchschwaden nach draußen und nickte Lörna noch einmal zu. »Tut mir leid, werte Nachbarin, aber wenn ich noch länger lüfte, hängen bald Eiszapfen an meiner Zimmerdecke. Gute Nacht«
»Eiszapfen? Zur Erntezeit? Dass ich nicht lache! Du willst nur nicht weiter darüber reden, was du –«
Er schloss das Fenster, bevor der Rest ihrer Gehässigkeiten ihn erreichte.
Wohlige Stille erfüllte den Raum, gewürzt mit dem Aroma fauler Eier.
Rami ging zum Ofen und suchte nach den Einzelteilen seines Experiments, was gar nicht so einfach war, denn der Kupfertopf war in Dutzende Stücke zersprungen, die sich kreuz und quer im Raum verteilt hatten. Er hob eines davon auf und besah sich die grauschwarzen Überreste, die daran klebten. Den Bleiklumpen fand er nirgendwo. Eifrig setzte er sich an den Tisch und zückte eine Schreibfeder.
Das Blei scheint sich in Luft aufgelöst zu haben, notierte er auf ein Stück Pergament. Flüssiges Feuer nicht erreicht. Beim nächsten Experiment Zucker hinzugeben!
Zucker war ein Problem, denn diese seltene Arznei wurde zu hohen Preisen gehandelt und vorwiegend an Heiler aus den oberen Ringen abgegeben, die damit Leiden wie Melancholie, Verstopfung und Unfruchtbarkeit kurierten. Doch vor einiger Zeit hatte Rami einen Löffel davon erstanden und beschlossen, es mit dem Felsensalz zu mischen, da beide Substanzen ein ähnliches Aussehen aufwiesen. Der Erfolg war umwerfend gewesen: Ein so lichterloh brennendes Feuer hatte Rami selten entfacht. Dafür hatte er die Brandblasen an seiner rechten Hand gern in Kauf genommen. Sie heilten bei Aschlingen ohnehin innerhalb kurzer Zeit.
Etwas besser verhielt es sich mit Schwefel, der glücklicherweise auch im Staubring zu bekommen war, da viele Bewohner Grubenstedts ihn zur Haltbarmachung ihrer Nahrungsmittel verwendeten. Rami erstand ihn stets mit der Behauptung, damit Leidende von Albträumen, Hautkrankheiten und Zeckenbissen zu heilen.
Er ging zurück zum Fenster und vergewisserte sich, dass Lörna verschwunden war, dann zog er das Schaffell auf dem Boden zur Seite und öffnete die darunterliegende Falltür. Mit einer Lampe in der Hand stieg er die Leiter in die geheime Kammer hinab, wo er nicht nur die Niederschriften seiner bisherigen Experimente aufbewahrte, sondern auch den Großteil jener Zutaten und Gerätschaften, die ein bescheidener Aschling eigentlich nicht besitzen sollte. Auf dem Grubenstedter Graumarkt entlang der Bresche kaufte Rami alles auf, was ihm neu und interessant erschien: Sanduhren aus Arakim, ein Destilliergerät aus Evenstein, geheimnisvolle Kristalle aus Xafror, die beim Hindurchblicken selbst kleinste Sandkörner vergrößerten. Und jede Menge Metallreste, die in der Stadt besonders hoch gehandelt wurden. Für diese Dinge gab Rami das gesamte Geld aus, das er als Heiler verdiente, wobei sich seine Einkünfte in Grenzen hielten. Lörna hatte recht, wenn sie behauptete, er würde die meisten Siechen für ein dankbares Lächeln heilen, aber einige bezahlten ihn auch ordentlich. Je dicker die Geldbörsen der Kranken, desto höher wurden Ramis Preise. Und dann gab es da noch jene zweite Profession, der er nur im Geheimen nachging, die jedoch den einen oder anderen Silberpfennig extra einbrachte …
Er legte die Einzelteile des zerbrochenen Topfes in eine Kiste und gab seine Aufzeichnungen hinzu. Noch während er seine spärlichen Vorräte an Felsensalz und Zucker überprüfte, ertönte ein zaghaftes Klopfen an der Haustür im Geschoss über ihm.
Verflixt. Lörna gibt einfach nicht auf.
Vielleicht sollte er das Klopfen ignorieren. Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, und anständige Aschlinge bereiteten sich zu dieser Tageszeit auf den abendlichen Opfergang im Tempel vor. Sicherheitshalber stieg er dennoch die Leiter nach oben, schloss geräuschlos die Falltür und legte das Schaffell wieder darauf.
Es klopfte erneut, diesmal lauter. Wer auch immer vor seiner Tür stand, hatte offenbar nicht vor, sich leicht abwimmeln zu lassen.
»Wer da?«, fragte Rami leise.
»Ein Kunde«, wisperte eine männliche Stimme von außerhalb.
»Ich verkaufe nichts. Ihr müsst Euch in der Tür geirrt haben.«
»Seid Ihr Rami Verglimm, der Heiler?« Der Besucher klang gehetzt und unsicher.
Eine beklemmende Vermutung stieg in Rami auf. Leute, die nach einem Heiler suchten, pflegten sich als Kranke oder Sieche zu bezeichnen, nicht als Kunden. Sie fragten direkt nach Hilfe und plapperten ihre Krankheitsgeschichte bereits im Flur heraus. Dieser Mann dort draußen aber schien etwas anderes von ihm zu wollen. Etwas Verbotenes.
»Welches Leiden plagt Euch?«, fragte er durch die Tür.
»Eine verletzte Hand.«
Das wiederum hörte sich unverdächtig an, denn verletzte Hände konnte man in der Regel auf herkömmliche Weise behandeln. Finger einrenken, Knochen schienen und Wunden säubern – dafür war keinerlei unheilsame Magie nötig. Vielleicht hatte er sich in dem Besucher getäuscht, und es handelte sich wirklich nur um einen Grubler, der sich beim Schürfen in den Minen den Schlägel auf den Daumen gehauen hatte.
Sein Bauchgefühl riet ihm dennoch dazu, den Mann abzuwimmeln. »Ich wollte mich bereits zur Ruhe begeben.«
»So lasst mich doch ein! Ich brauche Hilfe«, flehte dieser, als wüsste er genau, wie man einen Aschling zum Einlenken brachte: nämlich durch klar demonstrierte Bedürftigkeit.
So selbstgefällig und anmaßend die Menschen gemeinhin waren, so sehr wussten sie ihre Lakaien zu schätzen, sobald es ihnen schlecht ging. Die wenigsten Aschlinge vermochten sich in einem solchen Moment zu verweigern, da sie von Natur aus mit einer übergroßen Portion Anteilnahme und Einfühlungsvermögen ausgestattet waren. Und vielleicht auch deshalb, weil sie sich den Menschen dann ausnahmsweise einmal überlegen fühlten.
»Nun gut«, murmelte Rami, zog den Riegel zurück und öffnete die Tür.
Davor stand ein hagerer Mann mittleren Alters. Er hatte rote Haare und einen unruhig flackernden Blick. Ohne Aufforderung schob er sich in den Raum, wo er stehen blieb und misstrauisch die immer noch schwefelhaltige Luft einsog. »Danke fürs Einlassen. Mein Name ist Woulf. Ich hoffe, du kannst mir helfen.«
Kaum siehst du mir in die Augen, ist es mit der förmlichen Anrede vorbei, dachte Rami verdrossen. Er schloss die Tür, blieb aber knapp davor stehen. Als Aschling hielt man besser Abstand zu Menschen, denn je näher man ihnen kam, desto mehr musste man zu ihnen aufblicken. Und dieser Kerl hier war selbst für seinesgleichen recht hochgewachsen. Genau auf Aschlings-Höhe jedoch baumelte die verletzte Hand an der Hüfte des Mannes. Rami musste nur einen kurzen Blick darauf werfen, um zu erkennen, dass es sich bei der »Verletzung« keineswegs um einen angeschlagenen Daumen handelte, sondern um eine äußerst seltsame Form der Fäulnis. Auch schien dieser Woulf aus einem höher gelegenen Ring zu stammen, er war schlicht zu sauber für einen Grubenarbeiter. Rami tippte auf Kupfer- oder Bronzering. Es konnte nur einen Grund geben, weshalb sich dieser Mann nach Einbruch der Nacht im Kehrrichtviertel des Staubrings herumtrieb.
»Ich suche einen Unheiler«, gab Woulf unumwunden zu und reckte ihm seine Hand hin.
»Da seid Ihr bei mir leider falsch. Ich biete alltägliche Gebrauchsheilung an. Alles andere ist verboten, wie Ihr sicher wisst, da es dem magischen Schutzschild, der Grubenstedt vor äußerem Unheil bewahrt, Energie entzieht.« Rami verschränkte die Arme vor der Brust.
»Das ist mir bewusst. Doch offenbar habe ich mir eine Krankheit eingefangen, die sich auf normalem Wege nicht behandeln lässt. Ich war bei zahlreichen Heilern, doch keiner konnte mir helfen. Die graue Haut breitet sich immer mehr aus. Du bist mir empfohlen worden.« Der Rothaarige kam einen Schritt näher, woraufhin Rami den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm weiter in die Augen zu sehen, und streckte ihm seine gräulichen Finger entgegen. Wäre der Besucher ein Aschling gewesen, so bestünde kein Grund zur Beunruhigung, doch Menschen nahmen diese Hautfarbe für gewöhnlich erst an, nachdem sie gestorben waren.
»Was soll denn passieren, wenn der Schild für einen kurzen Augenblick flackert? Wir befinden uns nicht im Krieg. Es wird schon kein feindliches Heer angreifen, und der Blutsturm ist noch fern.«
»Es tut mir leid, Herr«, widersprach Rami. »Solche Praktiken gehören nicht zu meinem Angebot.«
Woulf zog die Hand zurück. In seiner Miene spiegelte sich eine Mischung aus Enttäuschung und Verzweiflung. Er schien wahrhaftig geglaubt zu haben, er könnte hier einfach reinspazieren und bekäme eine schnelle Lösung für sein Problem präsentiert. Als stünde nicht die Todesstrafe auf Unheilerei.
Ruhelos trat er von einem Bein auf das andere, dann begann er, im Zimmer auf und abzulaufen. Dabei murmelte er Flüche vor sich hin, wie Rami sie allenfalls von kleinen Kindern kannte: »Verflixt und zugenäht, was für ein vermaledeiter Hühnermist!« Gleich darauf schlug er sich die gesunde Hand vor den Mund und schüttelte den Kopf, als wäre er entsetzt über seine eigene Aussage. Sollte er ein Spion der Schildwache sein, so spielte er seine Rolle ziemlich gut.
Vor dem Ofen blieb er stehen und wandte den Blick nach oben. Seine hellroten, kaum erkennbaren Augenbrauen wanderten aufeinander zu. »Was steckt denn da in deiner Decke?«
Rami folgte dem Fingerzeig und musste zu seinem Erschrecken feststellen, dass der verlorene Bleiklumpen seines letzten Experiments sich wohl doch nicht in Luft aufgelöst hatte. Stattdessen hatte er ein faustgroßes Loch in die Decke geschlagen, den Putz durchdrungen und steckte nun in dem Holzspalier fest. Interessanterweise hatte er jedoch seine Form geändert und sah jetzt aus wie eine von grauer Patina überzogene Sichel.
Merke: Explodierendes Blei schwitzt Asche aus. Blei-Asche!, geisterte die Erkenntnis durch Ramis Kopf. Doch dies war nicht der Augenblick für wissenschaftliche Beobachtungen. Jetzt galt es erst einmal, diesen seltsamen Woulf loszuwerden, der auf dem besten Weg war, ihn zu entlarven.
Er versuchte, sich auf die üblich devote Weise herauszureden. »Nur ein misslungener Kochversuch. Wir Aschlinge sind nicht sehr erfahren in solchen Sachen. Und ich habe kein Weib, das mir –«
Woulf fuhr herum und zeigte auf den Bolzen, der neben der Tür in der Wand steckte. »Und das hier? Und der Aschbecher auf dem Boden? Ist das nicht ein heiliges Objekt von euch Grauhäuten, das man nicht einfach so herumliegen lässt? Nach Schwefel stinkt es auch noch. Komme ich vielleicht gerade ungelegen, Unheiler ?«
Abwehrend wedelte Rami mit beiden Händen. »Das ist alles mit den täglichen Herausforderungen eines Junggesellen zu erklären, der es mit der Gläubigkeit seines Volkes nicht so genau nimmt.«
»Oder mit den frevelhaften Machenschaften eines Aschlings, der verbotene Dinge tut.«
»Und genau nach einem solchen Exemplar sucht Ihr – was ebenfalls verboten ist.«
Einige Herzschläge lang starrten sie einander an, unsicher, ob man dem anderen trauen konnte. Dann nahm Woulf einen tiefen Atemzug, griff in seinen Beutel und zog einen glänzenden Silberpfennig daraus hervor.
»Bitte!«, sagte er, was ein äußerst seltenes Wort aus dem Mund eines Menschen war. »Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll, außer mir die Hand abzuhacken. Und wenn ich das mache, kann ich nicht mehr richtig kochen und servieren – ich werde als einhändiger Bettler enden.«
Rami betrachtete ihn. Der unsichere Blick seiner hellblauen Augen, die feinen Lachfältchen um seinen Mund, die hohe Stirn. Dieser Mann war kein muskelbepackter Bulle wie die meisten Schildwachen und Söldner, sondern eher lang und schlaksig. Er wirkte ehrlich, doch das taten alle guten Spitzel. »Ihr arbeitet in einem Gasthaus?«, fragte er scheinbar beiläufig.
»Ja. Es gehört mir sogar.«
»Welches?«
Nun zögerte Woulf. Offenbar misstraute er Rami ebenfalls. » Zur Knospe. Kupferring, direkt an der Bresche, neben dem Schnarcher. «
»Ah. Nie gehört.« Wie sollte er auch. Seinesgleichen verschlug es nur selten in die oberen Ringe. Und wenn doch, dann sicherlich nicht zum Biertrinken. »Ein Silberpfennig ist zu wenig. Dafür begebe ich mich nicht in eine derartige Gefahr.«
»Ich bin ein nahezu mittelloser Mann«, jammerte der Fremde, und zumindest diesmal schauspielerte er schlecht.
»Ihr besitzt ein ganzes Gasthaus auf dem Kupferring.«
Woulf schaute ihn durchdringend an, bevor er erneut in seinem Geldbeutel wühlte und einen Goldpfennig hervorholte. Rami entging nicht, dass er gleichzeitig geschickt das Silber wieder in dem Beutelchen verschwinden ließ.
Die Münze funkelte mit Woulfs Augen um die Wette. »Bitte!«, wiederholte er.
Ein ganzes Pfund Zucker könntest du davon kaufen. Schwefel, so viel du willst. Und vermutlich sogar das gute Felsensalz, das sich sonst nur die adeligen Magier in die Taschen stopfen.
»Wie ist das mit Eurer Hand passiert?«, erkundigte er sich.
»Das weiß ich nicht.« Mit einem Mal sah Woulf verschlossen aus. »Vielleicht hat mich ein giftiges Insekt gestochen. Oder einer meiner Kunden hat mich mit einer Krankheit angesteckt. Wieso ist das wichtig?«
»Weil Heilung nur erreicht wird, wenn man weiß, welches Übel man behandelt.«
»Das ist der Grund, weshalb ich nach Unheilung suche. Magie stellt keine Fragen und braucht keine Untersuchung.«
Ganz eindeutig trug dieser seltsame Gastwirt ein Geheimnis mit sich herum. Rami brannte darauf zu erfahren, worum es sich dabei handelte. Vermutlich würde er etwas darüber herausfinden, wenn er sich auf das unmoralische Angebot einließ.
»Nun gut, ich helfe Euch«, beschloss er und streckte die Hand nach der Münze aus.
Woulf zog sie hastig zurück, doch Erleichterung stand in seinem Blick. »Erst die Bedienung, dann die Zeche. Alte Gastwirtweisheit.«
»In Ordnung.«
»Soll ich mich setzen? Oder hinlegen?« Er blickte sich suchend in Ramis karg eingerichtetem Zimmer um.
»Weder noch. Ich werde eine Unheilung doch nicht in meinen eigenen vier Wänden vornehmen. Wir suchen uns einen menschen- und aschlingsleeren Platz fern meiner Wohnung. Sobald die Heilung erfolgt, wird die Kuppel des Schutzschildes in unserer Nähe flackern. Dann werden die Hörner der Schildwache erschallen, und wir müssen fliehen. Ich sage es Euch gleich: Jeder nimmt seine eigenen Beine in die Hand. Ihr rennt nach links und ich nach rechts. Wagt nicht, mir zu folgen.«
»Du meinst, die Wachen werden uns bemerken und jagen?« Woulf schluckte sichtbar. Offenbar war er weder im Davonlaufen noch im Angsthaben geübt.
»Wenn Ihr nach einer legalen Unheilung sucht, müsst Ihr in den Palastring hinaufsteigen und Euch einen Adeligen zum Freund machen.«
Damit war alles gesagt. Weder ein Gastwirt aus dem Kupferring noch ein Aschling aus dem Staubring würde jemals eine erlaubte Unheilung erfahren, bei der zahlreiche Wachen und Magier entlang des Schildes positioniert werden mussten, um die Stadt zu beschützen. Auch außerhalb von Grubenstedt gab es keine Hilfe, denn die Zaubersteine der Unheiler nährten sich direkt von der Magie des Schildkristalls.
Rami griff nach einem Umhang und steckte einen Kanten altes Brot ein, ohne seinem Kunden zu erklären, warum. Dann verließen die beiden ungleichen Geschäftspartner das Haus. Ihre Kapuzen in die Stirn gezogen, die Blicke zu Boden gerichtet, huschten sie durch die engen Gassen des Kehrrichtviertels bis zu einem Hinterhof, der scheinbar keinerlei Ausweg bot.
»Wie sollen wir hier fliehen?«, wisperte Woulf.
»Mein Weg führt durch den Kohlenkeller im Gebäude nebenan, Eurer durch den Schweinestall zu Eurer Linken. Beide haben Hinterausgänge, die uns über gewundene Pfade zurück nach Hause führen – wenn sich uns dabei keine Schildwache in den Weg stellt.«
Der Gastwirt blies Luft aus, erwiderte aber nichts. Stattdessen reckte er Rami seine zitternde Hand entgegen.
Der nahm sie und strich über die betroffene Haut. Es waren weder Druckstellen noch verfaulte Abschnitte zu ertasten. Auch roch die Hand nicht nach Krankheit, sondern allenfalls nach Bier. Er ließ sie los, griff zögernd in den Ausschnitt seiner Kutte und zog die Kette mit dem bernsteinfarbenen Facett hervor. Die Rune, die er in Trance hineingeritzt hatte, besaß die Form eines Schneckenhauses, aus dem der aufgerichtete Kopf einer Schlange herausragte. Wie immer strahlte der Zauberstein Kraft und Erregung aus. Bei seinem bloßen Anblick beschleunigte sich Ramis Herzschlag.
Er streckte die Hand aus, und Woulf wollte seine hineinlegen. »Erst das Gold. Ich will verhindern, dass Ihr nachher die Zeche prellt.«
Der Wirt brummte etwas Unverständliches, rückte aber die Münze heraus. Rami ließ sie in seinem Beutel verschwinden. Dann umschloss er Woulfs eiskalte Finger mit den seinen.
»Es wird jetzt ganz schnell gehen. Macht Euch bereit zu fliehen.«
Er schloss die Augen.
Angenehme Wärme durchflutete ihn. In pulsierenden Wellen drang die Magie aus dem Facett in seinen Körper, füllte ihn aus und brach dann als heilende Kraft aus seinen Händen, um gerade zu biegen, was aus der Form geraten war, zu flicken, was zerrissen war. Doch im selben Moment, als sie Woulfs Haut erreichte, zog die Wärme des Facettsteins sich wieder zurück. Rami verstand nicht, was hier geschah. Normalerweise gab es keinerlei Barrieren zwischen ihm und der zu heilenden Person. Jeder Sieche – egal ob Mensch oder Aschling – wurde ganz selbstverständlich von der Heilkraft durchdrungen. Wunden schlossen sich, Blut bildete sich neu, Krankheiten verschwanden. Und im selben Moment sah Rami stets den Auslöser für das jeweilige Leiden vor seinem inneren Auge, wie in einem Traum. Doch dieses Mal blieb alles still und dunkel. Keine Aufnahme seiner Magie, keine Antwort auf seine Frage.
Dafür erscholl, wie erwartet, dreimal hintereinander das Horn der Schildwache wie ein Aufschrei der zornig über ihnen flackernden Schutzkuppel. Hastig zog der Unheiler seine Hand zurück und steckte das Facett weg.
»Hat es … hat es funktioniert?«, fragte Woulf gehetzt.
»Ich bin nicht sicher. Doch um nachzusinnen, bleibt keine Zeit. Sollte Euer Zustand sich in den nächsten Tagen nicht verbessern, sucht mich noch einmal auf.« Mehr als das konnte er für Woulf nicht tun.
Ein weiteres Horn wurde geblasen, diesmal näher.
»Der Zünder sei mit Euch!« Damit ließ er den kreidebleichen Gastwirt stehen und rannte davon.
Die Tür des Kohlenkellers war wie immer angelehnt. Mit einem Satz war Rami dahinter verschwunden. Er sprang über einen erbärmlich kleinen Haufen Kohle hinweg, vorbei an Aschemühlen und hölzernen Schaufeln und am Hintereingang wieder ins Freie. Von dort aus gelangte er in einen weiteren Innenhof, der von einem Kettenhund bewacht wurde. Das Tier kannte ihn bereits, denn er fütterte es bei jedem seiner Streifzüge durch die Gassen. Kaum ein Unheiler, der nicht alle Hunde seines Rings zu seinen besten Freunden gemacht hatte! Im Vorbeirennen warf er dem Spitz seinen Brotkanten zu, den dieser gierig und schwanzwedelnd verschlang.
Er sprang über einen Zaun und durchquerte einen heruntergekommenen Steingarten, da ertönten Stimmen in seinem Rücken. Hastig versteckte er sich hinter einem rußverschmierten Opferstein.
»Irgendwo hier muss das verdammte Pack doch sein!«, hörte er jemanden – eindeutig menschlich – sagen.
Der Spitz bellte die unbekannten Eindringlinge an, ganz wie Rami gehofft hatte.
»Hier hinten sicher nicht. Der Hund war bisher ruhig, scheint aber grundsätzlich wachsam zu sein.«
»Wie immer klug kombiniert, Hauptmann von Ständel!«
»Hm …«
Los, sag es: Suchen wir auf der anderen Seite!
Diesen Gefallen tat die Schildwache ihm zwar nicht, doch die Schritte durchwanderten nur noch einmal den Hinterhof und entfernten sich dann. Rami atmete auf. Dennoch war seine Flucht längst nicht vorbei. Jeder Aschling, der in dieser Nacht auf offener Straße aufgegriffen wurde, war verdächtig. Die Schildwache würde ihn kontrollieren und durchsuchen. Ganz gleich, ob er sein Facett dann am Körper oder in seinem Beutel trug – es wäre um ihn geschehen. Dennoch widerstand er dem Drang, es abzulegen und im Steingarten zu vergraben, denn dafür war es zu wertvoll. Irgendein Anwohner oder herumstreifender Bettler könnte es zufällig finden.
Der Klang der Tempelglocke zog Ramis Aufmerksamkeit auf sich. Sie rief die Gläubigen zum abendlichen Aschegang, was ihm sehr gelegen kam.
Seit dem Vorfall mit dem Felsensalz hatte er den Tempel nicht mehr betreten, doch heute würde er nirgendwo sicherer sein als dort, zumal das Gotteshaus ganz in der Nähe lag.
In gebückter Haltung schlich er aus dem Steingarten, kroch durch ein Loch in einer Mauer, das für seine Verfolger viel zu klein war, und hielt sich fortan im Schatten der baufälligen Fachwerkhäuser. So erreichte er bald den Hauptweg des Staubrings, der direkt auf den Tempel zuführte. Zahlreiche Gläubige waren hier unterwegs zum Opfergang. Die meisten trugen Reisig, Zunderpilze oder Äste mit sich, die sie dem Zünder weihen wollten. Unauffällig mischte Rami sich unter sie.
Entlang des Mauerwerks, das die Straße vom tiefer liegenden Schlammring abschirmte, patrouillierten Schildwachen. Einige besonders abenteuerlustige Aschlinge hatten hier und dort kleine Gucklöcher in die Mauer geschlagen, weil sie zu klein waren, um über die Brüstung zu blicken. Rami wusste, dass es dahinter senkrecht bergab zum tiefsten, verrufensten Ring ging. Sah man jedoch nach oben, bekam man eine Ahnung davon, wie die Händler, Magier und Adeligen in den oberen Rängen lebten. Herrschaftliche Gebäude aus hellem Stein reckten dort ihre Giebel und Türmchen gen Himmel. Selbst jetzt in der Nacht konnte man sie sehen, weil jede Straße und jedes Haus erleuchtet waren.
»Habe ich vorhin einen Alarm gehört?«, fragte ein Aschling in Ramis Nähe.
»Ja. Drei Hornstöße – Unheilung«, antwortete ein anderer verdrossen. »Selbst unter uns gibt es Leute, denen es an jeglicher Bescheidenheit fehlt.«
»Beschämend«, urteilte der erste.
Rami zog sich die Kapuze tiefer ins Gesicht. Ein Stück vor ihm hielt eine der Schildwachen einen anderen Aschling auf und durchsuchte dessen Beutel. Mit klopfendem Herzen schlüpfte Rami vorbei. Der Tempel kam in Sicht.
Kurz vor den Stufen, die zu dem ehrwürdigen Gotteshaus hinaufführten, legte sich von hinten eine Hand auf Ramis Schulter. Er zuckte zusammen.
»Na, du Zündfunke? Hab ich dich bei einem schlechten Gedanken erwischt?«, ertönte eine wohlbekannte Stimme.
Erleichtert drehte Rami sich zu Teflin Sandwurf um, einem Freund aus Kindertagen, der ebenfalls zum Kreis der verschmähten Junggesellen gehörte. Teflin hatte zwar einen anständigen Broterwerb als Diener im Bronzering, doch sein Nebenerwerb – das gelegentliche Graben nach Artefakten in den Minen – hielt heiratsfähige Weiber davon ab, ihn als Gemahl in Erwägung zu ziehen. Er war ein Ausgestoßener genau wie Rami.
»Hier, damit du was zum Opfern hast«, raunte er und drückte Rami einen dünnen Birkenzweig in die Hand. »Ist ganz schön auffällig, wenn man in den Tempel geht und keine Gabe für den Zünder dabeihat.« Er zwinkerte ihm zu.
»Danke«, murmelte Rami.
Er hatte Teflin nie von seiner Tätigkeit als Unheiler erzählt, aber vermutlich reimte sein Freund es sich trotzdem richtig zusammen. Ein Alarm, ein in Ungnade gefallener Aschling ohne Opfergabe auf dem Weg zum Tempel – man musste kein Gelehrter sein, um die passenden Schlüsse zu ziehen. Andersherum hatte Rami auch Teflin schon lange im Verdacht, dass er dort unten in den Minen ein Facett gefunden haben könnte. Das allein reichte zwar noch nicht aus, um ein großer Magier zu werden – man benötigte auch die entsprechende Begabung und im besten Fall einen Lehrmeister –, doch ein paar ganz einfache Zauber brachte mit einem Facett auch ein untalentierter Schüler zuwege. In Teflin jedoch wohnte, ebenso wie in Rami, der Drang, Wissen zu suchen und zu finden. Und ein solches Sehnen war der Nährboden für jede Form von Magie.
Zusammen mit allen anderen betraten sie den Tempel, an dessen Eingang ein mürrischer Diener jedem Neuankömmling große Mengen Asche aufs Haupt streute. Ehrerbietig nahmen sie die heilige Salbung entgegen und verstrichen sie in Richtung Stirn.
»Ehrwürdiger Zünder, dir allein obliegt die Macht über das Feuer!«, ertönte die sonore Stimme des Priesters Dulgam vom Altarraum her.
»Wir sind Asche, wir sind Staub, wir sind schuld«, erwiderte die raunende Menge. Schlurfend und murmelnd bewegte sie sich nach vorn zur Statue, unter deren Füßen ein Feuer loderte, als stünde der Zünder selbst auf einem Scheiterhaufen. Rami hatte dieses Ritual nie verstanden.
»Du allein bist Glut und Funke«, tönte der Priester.
»Nun ja«, murmelte Teflin. »Einen Funken haben wir hier auch unter uns.«
»Sei still!«, ermahnte Rami ihn.
»Wir sind Asche, wir sind Staub, wir sind schuld«, sprach die Menge in leierndem Singsang.
Sie näherten sich der Statue vor dem Altar. Ein Gläubiger nach dem anderen gab sein Opfer in das Feuer.
»Wenn der Tag gekommen ist, an dem Du Deine Insi gnien gegen uns erhebst, lass uns ein in Dein ewiges Reich!«, brabbelte der Priester.
Rami wandte den Blick zu der Statue. Sie war so alt, dass sie den Zünder noch als jungen Mann darstellte. Neuere Bildnisse zeigten ihn mit Bart und schütterem Haupthaar. Die Legende besagte, dass er einst, an seinem Lebensende, seine Insignien – Schlageisen und Feuerstein – am Firmament zerschmettern und damit den Untergang der Welt auslösen würde.
»Wir sind Asche, wir sind Staub, wir sind schuld!«
Rami fühlte den Blick des Priesters auf sich lasten, während er seinen Zweig ins Feuer legte. Aus den Augenwinkeln sah er, dass die Beine des Zünders neues Felsensalz hervorgebracht hatten. Eine der Flammen züngelte soeben nach oben und verschlang eine Handvoll Kristalle, woraufhin das Feuer sich erhob.
» Du allein bist der Meister aller Brände!«, rief Dulgam, und obgleich Rami genau wusste, dass er dies zu seiner Gottheit sagte, gefiel ihm der Gedanke, dass er damit ihn – Rami Verglimm, den Zündfunken – meinte.
Schelmisch zwinkerte er dem Priester zu, griff über das Feuerbecken hinweg und kratzte eine Handvoll Felsensalz ab, bevor auch sie dem religiösen Ritual zum Opfer fallen konnte.
Dulgam bedachte ihn mit einem mörderischen Blick. Unter seinem roten Priestergewand sah man ihn heftig atmen. Er schien kurz davor zu sein, das Schicksal des Kupfertopfes zu teilen, so sehr brachte Ramis lästerliche Geste ihn zur Weißglut. »Eines Tages wirst du dich selbst entzünden. Raus mit dir, du Feuerwanze!«, zischte er.
Unter den empörten Blicken der anderen Aschlinge vollführte Rami eine nachlässige Verbeugung Richtung Altar, dann verließ er den Tempel und machte sich auf den Weg nach Hause. Die Aufregung auf den Straßen hatte sich mittlerweile gelegt. Offensichtlich hatten die Schildwachen ihre Suche nach dem Unheiler aufgegeben. Alles in allem hatte er an diesem Tag jede Menge Glück gehabt. Und nun besaß er einen Goldpfennig, um es noch weiter herauszufordern.